Cover
Title
Kanon im Exil. Lektüren deutsch-jüdischer Emigranten in Palästina/Israel


Author(s)
Jessen, Caroline
Published
Göttingen 2019: Wallstein Verlag
Extent
398 S.
Price
€ 42,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Margarete Tiessen, Magdalene College, University of Cambridge

Mit ihrer nun in gekürzter Fassung publizierten germanistischen Dissertation hat Caroline Jessen eine umfassend-systematische Untersuchung der Zirkulation deutschsprachiger Texte im palästinensischen bzw. israelischen Exil seit den 1930er-Jahren vorgelegt. Die Autorin streift am Rande die literarischen Zirkel und Veranstaltungen, in denen die aus Deutschland Emigrierten sich versammelten, um zumindest Ausschnitte einer verlorenen Vergangenheit und Identität zu bewahren. Vor allem geht es Jessen aber darum, anhand ausgewählter Lesebiographien und Büchersammlungen den „Zeichencharakter“, das „wirklichkeitserschließende Potential“ und die „Distinktionsfunktion“ (S. 21) der deutschsprachigen Lektüren in Palästina bzw. Israel nachzuvollziehen. Sie fragt praxeologisch nach „Strategien der Neuaneignung und des Gebrauchs einer Literatur, […] die ihre selbstverständliche Autorität eingebüßt hatte“ (S. 315).

Nach einer über konzeptuelle Entscheidungen und Grundlagen der „Kanonforschung als Gedächtnis- und Diskursgeschichte“ (S. 52) Aufschluss gebenden Einleitung rekonstruiert das zweite Kapitel zunächst die Wege, auf denen deutsche Bücher das jüdische Palästina bzw. Israel erreichten, um dann ihren Lesespuren in Jerusalem und Tel Aviv zu folgen. Jessen wertet hier vor allem autobiographische Zeugnisse aus, die anhand einiger weniger erhaltener Dokumente zur Emigration jüdischer Büchersammler und der Überführung von Buchbeständen verifiziert werden. Zentrale Quellen sind daneben die Kataloge der Leihbibliotheken und Antiquariate aus den 1930er- und 1940er-Jahren. Jessen macht die entscheidenden Bücher-Einfuhren für die Jahre 1932 bis 1939 aus, als es den Flüchtenden mitunter noch gelang, Bücher als „privates Umzugsgut“ zu deklarieren und auf „legalem“ Wege aus Deutschland herauszubringen (S. 58). Neben Titeln, die praktischen Nutzen für den Neubeginn versprachen, seien vor allem literarische Texte, aber auch Unterhaltungsliteratur „in Koffern, Paketen und Containern“ in die Emigration überführt worden (S. 60). Viele dieser Bücher mussten in der finanziellen Not der Emigration veräußert werden und zirkulierten fortan über den privaten oder öffentlichen Leihverkehr sowie den antiquarischen Buchhandel. Sie fanden sich neben weit verbreiteter englischsprachiger und einem wachsenden Korpus hebräischer Literatur wieder. Ergänzt wurden sie bald durch die als besonders wertvoll erachteten Publikationen der Exilverlage und durch die oftmals im Eigenverlag herausgegebene deutschsprachige Literaturproduktion vor Ort.

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges verschärfte sich im jüdischen Palästina die öffentliche Kritik an der fortgesetzten Produktion und Rezeption deutschsprachiger Bücher. Das im Schatten schwierigster politischer Entwicklungen sich formierende Feld der Buchzirkulation überblickend, kommt Jessen zu dem wichtigen Urteil, dass fortan „die deutschsprachige Lektüre nicht einfach als Beharrungskraft alter Gewohnheiten gesehen, sondern nur als Aushandeln von Freiräumen und Kompromissen in einem Umfeld verstanden werden kann, das zum Aufbau eines neuen Gemeinwesens aufforderte“ (S. 57).

