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Titel
USA oder Sowjetunion?. Konkurrierende Modernitätsentwürfe in den Massenmedien der Weimarer Republik


Autor(en)
Franz, David
Reihe
Schnittstellen. Studien zum östlichen und südöstlichen Europa 12
Erschienen
Göttingen 2019: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
341 S.
Preis
€ 59,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Happel, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Der amerikanische Liberalismus und der sowjetische Autoritarismus boten ein hochproduktives Spannungsfeld für die Selbstverortung der deutschen Gesellschaft in der Moderne des 20. Jahrhunderts.“ (S. 7) Nach dem verlorenen Krieg und dem Scheitern des alten deutschen Gesellschafts- und Staatsmodells war der Bedarf nach Selbstvergewisserung hoch. Das öffentliche Sprechen über die Entwicklungen in den USA und in der Sowjetunion gaben der besiegten Nation mit ihrem ausgezehrten Ideenhaushalt wichtige Impulse. David M. Franz hat mit seiner Regensburger Dissertation das deutsch-sowjetische Verhältnis um die amerikanische Perspektive erweitert. Die globalen Modernisierungsphänomene verlangten nach einem raschen Wandel der politischen Ordnung, des Wirtschaftsprozesses und der Geschlechterrollen. Dabei war „Amerika“ schon lange zu einer Chiffre von Moderne geworden. Doch auch die Sowjetunion sei als Impulsgeber der Moderne zu bewerten. Die messianistische Perspektive schreibt Franz beiden Staatsmodellen zu: „Den Anspruch, die kommende Zeit nach ihren Prämissen umzugestalten, teilten die Revolutionäre von 1917 mit denen von 1776. Beide meinten, der Moderne zu ihrem Recht verhelfen zu müssen.“ (S. 9)

Überzeugend konstruiert Franz das Dreieck USA–Deutschland–Sowjetunion. Er untersucht, wie in Deutschland die Wahrnehmungen beider Länder „den Referenzrahmen für Debatten bildeten, in denen sich die Presseöffentlichkeit mit Phänomenen der Moderne auseinandersetzte“ (S. 11). Seine massenmediale Perspektive nimmt er durch die Untersuchung von 17 deutschen Tageszeitungen und Illustrierten zwischen 1918 und 1933 ein: von der einflussreichen Vossischen Zeitung oder der Frankfurter Zeitung über das Auto-Magazin bis zu der die Bourgeoisie als Trägerschicht des Kapitalismus kritisierenden Arbeiter Illustrierte Zeitung. Visuelle Medieninhalte werden gleichgewichtig zu textuellen behandelt. Gerade die Mischung von sich eher der politischen Information verpflichtet fühlenden Tageszeitungen mit den die Moderne popularisierenden Illustrierten trägt zum Lesevergnügen bei. Die Diskurse werden in fünf Themenblöcke gefasst: Rationalisierung, Frauenemanzipation, Minderheitenfrage, politische Ordnungen sowie Sport, Jugend und Bildung. Die Dissertation beleuchtet das Verhältnis zwischen Medien und Politik und ist in eine Reihe neuer Arbeiten über die deutschsprachigen Printmedien einzuordnen.1

Rationalisierung meinte zunächst im amerikanischen wie im sowjetischen Falle lediglich die Industrieproduktion. Die Hauptrolle in der sowjetischen Rationalisierung nahm dann der „Neue Mensch“ ein. Dieser sollte in einer kollektivistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung funktionieren und glücklich werden. David Franz interessiert sich daher wie zahlreiche seiner Protagonisten für den „Neuen Menschen“, für das Maschinen-Mensch-Verhältnis oder für das neue Bauen.2 In der Rationalisierung sahen deutsche Beobachter langfristig eine Chance auf die Befriedung der Gesellschaft, „da sie den aggressiven, revolutionären Elementen in der Arbeiterbewegung die Grundlage entziehe“ (S. 59). In der Debatte um die Rationalisierung macht Franz daher im Kern eine Kultur- und Zeitkritik aus (S. 63). Sie reichte von der Hoffnung auf die große wirtschaftliche Aufholjagd bis zum Schreckensbild nutzlos gewordener Arbeiter. Folglich war neben der Wirtschaft auch das Individuum selbst Objekt der Rationalisierung und Beobachtung. Veränderte die Moderne die Arbeits- und bisherige Lebenswelt der Menschen, drohte mit Blick auf die USA und die UdSSR die Entmenschlichung und Vermassung des Individuums. Dies erkannten einige Autoren. Eine „einzigartige Grundspannung“ in der Weimarer Presselandschaft entwickelte sich, die Franz mit Beiträgen von Siegfried Kracauer, Joseph Roth oder Alfons Paquet einfängt (S. 93–101). Darüber hinaus liefert Franz zahlreiche Namen und Biographien, denen nachzuspüren wäre.3

