Th. Stamm-Kuhlmann (Hrsg.): Auf dem Weg in den Verfassungsstaat

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Titel
Auf dem Weg in den Verfassungsstaat. Preußen und Österreich im Vergleich, 1740–1947


Herausgeber
Stamm-Kuhlmann, Thomas
Reihe
Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 48
Erschienen
Anzahl Seiten
255 S.
Preis
€ 89,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jana Osterkamp, Collegium Carolinum

Die deutsche Geschichtsschreibung widmet der Habsburgermonarchie vermehrt Aufmerksamkeit. Die binnen kurzer Zeit zu Klassikern gewordenen Biografien zu Maria Theresia von Barbara Stollberg-Rilinger und Clemens von Metternich von Wolfram Siemann haben dies eindrücklich gezeigt.1 Nachdem die gemeinsame Geschichte über lange Zeit in den Nationalhistoriografien Deutschlands und Österreichs vorwiegend als eine getrennte Geschichte erforscht wurde, nimmt das Interesse am geteilten Erbe, an Verflechtungen und am Vergleich wieder zu. Die Machtrivalität zwischen Hohenzollern und Habsburgern, zwischen Preußen und Österreich spielt dabei noch eine, aber nicht mehr die allein dominierende Rolle.

Diesem neueren Trend in der Forschung folgt auch der Sammelband „Auf dem Weg zum Verfassungsstaat. Preußen und Österreich im Vergleich 1740-1947“, der von Thomas Stamm-Kuhlmann herausgegeben wurde und auf eine Jahrestagung der „Arbeitsgemeinschaft für preußische Geschichte“ zurückgeht. Zentrale Politik- und Problemfelder des 19. Jahrhunderts rücken hier ins Blickfeld: einerseits Themen wie Urbanisierung, öffentliche Finanzen und Staatsbetriebe, Kultur-, Religions- und Wissenschaftspolitik und andererseits herausragende Akteure, u. a. führende liberale, militärische und sozialdemokratische Zeitgenossen.

Die Modernisierungsversuche in Österreich und Preußen, den vormodernen „fiscal-military-state“ nach den napoleonischen Kriegen handlungs- und zukunftsfähig zu machen, sind der unausgesprochene Schwerpunkt des Bands – mit vier der insgesamt zwölf Beiträge. Vergleichend wird darin der Frage nachgegangen, wie und wer in Preußen und Österreich diese Probleme meisterte, prägte und dabei gegenseitig voneinander profitierte. Es lohnt sich, diese Artikel aus der Feder von Marion Koschier, Olivier Werner und Kurt Düwell sowie Michael C. Schneider bei der Lektüre aufeinander zu beziehen.

Die Klagenfurter Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Koschier weist in ihrem lesenswerten Beitrag zu den Staatsfinanzkrisen auf die ähnlichen Ausgangsbedingungen der beiden Staaten um 1815 hin. Preußen und Österreich hatten sich in den napoleonischen Kriegen hoch verschuldet und zählten im Unterschied zu anderen europäischen Staaten über Jahre zum „Kernland der Kampfeshandlungen“ (S. 44). Preußen wendete einen Staatsbankrott durch eine stärker zentralisierte, verlässlichere Budgetplanung ab, systematisierte die Steuereintreibung und konnte, um den Staatskredit zu bedienen, ohne Rücksicht auf die Stände auf Anleihen der Königlichen Seehandlung zurückgreifen. In Österreich beschränkte sich die Finanzsanierung zunächst auf die Schaffung einer vom Staat unabhängigen Notenbank, während die einzelne Provinzen ungleich belastet wurden und eine reichsweite Steuerreform für mehr fiskalische Gerechtigkeit am Widerstand des Kaisers, der Länder und des grundbesitzenden Adels scheiterte.

Die nach-napoleonische Modernisierung umfasste in Preußen zudem die transnationale Vision einer Handelspolitik, die in der Gründung des Deutschen Zollvereins 1834 gipfelte. Der Hannoveraner Politikhistoriker Werner thematisiert in seinem Beitrag die politische Kultur des Misstrauens im Vormärz und das „noch immer tief verankerte konspirative Verständnis von Diplomatie“, das eine handelspolitische Kooperation von Preußen und Österreich im Rahmen des Deutschen Bunds verhinderte (S. 75). Eine auf Konkurrenz, nicht auf Kooperation setzende Diplomatie zwischen den deutschen Staaten spielte Wirtschaftsbündnisse gegeneinander aus anstatt diese zu integrieren. Neben den „großen“ Fragen einer Hegemonie Preußens oder Österreichs in Deutschland ging es für die Klein- und Mittelstaaten um essenzielle Detailfragen des Straßenbaus, um Wirtschaftsräume infrastrukturell zu verbinden. Der Beitrag von Michael C. Schneider verweist zusätzlich auf die Rolle des Zollvereins beim Aufschwung der Statistik als Methode der Vermessung der Bevölkerung und der staatlichen Wohlfahrt.