Es sind eben solche Aushandlungsprozesse in ihrer lebensgeschichtlichen und emotionalen Verflochtenheit, denen Jessen im dritten Kapitel nachgeht – dem Kern ihrer Studie. Dieser Hauptteil ist in Zugänge zu den kursierenden deutschsprachigen Büchern unterteilt, die über fünf von Jessen als exemplarisch ausgewiesene Biographien herausgearbeitet werden. Der erste Blick gilt dem Görlitzer Rechtsanwalt und Schriftsteller Paul Mühsam (1876–1960), dessen deutschsprachige Lektüren seit der Flucht nach Haifa im September 1933 zunehmend „die Öffnungspunkte zu ihrer Umwelt“ verloren hätten (S. 89). Mühsam habe sich immer mehr in das aus der Jugend- und Studienzeit vertraute Bildungsgut zurückgezogen. So schien etwa „das in Goethes Werken immer wieder neu erkundbare Kanonische […] eine Leerstelle zu füllen, die sich trotz einiger importierter Bücher und trotz antiquarischer deutschsprachiger Literatur in Israel auftat“ (S. 94). Dieses kompensatorische Lesen sei mit dem Bedeutungsverlust des Autors Mühsam einhergegangen, der sich in der Emigration wie viele andere des vertrauten literarischen Feldes beraubt fand. Jessen konstatiert bei Mühsam insgesamt eine „konservative Werthaltung“, die durchaus als „Eskapismus“ zu sehen sei (S. 109). Besonders mit der im Exil entstandenen, unveröffentlicht gebliebenen Anthologie „Perlen deutscher Dichtung“ (1957) habe Mühsam eine Wiederherstellung der „Integrität des Literarischen als Replik auf die erfahrenen Vereinnahmungsversuche der Literatur für die Ideologie des Nationalsozialismus“ angestrebt (S. 110). Das Ergebnis dieser Bemühungen beschreibt Jessen als „Konglomerat aus Nostalgie, Verlusterfahrung und reaktionärer Ästhetik“ (S. 116).

Demgegenüber habe sich der Schriftsteller und Jurist Josef Kastein (1890–1946, Pseudonym für Julius Katzenstein) ab seiner Übersiedlung nach Haifa im Jahr 1935 ganz dem zionistischen Projekt verschrieben, für das er schon als Schüler in Bremen und während der Studienzeit in München öffentlich eingetreten war. Jessen betont die Spaltung von (bildungs)bürgerlicher Existenz und schriftstellerischem sowie politischem Engagement, die sich in der Biographie Kasteins früh abgezeichnet und auch seine Lektüren und literarischen Arbeiten geprägt habe. Anfang der 1930er-Jahre sei mit der Publikation von „Eine Geschichte der Juden“ (1931 bei Rowohlt erschienen) schließlich eine klare Entscheidung zugunsten des zionistischen Engagements gefallen. Sie setzte sich in der Emigration über eine emphatische Wendung gegen das europäische Erbe fort. Lektüre und schriftstellerische Produktion ließen fortan ein mit „Selbsttherapie“ (S. 144) zu unbekümmert charakterisiertes Bemühen um die Überwindung der ewigen „Zweiheit“ (Martin Buber) der jüdischen Diaspora erkennen. Laut Jessen ist es unbestreitbar, dass Kastein mit seinem Streben nach der „Codierung einer neuen, aus der jüdischen Geschichte (wieder-)erschaffenen Kultur in Palästina scheiterte“: Seine Werke „blieben gegen seinen Willen Teil von Diskursen, die nicht erst rückblickend als ,deutsch‘ wahrgenommen wurden“ (S. 169).

Anders als Mühsam und Kastein verließ Schalom Ben-Chorin (1913–1999), Geburtsname Fritz Rosenthal, Deutschland im Jahr 1935 als noch sehr junger Mann, um den Großteil seines Lebens in Palästina bzw. später im Staat Israel zu verbringen. Jessen zufolge standen jedoch schon die schriftstellerischen Anfänge in München im Zeichen der Suche nach einer in der Assimilation verloren geglaubten jüdischen Tradition. Seit den frühen Arbeiten und noch im Exil habe Ben-Chorin jedoch gleichzeitig mit der Frage gerungen, in welchem Verhältnis die ersehnte jüdische Tradition zu der deutschen Sprache und Literatur stehen könne, der sich der Autor fortwährend bediente. Schließlich habe sich Ben-Chorins Schreiben mehr und mehr auf das „Religiöse in seiner intellektuellen und ethisch-sozialen Dimension“ gerichtet; der sich in der Emigration anfangs zuspitzende Identitätskonflikt sei durch den Abschied vom literarischen Schreiben über einen „Referenzwechsel“ umgangen statt gelöst worden (S. 195). Anhand von Ben-Chorins ungebrochener Faszination für das Werk Stefan Georges zeigt Jessen abschließend, wie die Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Literatur dennoch fortwirkte.