Grundlegend veränderten sich die Frauenbilder. Deutsche Diskurse über die neuen weiblichen Rollen lagen als Folie vor der Betrachtung amerikanischer und sowjetischer Frauenbilder. Dass Frauen in der Sowjetunion an Waffen ausgebildet wurden, überraschte 1921. Auf der den Artikel begleitenden Fotografie werden zielende Frauen in einem Kollektiv dargestellt (S. 110). Soll man denken, alle Sowjet-Frauen arbeiten gleichermaßen an der Verteidigung ihres Landes? Geschickt stellt Franz diesen Überlegungen eine Fotografie aus den USA von 1927 gegenüber: Hier haben ebenfalls zahlreiche Frauen das Gewehr im Anschlag und üben für einen Bürgerkrieg – im Hintergrund wird das Lincoln Memorial als Mahnung an die Geschichte und als Symbol für die Verteidigung des politischen Systems in Szene gesetzt (S. 112f.). Das politische Engagement der amerikanischen Frauen nahm man im Reich als stimmig wahr, während die politische Sowjet-Frau als Sinnbild der gesamtgesellschaftlichen Umwälzung galt (S. 124).

Hinsichtlich des amerikanischen Umgangs mit den Afroamerikanern hielten konservative, liberale, nationalsozialistische und kommunistische Berichterstatter gleichermaßen fest, das Land offenbare tiefreichende Bruchlinien, „die zeitgenössischen Erwartungen an Moderne zuwiderliefen“ (S. 148). Die Trennung gleichberechtigter Individuen entlang ethnischer Kategorien relativierte den Staatsbürgerbegriff. Dies widersprach dem deutschen Bild vom „modernen Amerika“. Dass alle politischen Lager Deutschlands in dieser Frage eine einheitliche Position einnahmen, ist doch überraschend. Hierfür liefert Franz zahlreiche Quellenbelege. Die deutsche Leserschaft interessierte sich auch sehr für die Rolle der russischen Juden. Sie fungierten in den Zeitungsmeldungen oft als integraler Bestandteil der politischen und intellektuellen Führungsschicht. Die völkische Presse ließ sich etwa über „10 Jahre Sowjet-Juden Diktatur“ aus (Illustrierter Beobachter, 1927: S. 186). Diese Wochen-Illustrierte der NSDAP war es auch, die stets auf die „jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung“ verwies – die Tragweite dieses Konstrukts offenbarte sich dann im deutsch-sowjetischen Krieg ab 1941.

In der Auseinandersetzung um die politischen Ordnungen kontrastiert David Franz gekonnt die visuelle Kommunikation deutscher Spitzenpolitiker mit der amerikanischer. Diese kommen professioneller daher, werden als Redner und Macher stilisiert, während Reichspräsident Friedrich Ebert 1919 in Badehose auf dem Titelblatt der Berliner Illustrirten Zeitung prangt. Dies hätte David Franz deutlicher einordnen können: nämlich in die deutsche Wahrnehmung eines „Verlusts des Politischen“ im Blick auf die USA.4 Bezüglich der Sowjetunion liegt ein Schwerpunkt der Berichterstattung auf der Frage nach der innerparteilichen Demokratie, die nicht zuletzt nach Lenins Tod virulent geworden war. Der populäre Moskau-Korrespondent des Berliner Tageblatts Paul Scheffer erklärte in seinen Artikeln den neuen Kurs der Regierung als logische Konsequenz der Staatskonzeption: „Weil dies Staatswesen ein Kampfstaat ist, wird es immer ein Element der Unberechenbarkeit, der Unsicherheit enthalten.“ (1924: S. 220)