Der Düsseldorfer Neuzeithistoriker Düwell tritt in seinem umfang- und inhaltsreichen Beitrag zu Preußischer Seehandlung und Österreichischem Lloyd der verbreiteten Einschätzung entgegen, Österreich habe diesen handelspolitischen Visionen Preußens nichts Substanzielles entgegenzusetzen gehabt. Beide Gesellschaften – die Preußische Seehandlung und die Österreichische Lloyd – stellt Düwell überzeugend als notwendige Grundlage für die Großmachtstellung der beiden Staaten dar. Am Beispiel des Triestiner Freihafens demonstriert Düwell dabei die enge Verzahnung von Hafen- und Eisenbahnbau in Österreich, die nach dem Bau des Suezkanals eine neue globale Verkehrsachse zwischen Großbritannien, Amerika, Afrika, Indien und Europa mit Triest als Knotenpunkt entstehen ließ (S. 215). Während Preußen handelspolitisch auf eine stärkere Erschließung der Landwege mittels des Chausseebaus setzte, hatte das mitteleuropäische Verkehrs-, Handels- und Zollkonzept des Wiener Neoabsolutismus eine zukunftsweisende maritime Seite mit Eisenbahnanschluss.

Wie lohnend ein verflechtungshistorischer Blick auf Preußen und Österreich auch für eine politikhistorisch informierte Religions- und Kulturgeschichte sein kann, zeigen die Beiträge von Lothar Höbelt zu den Minderheitsreligionen in beiden Staaten, den „Protestanten in Österreich – Katholiken in Preußen“ sowie die Studie von Ingo Löppenberg zum wissenschaftlichen Wettbewerb um Prestige am Beispiel der großen Forschungsexpeditionen. Der Wiener Historiker Höbelt liefert eine konzise Synthese zur Religionspolitik – der Toleranzpolitik Preußens nach englischem Vorbild hier und einer auf katholische Uniformität setzenden habsburgischen Strategie dort. Er verortet die Religionspolitik im Spannungsfeld von innen- und außenpolitischen Herausforderungen nach territorialen Veränderungen und zeigt Parallelen in der Kultus- und Schulpolitik, die eine multikonfessionelle Bevölkerung mit sich brachte. Löppenberg argumentiert ebenfalls in der Spannung von Innen- und Außenpolitik. Forschungsreisen charakterisiert er als imperiale Strategie für innenpolitischen und weltweiten Prestigegewinn. Wertvolle Exponate in den imperialen Museen der Hauptstädte wurden zu Besuchermagneten. Territoriale Neuentdeckungen wie das „König Wilhelm Land“ oder die „Kaiser Franz Joseph Inseln“ schrieben den Namen des eigenen Lands in die Weltkarten ein, auch wenn sich diese mit der Zeit aus dem historischen Gedächtnis verflüchtigten (S. 168).

Die komplexe Verflechtungsgeschichte Preußens und Österreichs wird durch weitere eingestreute biografische Beiträge belebt. Diese widmen sich den militärischen Akteuren von Königgrätz Benedek und Moltke (von Jürgen Angelow), den sozialdemokratischen Politikern Karl Renner und Otto Braun (von Christoph Stamm) und beleuchten das Verhältnis des literarischen „Jungen Österreich“ zur Haßliebe Preußen (von Giulia La Mattina). Vereinzelt tauchen hier Stereotype einer borussisch dominierten Rivalität auf, von denen sich der Band eigentlich verabschiedet. Wenn die preußische Modernisierung im 19. Jahrhundert als erfolgreiches Zusammenspiel von Finanz-, Militär-, Bildungs- und Verfassungsreform auf dem Weg zum deutschen Nationalstaat gefeiert wird, während die Habsburgermonarchie im dauerhaften Krisenmodus von „gestauter Nationalitätenfrage“, „verhinderter Liberalisierung“, „gebremster industriell-technischer Modernisierung“ und „verzögerter Elitentransformation“ verharrte (S. 154), so lässt sich nicht allein auf einen die angebliche Rückständigkeit der Habsburgermonarchie relativierenden Forschungsstand verweisen.2