In den unmittelbar auf die Emigration aus Hannover (1934) folgenden Jahren gelang es dem Schriftsteller Werner Kraft (1896–1991) kaum, ein Publikum jenseits des kleinen Kreises im Jischuw zu erreichen; jedoch sei der Wunsch ungebrochen geblieben, in Deutschland und als deutscher Dichter gelesen zu werden. Aus den Nachkriegskorrespondenzen Krafts mit dem befreundeten Schriftsteller Wilhelm Lehmann und der Redaktion des „Merkur“ arbeitet Jessen heraus, wie massiv die geographische Distanz den Austausch mit der deutschsprachigen Literatur und Publizistik erschwerte und immer wieder zu übergriffigen identifikatorischen Zuschreibungen seitens der Herausgeber führte. Bis zuletzt habe Kraft um die Deutungshoheit über sein Werk und die eigene Biographie gerungen.

Unter den von Jessen porträtierten Lesern kehrte einzig der Bibliothekar und Publizist Ernst Loewy (1920–2002), der 1935 als Jugendlicher ausgewandert war, später wieder nach Deutschland zurück: Nach gescheiterten Anknüpfungsversuchen in der DDR ließ sich Loewy 1957 in der Literaturstadt Frankfurt am Main nieder, wo er bald die Judaica-Abteilung der Stadt- und Universitätsbibliothek leitete und die historische Erforschung des Exils vorantrieb. In der Emigration seien dem Heranwachsenden vor allem Thomas Manns, aber auch Romain Rollands oder Friedrich Nietzsches Werke zum prägenden, das eigene Schreiben initiierenden Erlebnis geworden. Das „politische Bewusstsein“ des jungen Buchhändlers hätten die Publikationen der deutschsprachigen Emigration geprägt, die Loewy an eine „auf die politische Zukunft Deutschlands ausgerichtete“ (S. 277), dem Sozialismus nahestehende Gemeinschaft verwiesen und den Glauben an die politische Kraft des Literarischen stärkten. In seinem Schreiben wie persönlich sei es Loewy dennoch nicht gelungen, Anschluss an die literarische Emigration zu finden – zu sehr behinderte die infrastrukturelle Abgrenzung den Informationsaustausch.

Anhand der Lektüren und Publikationen ihrer Protagonisten entfaltet Jessen bemerkenswert feinfühlig das Ausmaß der Zersetzung einer in ihrem Wert fraglich gewordenen kanonischen Verwurzelung unter den der deutschen Literatur verbundenen Emigranten in Palästina bzw. Israel. Fünffach verschieden zeichnet der biographische Zugang das Schicksal Exil nach, mit Interesse an den sehr persönlichen Konflikten und Vereinzelungen. Gleichzeitig kommt Jessens Studie einer Sozial- und Ideengeschichte des vermeintlichen Neubeginns gleich, der von den hoffnungsschürenden Narrativen der Zionisten ebenso überschrieben war wie von existentieller Verzweiflung und bitteren Verlusterfahrungen. Fast beiläufig, aber eben deshalb besonders eindrücklich, evoziert die Untersuchung nicht zuletzt die Kulisse einer unter schwierigsten politischen und materiellen Voraussetzungen sowie aus vielfältigen Einwanderungen und Sprachen sich erst noch zusammensetzenden Öffentlichkeit. Auch das literarische Leben musste hier anfangs improvisiert werden.

Dass sich die Untersuchung auf so vielfältige Weise lesen lässt, erweist den besonderen Wert von Caroline Jessens Buch. Es belegt, wie erkenntnisreich und wichtig rezeptionsgeschichtliche Studien bleiben und auf welch kreative Weise sie angelegt werden können. Bedenkenswert erscheint auch das knappe, gegenwärtige erinnerungspolitische Kontroversen in Israel ansprechende Abschlussplädoyer, dem nachgewiesenen Konfliktpotential und den inneren Widersprüchen bestehender deutschsprachiger Büchersammlungen in Israel nicht durch ahistorische Glättungsversuche und verkürzende Einordnungen in „Erinnerungsökonomien“ (S. 327) auszuweichen. „Sie als ein kulturelles Erbe zu bezeichnen (und vielleicht ihren unbedingten Erhalt zu fordern)“, schließt Jessen (S. 327f.), „hieße, den Protest der Bücher zu übergehen, sie in der Historisierung und Festlegung auf eine pädagogische Funktion ruhigzustellen.“