Cover
Titel
Preußen im Jahr 1806. Jena und Auerstedt


Autor(en)
Bringmann, Wilhelm
Erschienen
Stuttgart 2019: Ibidem Verlag
Anzahl Seiten
699 S.
Preis
€ 89,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arthur Kuhle, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Im Jahr 1806 wurde Preußen bei Jena und Auerstedt durch eine Armee Napoleons entscheidend geschlagen. Die folgende Staatskrise versetzte Preußens Eliten in hektische Reformtätigkeit. Es kam zu einer Umstrukturierung der Verwaltung, der Agrar-, Gewerbe- und Heeresverfassung und des Bildungswesens. „1806“ hat wiederholt Interesse erweckt, weil es die preußisch-deutsche Geschichte in vieler Hinsicht prägte – nicht zuletzt ideologisch. Der Forschung bietet diese Zeit ein Fallbeispiel für Gesellschaften, die unter Reformdruck geraten. In diesem Kontext wird auch heute diskutiert, welche Ideen sich im publizistisch-politischen Diskurs vor 1806 ankündigten und später umgesetzt wurden. Hatte es preußische Reformbestrebungen vor 1806 gegeben, mit denen man Probleme antizipierte und später meisterte?

Bringmanns Buch versucht, das Jahr 1806 im Kontext preußischer Geschichte seit der Regierungszeit Friedrichs II. (1712–1786) zu verorten. Dabei legt die Untersuchung einen Schwerpunkt auf die politischen Beziehungen zwischen Frankreich und Preußen seit 1789, um sich anschließend den Zeitgenossen, Akteuren und Entscheidungsträgern sowie den Ereignissen vom 9. bis zum 14. Oktober 1806 (der Schlacht bei Jena und Auerstedt) zuzuwenden. Es folgen „Erläuterungen und Analysen“ über die ökonomischen Zwänge Preußens. Schließlich bemüht sich der Autor, „vermeintliche“ (S. 487) und „tatsächliche Ursachen“ (S. 565) für die preußische Niederlage zu identifizieren.

Dem Leser/der Leserin wird bei der Lektüre rasch bewusst, dass Bringmann den Begriff „Reformen“ auf die Fragestellung einengt, ob sich die preußische Führung aus „den Bahnen des Manöverkrieges“ zu befreien und auf „(Entscheidungs-)Schlachten“ umzuorientieren vermochte (S. 182f.). Das führt zu einer eigenwilligen Einschränkung der Perspektive. Angesichts der Verengung des Reformbegriffes auf die Steigerung der taktischen Schlagkraft überrascht nicht, dass die Einzigen, die Bringmann als „Reformer“ gelten lässt, die Vertreter der sogenannten „Kriegspartei“ sind, die als Gründerväter des preußisch-deutschen Militarismus gelten müssen, also „Scharnhorst und seine wenigen Mitstreiter“ (S. 616).

Eine Definition des Reformbegriffes wird nicht angeboten. Es wird indessen deutlich, dass Bringmann die alte Vorstellung vom „Machtstaat“ verinnerlicht hat, das heißt eine „offensive Koalitions- und Machtpolitik“ (S. 40). Auf dieser Grundlage kritisiert er das „eiserne Festhalten am Prinzip der Neutralität seit 1797“ (S. 53). Ökonomische und infrastrukturelle Probleme Preußens erlangen hier nur unter dem Aspekt der Kriegführung Bedeutung. Folglich sei es nur darauf angekommen, „ob und wie der Frieden genutzt wurde“ (S. 50): „Für eine zeitgemäße Wirtschafts- und Finanzpolitik, auf deren Basis man ein wettbewerbsfähiges, schlagkräftiges Heer unterhalten konnte, tat Preußen bis 1806 jedoch buchstäblich nichts“ (S. 58, Fußnote 127).

