B. Karch: Nation and Loyalty in a German-Polish Borderland

Cover
Title
Nation and Loyalty in a German-Polish Borderland. Upper Silesia, 1848–1960


Author(s)
Karch, Brendan
Series
Publications of the German Historical Institute
Published
Extent
XV, 331 S.
Price
£ 75.00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Roland Gehrke, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Dass die historische Nationalismusforschung den ethnisch stark fragmentierten Regionen Ostmittel- und Südosteuropas stets besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat, ist so naheliegend wie bekannt – man denke etwa an Miroslav Hrochs Phasenmodell zum Nationsbildungsprozess bei „kleinen Völkern“, das der Prager Historiker am Beispiel der Tschechen, der Slowaken und der baltischen Völker entwickelte. Seit den 1980er-Jahren indes steht die theoretische Auseinandersetzung mit dem Nationalismus im Zeichen einer konstruktivistischen Wende, die sich primär mit dem amerikanischen Politologen Benedict Anderson verbindet: Anderson charakterisierte die Nation als „Erfindung“, als eine innerhalb bestimmter Parameter lediglich „vorgestellte Gemeinschaft“ („imagined community“) – und zugleich als ein beispielloses Erfolgsmodell. Demgegenüber hat die amerikanische Osteuropa-Historikerin Tara Zahra ihren Blick auch auf fehlgeschlagene Nationskonstruktionen gerichtet – auf „imagined Noncommunities“, wie sie 2010 in ironischer Anspielung auf Anderson formulierte – und in dieser Hinsicht die Analysekategorie der „nationalen Indifferenz“ eingeführt.

Gerade die Frage nach dem Erfolg oder Misserfolg nationaler Homogenisierungsprozesse hat Oberschlesien wiederholt in den Fokus der Forschung gerückt – ein im 20. Jahrhundert zwischen Deutschland und Polen heftig umstrittenes und zugleich von einer nur schwer durchschaubaren ethnisch-sprachlich-religiösen Gemengelage gekennzeichnetes Grenzland. Aus der reichen neueren Literatur seien exemplarisch Untersuchungen genannt, die die Volatilität nationaler Selbstzuschreibungen in Oberschlesien unter den Begriff des „Identitätswandels“ fassten1, den dort dominierenden Katholizismus als Ansatzpunkt einer die sprachlich-nationalen Grenzen überschreitenden konfessionellen Solidarität hervorhoben2 oder die oberschlesischen Verhältnisse direkt mit anderen europäischen Grenzregionen verglichen.3

Die aktuelle Studie von Brendan Karch zu „Nation und Loyalität“ in Oberschlesien, soviel sei schon hier gesagt, bereichert diese Diskussion ungemein, indem sie die vorstehend genannten Kategorien zur Analyse nationaler Integrations- und Desintegrationsprozesse in sprachlich gemischten Grenzregionen in zwei wesentlichen Punkten variiert und modifiziert. Erstens hinterfragt Karch den auch von den Vertretern des konstruktivistischen Ansatzes verwendeten Begriff der „Identität“, der eine viel zu stabile und gleichsam transzendente Bindung des Einzelnen an die nationale Gemeinschaft suggeriere, und ersetzt ihn durch den wesentlich elastischeren Begriff der „Loyalität“. Potentiell multiple Loyalitäten – sie könnten zugleich dem Staat, der Kirche, der sozialen Klasse oder der Familie gelten – seien nichts Naturgegebenes, sie seien zu verdienen und zu pflegen und könnten entsprechend auch wieder entzogen werden. Statt von „nationaler Indifferenz“ sei, zweitens, also besser von einem „instrumentellen“ Verständnis nationaler Zugehörigkeit zu sprechen. Nationale Loyalität impliziere ein quid pro quo, sie sei also gleichsam eine persönliche Investition des Einzelnen, um Prestige, Sicherheit oder materiellen Wohlstand zu erlangen (S. 14f., 17–19).