Zentral für einen historischen Preußen-Österreich-Vergleich ist vielmehr die Frage, welches „Österreich“ und welches „Preußen“ als Untersuchungsgegenstand dient. Der Österreichbegriff wird trotz seines in der Geschichtswissenschaft umstrittenen Charakters im Sammelband nicht thematisiert und changiert vom „Kaisertum Österreich“ mit seinen österreichischen, böhmischen, ungarischen, italienischen sowie galizischen Provinzen über eine Begrenzung auf den österreichischen Reichsteil unter Ausblendung Ungarns (nach 1867) bis hin zu „Österreich“ in den Grenzen der Zwischenkriegszeit. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass die Verfassungsgeschichte Preußens und Österreichs mit Ausnahme des Beitrags von Frank Möller weitgehend ausgeblendet bleibt, obwohl der „Verfassungsstaat“ im Buchtitel anderes vermuten lässt. Wenn es der Band ausdrücklich „der weiteren Forschung“ überlässt, die Beobachtungen „auf der Ebene einer höheren Begrifflichkeit zu verdichten“ (S. 9), so hätte doch gerade die Geschichte der Verfassung und Verfasstheit entscheidende Anstöße für eine vergleichende Verflechtungsgeschichte geliefert, in der „Deutschland“ der „Boden [war], auf dem sich Preußen und Österreich auseinandersetzen mussten“ (S. 8).

Weiterführende Preußen-Österreich-Studien könnten an die in der jüngsten Forschung stark gemachte Perspektive des Föderalen anknüpfen.3 Sowohl Preußen als auch Österreich handelten politikgestaltend stets als Teil eines Mehrebenensystems. Nach der gemeinsamen Geschichte Preußens und Österreichs im Alten Reich und im Deutschen Bund ging man in der Mitte Europas getrennte föderale Wege. Preußen wurde nach 1871 sowohl föderaler Gliedstaat als auch Hegemonialmacht im deutschen Kaiserreich.4 Die politische Verfasstheit von Österreich bzw. der Habsburgermonarchie charakterisierten nach 1867 eine dreistufige Föderation mit der obersten Ebene Österreich-Ungarn, den zwei Reichsteilen Österreich und Ungarn sowie den einzelnen Kronländern.5 Für die im Sammelband stark gemachte vergleichende Verflechtungsgeschichte der Finanz-, Wirtschafts- und Handelspolitik, des Infrastrukturausbaus und des Militärs, aber auch für die Religions- und Wissenschaftspolitik macht eine dezidiert föderale Perspektive einen Unterschied. Wertvolle Ergebnisse lassen sich noch stärker präzisieren und zuspitzen, Fragen der Staatsverschuldung, der Militärausgaben oder der Religionspolitik sowohl für Preußen als auch für Österreich auf die verschiedenen Herrschaftsebenen beziehen. Die föderale Geschichte fokussiert Fragen der gestuften Staatlichkeit, geteilten Verantwortung und möglichen Kooperation und kann den vielversprechenden Vergleich zwischen Preußen und Österreich für die Zukunft befruchten.

Anmerkungen:
1 Barbara Stollberg-Rilinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie, München 2016; Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie. München 2016.
2 Marco Bellabarba, Das Habsburgerreich 1765–1918, Berlin, Boston 2020; Pieter M. Judson, The Habsburg Empire. A New History, Cambridge 2016.
3 Vgl. mit weiteren Nachweisen: Dieter Langewiesche, Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte, Stuttgart 2020; Siegfried Weichlein, Föderalismus und Demokratie in der Bundesrepublik, Stuttgart 2019; Eva Marlene Hausteiner (Hrsg.), Föderalismen. Modelle jenseits des Staates, Baden-Baden 2016; Gerold Ambrosius / Christian Henrich-Franke / Cornelius Neutsch (Hrsg.), Föderalismus in historisch vergleichender Perspektive. Bd. 2: Föderale Systeme: Kaiserreich – Donaumonarchie – Europäische Union, Baden-Baden 2015; Maiken Umbach (Hrsg.), German Federalism. Past, Present, Future, Basingstoke 2002.
4 Oliver F. R. Haardt, Bismarcks ewiger Bund. Eine neue Geschichte des Deutschen Kaiserreichs, Darmstadt 2020.
5 Dazu die Rezensentin Jana Osterkamp, Vielfalt ordnen. Das föderale Europa der Habsburgermonarchie (Vormärz bis 1918), Göttingen 2020.

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