Unter einer solchen Zielvorgabe – die der Leser/die Leserin mit guten Gründen nicht teilen muss – steht dann auch Bringmanns Kritik an König Friedrich Wilhelm III. Seine „prinzipielle Abneigung gegen den Krieg“ (S. 33) wird als Zeichen „eines Charakterschwächlings“ bewertet, dem Bringmann auf dieser Grundlage Regierungsunfähigkeit attestiert (S. 34) – ein wiederkehrendes Motiv des Buches. Anstelle einer Analyse der historischen Quellen werden Fragen auf Grundlage persönlicher Werturteile beantwortet. Ein Beispiel unter vielen bietet Bringmanns Einschätzung von Ernst von Rüchels „General-Instruktion für die Kommission der Finanzen“ vom 19. Februar 1798. Olaf Jessen hatte Rüchel als einen frühen und gemäßigteren Reformer eingeordnet.1 Bringmann: „Hierzu stellt sich zunächst die von Jessen übersehene Frage, wie ein lückenhaft gebildeter, sprachlich schwülstig-unbeholfener, intellektuell nicht auffälliger Offizier wie Rüchel, der keine ökonomische Vorbildung oder (Verwaltungs-)Erfahrung hatte, zu so einer Aufgabe gelangt ist.“ Und statt diese tendenzöse Aussage nun zu prüfen, nutzt Bringmann sie als Faktum, um zu folgendem Schluss zu gelangen: „Es ist offensichtlich, dass Rüchel dieses Papier nicht verfasst haben kann und nur seinen Namen hergab […].“ Das argumentum ad hominem wird gleich nochmals bemüht, um Rüchel als Reformer zu negieren: „Sodann spricht der Inhalt der Instruktion für sich […]. Mit den Reformen nach 1807 besteht […] jedenfalls keinerlei geistiger Zusammenhang“ (S. 125f.). An zahlreichen Stellen argumentiert Bringmann über Invektiven, die er gegen historische Akteure verwendet: „Wer konnte denn so dumm sein?“ (S. 23), „Idiot“ (S. 31), „nasser Lappen“ (S. 68), „Charakterschwäche“ (S. 112), „blind, dumm und selbstgefällig“ (S. 118), „offensichtliche[] Unfähigkeit“ (S. 120), „Innerlich hohl, im Nachäffen […] lediglich die Prothese einer Persönlichkeit“ (S. 124), „Hasenfüßigkeit“ (S. 133), „Großmäuler“ (S. 140), „Geschreibsel[]“ (S. 147), „Schönschwätzer“ (S. 293), „Wirrkopf“ (S. 297), „dümmliche Selbstüberschätzung“ (S. 300), „Quengelei“ (S. 301), „Querulant[]“ (S. 301) „Scharlatan“ (S. 302), „mediokre[] Persönlichkeit“ (S. 638). – Transparenz der Analyse wird hier durch Polemik ersetzt.

Wegen seiner Kritik an einer „preußisch-deutschen Geschichtswissenschaft“ (S. 17/20) fühlt man sich kurz verleitet, dem Autor das Motiv zu unterstellen, alte Vorurteile des preußisch-deutschen Militarismus und Nationalismus auszuräumen – ein Irrtum. Scharnhorst, Clausewitz etc. bilden für Bringmann den Goldstandard. Der Optimierung der damaligen Gefechtsweise gewinnt Bringmann nebenbei eine humanistische Dimension ab. Das eigenverantwortliche Zielen auf Menschen hätte, wenn es schon vor 1806 eingeführt worden wäre, die preußischen Untertanen emanzipiert und zu mündigen Bürgern erzogen: „Mit dem Zielen wäre die Tür zum humanitären Zeitgeist des 18. Jahrhunderts aufgestoßen worden […]“ (S. 597).

Interessant ist, wie Bringmann Bedrohungs-Metaphern einstreut, um die nach 1806 einsetzende Militarisierung der Zivilgesellschaft wie eine Entscheidung des common sense erscheinen zu lassen: „Wie eine schleichende Krankheit einen Organismus, würde der französische Einfluss Preußen langsam befallen und aushungern“ (S. 56).