Ein gesunder „Volkskörper“ sollte das Fundament einer neuen Zeit werden. Gleichgeschaltete Bewegungsabläufe dienten der körperlichen Ertüchtigung und waren ein „Instrument zur Gesunderhaltung und Mittelbarmachung des ‚Volkskörpers‘“ (S. 235). Sport und Körperkultur in der Sowjetunion faszinierten die Leserschaft. Hier war der Sport ein Instrument der Politik – wie späterhin auch in Italien oder in Deutschland. Ebenso war der Fokus auf die Jugend zwischen 13 und 21 Jahren ähnlich gelagert – politisch gesehen eine Phase weltanschaulicher Formbarkeit mit erhöhter Empfänglichkeit gegenüber politischen Utopien (S. 246). Italien beziehungsweise der italienische Faschismus fungierten als drittes Model im Umgang mit der Moderne. David Franz geht hierauf allerdings nicht ein. Die Arbeit übersieht in der alleinigen Konzentration auf die Sowjetunion und die USA, welchen Einfluss etwa Mussolinis Bewegung gerade auf die völkischen Autoren hatte.5

Die Weimarer Massenpresse bediente sich zwischen 1918 und 1933 der Sowjetunion und der USA als Projektionsflächen in ihren Diskussionen um Deutschlands Weg in die Moderne. Der Blick auf die anderen verlieh Sehnsüchten und Ängsten Raum. Er dynamisierte die parallel verlaufenden Modernisierungsdebatten. Die Zeitungsberichte und -bilder zeigen die deutsche Sicht auf sich selbst und ihre Zeit. Eine Zerrissenheit zwischen dem Verharren im Vertrauten und dem unbedingten Gestaltungswillen der Moderne wird erkennbar (S. 287). Quellengesättigt und in einer klaren, schönen Sprache legt David M. Franz eine Geschichte der deutschen Publizistik in der Weimarer Zeit und der deutschen Fremd- und Eigenbilder vor. Die Stärke des Buchs liegt in seiner Synthese weitgehend bekannter Thesen, so über die Rationalisierung, den „Neuen Menschen“ oder die veränderten Geschlechterrollen. Darüber hinaus liest man es so gerne, weil es nebenbei historische Forschungsstränge zusammenfasst und die Geschichte dreier miteinander verflochtener Gesellschaften analysiert.

Anmerkungen:
1 Ute Daniel, Beziehungsgeschichten. Politik und Medien im 20. Jahrhundert, Hamburg 2018; Sonja Hillerich, Deutsche Auslandskorrespondenten im 19. Jahrhundert. Die Entstehung einer transnationalen journalistischen Berufskultur, Berlin 2018; Peter Hoeres, Zeitung für Deutschland. Die Geschichte der FAZ, München 2019; Norman Domeier / Jörn Happel (Hrsg.), Auslandskorrespondenten. Journalismus und Politik 1900–1970 (=Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62/5 (2014)).
2 Die Diskussion um den „Neuen Menschen“ in der Sowjetunion ist vielfältig. Neue Arbeiten widmen sich biographischen Studien und untersuchen dabei nicht nur die individuelle Wahrnehmung, sondern wählen thematische Zugänge, so etwa das „neue Bauen“: Ursula Muscheler, Das rote Bauhaus. Eine Geschichte von Hoffnung und Scheitern, Berlin 2016. Vgl. das Dissertationsprojekt von Rhea Rieben (Basel): Das Politische im Bauen von Hans Schmidt. Architektur und Städtebau im „Ost-West“-Spannungsverhältnis schweizerisch-sowjetischer Beziehungen der 1920er bis frühen 1970er Jahre.
3 Vgl. Manfred Sapper u. a. (Hrsg.), Vermessene Welt. Osteuropaexperten im 20. Jahrhundert (=Osteuropa 67/1–2 (2017)).
4 Vgl. Thomas Mergel, Propaganda in der Kultur des Schauens. Visuelle Politik in der Weimarer Republik, in: Wolfgang Hardtwig (Hrsg.), Ordnungen in der Krise. Zur Politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1918–1933, München 2007, S. 531–559, bes. 532–535; ders., Gegenbild, Vorbild und Schreckbild. Die amerikanischen Parteien in der Wahrnehmung der deutschen politischen Öffentlichkeit 1890–1920, in: Dieter Dowe / Jürgen Kocka / Heinrich August Winkler (Hrsg.), Parteien im Wandel. Vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, München 1999, S. 363–395.
5 Stefan Plaggenborg hat auf die gegenseitige Beobachtung der drei Ideologien Kemalismus, Faschismus und Sozialismus eindrucksvoll hingewiesen. Davon hätte David Franz in seiner Analyse profitieren können: Stefan Plaggenborg, Ordnung und Gewalt. Kemalismus, Faschismus, Sozialismus, München 2012, S. 34–67 (=Kap. „Blicke auf die Anderen“).

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