Karch lässt seine Studie mit dem „Völkerfrühling“ des Jahres 1848 einsetzen, betrachtet die gut vier Jahrzehnte bis 1890 (unter der Kapitelüberschrift „Catholicism and the Making of Upper Silesians“) letztlich allerdings nur als Vorgeschichte, geprägt von konfessioneller Lagerbildung vor allem im Kontext des Bismarck’schen Kulturkampfes, noch nicht aber von einem deutsch-polnischen nationalen Gegensatz. Von Karch freilich nur angedeutet wird der Umstand, dass Oberschlesien schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts Gegenstand eines Diskurses war, der die vermeintlich „verdorbene“ polnische Sprache ebenso wie fortlebende feudale Strukturen und ein vermeintlich von Aberglauben, mangelnder Hygiene und grassierendem Alkoholismus geprägtes Alltagsleben als Ausdruck soziokultureller Rückständigkeit beschrieb: Als Gegenbild zu den Idealen der Aufklärung war in der deutschen Öffentlichkeit „der Oberschlesier“ als kulturelle Ausnahmeerscheinung also längst konstruiert, bevor die Sprachenfrage sich seit Ende des 19. Jahrhunderts nationalistisch aufzuladen begann. Den Schlusspunkt der Darstellung bildet dann nicht etwa, wie es vielleicht nahegelegen hätte, das Umbruchsjahr 1989/90, sondern das Ende der ersten großen Ausreisewelle von Oberschlesiern nach Westdeutschland 1960 – im Sinne von Karchs Argumentation der Ausweis des Scheiterns der seit 1945 in Oberschlesien betriebenen Polonisierungspolitik und damit auch des zweiten „nationalen Projekts“, mit dem die Oberschlesier seit Ende des 19. Jahrhunderts konfrontiert waren.

Der Titel der Studie freilich ist missverständlich, da Karch keineswegs eine Darstellung für ganz Oberschlesien beabsichtigt, sondern seine Thesen allein am Beispiel des Oppelner Landes zu exemplifizieren sucht – also der von einer preußischen bürokratischen Elite dominierten Bezirkshauptstadt Oppeln sowie des sie umgebenden gleichnamigen Landkreises, für den die Volkszählung des Jahres 1910 eine fast 80-prozentige Mehrheit von Sprechern des „schlonsakischen“ Dialekts ausgewiesen hatte. Das bedeutet insofern eine erhebliche Verschiebung der Perspektive, als gerade in der polnischen Forschungsliteratur die neuere Geschichte Oberschlesiens meist von der ostoberschlesischen Industriemetropole Kattowitz aus erzählt worden ist, die 1903 mit Wojciech Korfanty erstmals einen nationalpolnisch gesinnten Abgeordneten aus Oberschlesien in den Deutschen Reichstag entsandte und nach der Landesteilung von 1922 zur Hauptstadt der polnischen Wojewodschaft Schlesien wurde.

Dieser räumliche Perspektivenwechsel prägt bereits das zweite, der Entwicklung zwischen 1890 und 1914 gewidmete Hauptkapitel: In Karchs Analyse des Phänomens eines oberschlesischen „Newspaper Nationalism“ stehen nicht Korfanty und sein Kattowitzer Leitorgan „Górnoślązak“ („Der Oberschlesier“) im Mittelpunkt, sondern der auch im polnischen historischen Gedächtnis eher zweitrangige nationale Aktivist Bronisław Koraszewski mit seiner „Gazeta Opolska“ („Oppelner Zeitung“). Kapitel drei beleuchtet die Zeit des Ersten Weltkriegs sowie die für Oberschlesien ungleich traumatischere Nachkriegsphase: die alliierte Besatzung, den Abstimmungskampf und das Plebiszit (mit einem Gesamtergebnis von knapp 60 Prozent für Deutschland) sowie den anschließenden polnischen Aufstand. Dass Muttersprache und nationale Loyalität in Oberschlesien jedenfalls keineswegs kongruent waren, zeigt das Abstimmungsergebnis gerade im Landkreis Oppeln, wo im März 1921 nicht weniger als 70 Prozent für Deutschland votierten. Was den Zeitraum zwischen 1922 und 1933 (Kapitel vier) angeht, bleibt Karch seinem Oppelner Fokus treu, betrachtet also ausschließlich den nach der Landesteilung deutsch gebliebenen Westteil Oberschlesiens. Gerade hier wirkt diese Selbstbeschränkung allerdings recht fragwürdig: Der Umstand, dass es ab 1922 zu einer Gleichzeitigkeit von Germanisierungspolitik (in der deutschen Provinz Oberschlesien) und Polonisierungspolitik (in der Wojewodschaft Schlesien) kam, ließe gerade im Lichte des methodischen Ansatzes von Karch eine Vielzahl interessanter Beobachtungen erwarten, die so leider verschenkt werden.

Kapitel fünf unternimmt einen Exkurs zur Situation der Juden im Oppelner Schlesien, die auf Grundlage der 1922 abgeschlossenen (und noch bis Sommer 1937 geltenden) Genfer Konvention vor nationalsozialistischer Verfolgung zunächst geschützt waren. Der NS-Staat ließ es freilich zu, dass polnischsprachige Oberschlesier sich für eine Existenz als vordergründig loyale deutsche Staatsbürger entscheiden konnten – eine „instrumentelle“ Form von Loyalität, die den Juden im Raster nationalsozialistischer Rassenideologie verwehrt blieb. Kapitel sechs und sieben, die die NS-Zeit und die anschließende Übernahme Oberschlesiens durch den polnischen Staat ab 1945 thematisieren, laden trotz der völligen Umkehr der nationalen Konstellation zu gemeinsamer Betrachtung ein. Die Phase zwischen 1933 und 1960 markiert den doppelten Höhepunkt des Versuchs, in Oberschlesien nationale Homogenität zu erzwingen – und zugleich dessen doppeltes Scheitern. Im Rahmen des „Verifizierungs“-Programms der polnischen Behörden nach 1945 ging die Bekundung nationaler Loyalität gegenüber Polen bei vielen „autochthonen“ Oberschlesiern gerade so weit, wie es nötig war, um im Land bleiben zu können – und sorgte so dafür, dass in Oberschlesien ein vollständiger Bevölkerungsaustausch unterblieb. Andererseits war auch die spätere Aussiedlung in die Bundesrepublik nicht zwingend Ausweis einer verinnerlichten deutschen „Identität“ – sondern, ganz im Sinne eines instrumentellen Loyalitätsverständnisses, die Entscheidung für eine freiere und materiell auskömmlichere Existenz im Westen.

Im Ergebnis hat Brendan Karch eine methodisch und analytisch höchst instruktive Studie vorgelegt, die auf einer breiten Grundlage sowohl archivalischen Materials als auch gedruckter Quellen (vor allem Presse) ruht und durch ein gemeinsames Personen-, Orts- und Sachregister gut erschlossen ist. Die Selbstbeschränkung auf das Oppelner Land lässt freilich noch genug Raum, die von Karch eingeführten Analysekategorien komparativ auch auf das von ihm leider ausgeblendete ostoberschlesische Industrierevier anzuwenden.

Anmerkungen:
1 Kai Struve / Philipp Ther (Hrsg.), Die Grenzen der Nationen. Identitätenwandel in Oberschlesien in der Neuzeit, Marburg 2002.
2 James Bjork, Neither German nor Pole. Catholicism and National Indifference in a Central European Borderland, Ann Arbor 2009.
3 Ryszard Kaczmarek / Maciej Kucharski / Adrian Cybula, Alzacja/Lotaryngia a Górny Śląsk. Dwa regiony pogranicza 1648–2001, Katowice 2001.

Editors Information
Published on
Contributor
Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Language of review