Bringmann zeigt autokratische Sympathien, die sich in den Formen eines altertümlichen Männlichkeits-Diskurses äußern. Er propagiert eine „kraftvolle Rolle“ und „Virilität“ (S. 131), während die preußische Neutralitätspolitik vor 1806 als „feige“ charakterisiert wird (S. 104), mit der man „sich selbst demütigte und wehrlos machte“ (S. 108). Umgekehrt sei es „ein natürlicher Reflex des Fähigen und Starken, wenn er oktroyierte und sich nahm, was er wollte“ (S. 62). Entsprechend kritisch sieht Bringmann, dass der preußische König Kommissionen einsetzte, statt „(vor-)entschieden“ zu haben und „als Alleinherrscher“ aufgetreten zu sein (S. 618/627). Schließlich ist es für Bringmann „nicht die Kompetenzverteilung“, sondern sind es die „starken Persönlichkeiten“ (S. 142), die Gesellschaften reformieren. Als Maßstab einer gelungenen Reform sieht Bringmann das Volksheer: „Seit 1807 wurde manches, aber nicht alles verändert. Ein freies, nationale Interessen auf eigene Initiative begeistert wahrnehmendes klassenloses Volksheer, das uns die preußisch-deutsche Geschichtsschreibung und die nationalsozialistische Propaganda ‚überliefert‘ hat, gab es noch längst nicht“ (S. 644).

Jenseits des militaristischen Narrativs, das uns bei Bringmann wiederbegegnet, bieten die historischen Quellen eine andere Reformdebatte. Es hatte alternative Reformansätze gegeben, die eine Verwissenschaftlichung von Konflikten anstrebten, um sie als dynamische Gleichgewichte zu deuten und eingrenzbar zu machen. Erst die jüngere Forschung hat den Wert dieser damals so fortschrittlichen Ideen wieder erkannt.2 Karl Ludwig von Phull verließ 1806 Preußen, wurde Berater des Zaren Alexander und ermöglichte 1812 durch eine konsequente Defensivstrategie das Scheitern von Napoleons Expansionspolitik.3 Es waren pazifistische Reformideen, die die Zeitenwende von 1812 ermöglichten, keine Steigerung der Gewalt! Diese Tradition aber erfährt bei Bringmann eine pauschale Aburteilung unter anderem mit Berufung auf Reinhard Höhn, einen SS-Offizier (S. 568, Fußnote 2144).

Durchgehend kritisiert Bringmann eine „preußisch-deutsche Geschichtswissenschaft“, die er mit dem theoretischen Standpunkt „Anything goes“ (S. 578) erfasst haben möchte. Diese Verknüpfung führt jedoch zu einiger Verwirrung beim Leser/Leserin. Der methodische Ansatz des „Anything goes“ ist von Paul Feyerabend (1975) bekannt gemacht worden und gehört damit in die Postmoderne. Die „preußisch-deutsche Geschichtswissenschaft“ dagegen gehört in die Vorkriegszeit. Bei genauerem Hinsehen sind es jedoch vornehmlich die Autoren der Nachkriegszeit, die von Bringmann kritisiert werden. Das kuriose Ergebnis ist, dass Bringmann tatsächlich die liberalisierenden Tendenzen der Nachkriegsgeschichtswissenschaft kritisiert und mit seinem Buch zur preußisch-deutschen Geschichtsschreibung der Vorkriegsepoche zurückkehrt.

Zusammenfassend kommt der Rezensent zu der Einschätzung, dass es sich bei dem Buch Bringmanns um einen wenig kaschierten und deutlich anti-liberalen Gegenentwurf zum modernen Blick auf zwischenstaatliche Konflikte handelt. Der Klappentext – „nicht, um Bekanntes zu wiederholen, sondern um neue Erkenntnisse zu präsentieren“ – verspricht hingegen deutlich zu viel.

Anmerkungen:
1 Olaf Jessen, „Preußens Napoleon“? Ernst von Rüchel 1754–1823, Paderborn 2007.
2 Winfried Mönch, „Rokokostrategen“. Ihr negativer Nachruhm in der Militärgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Das Beispiel von Reinhard Höhn und das Problem des „moralischen“ Faktors, in: Daniel Hohrath / Klaus Gerteis (Hrsg.), Die Kriegskunst im Lichte der Vernunft, Hamburg 1999, S. 75–97; Arthur Kuhle, Die preußische Kriegstheorie um 1800 und ihre Suche nach dynamischen Gleichgewichten, Berlin 2018.
3 Arthur Kuhle, Putting Theory into Practice. Ludwig von Wolzogen and the Russian Campaign in 1812, in: War in History 27 (2020), S. 156–178.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension