Cover
Titel
Europa. Die Gegenwart unserer Geschichte, 3 Bde.
Weitere Titelangaben
Bd. 1: Lebendige Vergangenheit; Bd. 2: Vielfalt und Widersprüche; Bd. 3: Globale Verflechtungen


Herausgeber
François, Étienne; Serrier, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
1534 S. in 3 Bde.
Preis
€ 129,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wilfried Loth, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

„Europa neu denken“ (S. 9) möchten die beiden Herausgeber dieses voluminösen Sammelwerkes – beide nach eigenem Bekunden „Deutsch-Franzosen“ und „Wahlberliner“ (Bd. 1, S. 15), der eine, Jahrgang 1943, langjähriger Leiter des Centre Marc Bloch in Berlin, der andere, Jahrgang 1971, seit 2017 Professor für deutsche Geschichte und Kultur an der Universität Lille. Sie wollen wissen, was dieses Europa „eigentlich“ ist, „das seit mehr als einem Jahrtausend eine allgegenwärtige und greifbare Realität darstellt“, für viele aber als ein „flüchtiges Objekt“ erscheint (Bd. 1, S. 9). Dazu wollen sie die – vielfältigen und oft auch antagonistischen – europäischen Erinnerungen eruieren, und das in doppelter Weise: in ihrer geschichtlichen Entwicklung und in ihrer gegenwärtigen Relevanz. „Es geht um alles, was unsere Vorgänger für wert befunden haben, es aufzuzeichnen […]; es geht aber auch um das, was uns an unserem gemeinsamen und umkämpften Erbe als existenziell bedeutsam erscheint“ (Bd. 1, S. 13).

Neu bedeutet in diesem Zusammenhang dreierlei: Étienne François und Thomas Serrier gehen nicht von einer bestimmten Vorstellung von Europa und europäischer Geschichte aus, sondern sie versuchen, in einem dialogischen Prozess mit 105 Autorinnen und Autoren, von denen fünf auch noch als Herausgeber der drei Teilbände fungieren, herauszufinden, was denn nun für Europa wesentlich ist und ob bzw. wieweit man von einem europäischen Gedächtnis im Singular sprechen kann. Das Ergebnis, zu dem sie dann gelangen, bezeichnen sie ausdrücklich als vorläufig, das heißt als eine Einladung zum Dialog. Zweitens bemühen sich die Autorinnen und Autoren durchgehend, sowohl die Unterschiede in den europäischen Erinnerungskulturen zu erfassen (wobei der unterschiedliche Erfahrungshintergrund des alten Westens und des vormaligen Ostblocks eine prominente Rolle spielt) als auch Gemeinsamkeiten in den nationalen Erinnerungskulturen zu erfassen. Dieses Bemühen um eine tatsächlich gesamteuropäische Perspektive wird dadurch erleichtert, dass die Verfasser der Beiträge aus nicht weniger als 26 Ländern kommen; nicht wenige von ihnen zeichnen sich wie die beiden Hauptherausgeber durch transnationale Biographien und/oder Forschungsschwerpunkte aus. Drittens erhält die neuzeitliche Verflechtung Europas mit „Außereuropa“ mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit wie die historischen Tiefenschichten europäischer Kultur seit den griechischen Mythen. Auch der außereuropäische Blick auf Europa kommt zur Sprache; dazu tragen nicht zuletzt die 15 Autorinnen und Autoren bei, die aus anderen Erdteilen stammen oder dort tätig sind.

Mit 133 Beiträgen in drei Bänden, zusammen über 1.500 Seiten, ist dies ein gewaltiges Unternehmen. Ist es gelungen? Zunächst muss man den Herausgebern zu einer außergewöhnlichen editorischen Leistung gratulieren. Eine so große Zahl unterschiedlicher Autoren aus allen Ecken der Welt nicht nur für Beiträge zu gewinnen, sondern in einen Dialogprozess einzubinden, aus dem die Struktur des Werkes erst hervorgeht, das verdient großen Respekt. Großartig ist auch, dass sie es verstanden haben, mithilfe vieler Mitglieder der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft innerhalb kurzer Frist eine deutsche Übersetzung der französischen Originalausgabe zu organisieren.1 Das Modell des Crowdfundings, das hier eingesetzt wurde, sollte Schule machen. Es ermöglicht, dass die Ergebnisse der Reise durch die europäischen Erinnerungen zumindest in zwei Hauptsprachen des alten Kontinents gleichmäßig und gleichzeitig rezipiert werden können.

Sodann ist die Anlage des Werkes durchaus überzeugend. Um die „geteilten und gemeinsamen Erinnerungen“ Europas „in einer globalen Zeit“ (S. 10) zu erfassen, haben sich die Herausgeber für dreierlei Zugänge entschieden. Im ersten Band werden Vergangenheiten präsentiert, die die Gegenwart in starkem Maße prägen: belastende Vergangenheiten nicht nur aus dem Zeitalter der Extreme, die großen Erzählungen von der Demokratie und der Aufklärung bis zum Sozialstaat und der sexuellen Diversität, die Ursprünge von den antiken Mythen über die fundamentale Bedeutung des Rechts und des Rechtsstaats bis zur Rolle des Islam in Europa, schließlich Kämpfe, die in Erinnerung geblieben sind – von den Klassenkämpfen bis zu den Auseinandersetzungen mit vergangenen und gegenwärtigen Untergangsdiskursen. Der zweite Band bietet ein Kaleidoskop von Personen und Vorstellungen, Orten und Räumen, Strukturen und Ereignissen, die in die Erinnerungen heutiger Europäer eingraviert sind, von Leonardo über die Habsburger bis zur Berliner Mauer. Im dritten Band werden Wege erkundet, die die europäischen Erinnerungen mit der Weltgeschichte verbinden, im Sinne machtmäßiger und begrifflicher Expansion, aber auch im Sinne des Austauschs und der Ausbildung hybrider Identitäten.

Natürlich könnte man die Akzente hie und da auch etwas anders setzen. Der moderne Nationalstaat rückt an keiner Stelle in den Fokus der Betrachtung und Musik kommt nur sehr vereinzelt vor – im Zusammenhang mit dem Erbe des Protestantismus, der europäischen Dimension der Oper und als Kennzeichen von Swinging London. Aber insgesamt werden doch alle wesentlichen Aspekte erfasst, die nach dem Verständnis heutiger Europäer und Nicht-Europäer Europa ausmachen, und die exemplarischen Erinnerungsorte sind klug ausgewählt. Die Kombination von längeren Essays und Kurzbeiträgen, die einzelne Aspekte näher oder anders beleuchten, ist hilfreich. Das Gleiche gilt für die emblematischen Abbildungen, mit denen jeder Beitrag beginnt. Und gar nicht zu überschätzen ist der Wert des Kartenteils, der Europa unter ungewöhnlichen, aber höchst aufschlussreichen Perspektiven zeigt: als Konglomerat von Staaten, die mehr oder weniger häufig zu Europa gerechnet werden, von „immer“ über „selten“ bis „nie“; ein Nachweis des unterschiedlichen Alters der gegenwärtigen Grenzen; eine Karte der Sprachgrenzen inklusive Überlappungen und Mischsprachen und so weiter. Der Autor dieser elf Karten wird leider nicht mitgeteilt; darum sei ausdrücklich vermerkt, dass er sich um das Werk sehr verdient gemacht hat.

Nicht alle Beiträge bieten erschöpfende Analysen ihres Gegenstandes. Manches reizt auch zum Widerspruch – so die Behauptung von François Hartog, der moderne Geschichtsbegriff habe „endgültig“ sein Vermögen verloren, „Sinn zu erzeugen“ (Bd. 1, S. 283), oder die These vom „Zerbersten“ Europas im Jahr 2015 (ebd., S. 511), mit der Bo Stråth seinen Beitrag über den europäischen Einigungsprozess abschließt.2 Umso erfreulicher sind Glanzstücke wie Arne Karstens Kurzporträt Venedigs als „Stadt der Träume und des Todes“ (Bd. 2, S. 373) oder Alessandro Barberos beschwingter Streifzug durch die Kreuzzüge in Vergangenheit und Gegenwart und die gegensätzlichen Empfindungen, die sie auslösen. Beeindruckend sind auch Étienne François‘ differenzierte Analyse der vielfältigen Wirkungen des Christentums und Jürgen Kockas souveräne Ordnung der Wandlungen des Kapitalismus und der unterschiedlichen historischen Bezüge, die mit ihm auf den Begriff gebracht werden; die Liste ließe sich fortsetzen.

Die eingangs gestellte Leitfrage nach dem „europäischen Gedächtnis im Singular“ (Bd. 1, S. 15) und damit nach der Existenz genuin europäischer Erinnerungs- und Gedächtnisorte wird leider nicht explizit beantwortet. In der Schlussbetrachtung betonen die beiden Herausgeber zunächst, dass „auch wir Europäer“ als Kollektiv „Gedächtnis sind“ (Bd. 3, S. 468), sprechen dann aber von „europäischen Erinnerungskulturen“ im Plural. Bei diesen unterscheiden sie zunächst nur Erinnerungskulturen „älteren oder jüngeren Ursprungs“ (ebd., S. 469), bevor sie dann betonen, dass sie „überwiegend national geprägt“, aber „so gut wie alle strukturell miteinander verflochten sind“ (ebd., S. 474). Für eine „erste phänomenologische und strukturale Analyse der europäischen Erinnerungen in ihrer Gesamtheit“, wie sie die Herausgeber als Ergebnis ihrer Arbeit erhoffen (Bd. 1, S. 17), ist das nicht eindeutig genug.

Eine solche Analyse muss ein derartiges Werk aber auch nicht bieten. Es genügt, dass es die Elemente der europäischen Erinnerungslandschaft in hinreichender Breite und perspektivischer Vielfalt präsentiert. Das tut es in hohem Maße. Es trägt damit dazu bei, dass das europäische „Wir“, zu dem sich die Herausgeber in sympathischer Offenheit bekennen, an reflektierter Stärke gewinnt.

Anmerkungen:
1 Étienne François / Thomas Serrier (Hrsg.), Europa. Notre Histoire, Paris 2017.
2 Dass in diesem Beitrag der Europäische Rat mit dem Europarat verwechselt wird (S. 503), ist wohl auf den Übersetzer zurückzuführen. Es ist eine Verwechslung, die häufig vorkommt und damit als symptomatisch für den Zustand des europäischen Bewusstseins gelten kann.