Werner Plumpe ist wohl der bekannteste deutsche Wirtschaftshistoriker der Gegenwart. Seine 2019 erschienene Geschichte des Kapitalismus zeigt die Gründe dafür auf. Sie kombiniert große Gelehrsamkeit mit dem Hang zur Formulierung klarer, mitunter provokanter Thesen.1 Dass Plumpe sein markantes Profil indes nicht nur seiner Tätigkeit als Forscher, sondern auch derjenigen als akademischer Lehrer verdankt, ist dem vorliegenden Band zu entnehmen.
Es handelt sich um eine klassische Festschrift, die vier seiner Schüler aus Anlass des 65. Geburtstags herausgegeben haben. 27 Weggefährten des Jubilars sind darin mit Beiträgen vertreten, die unter der Überschrift „Moderner Kapitalismus“ stehen. Die Einleitung der Herausgeber umreißt den Begriff und die damit verbundene Forschungskonjunktur. Sie spricht auch das latente Spannungsverhältnis zwischen der Wirtschaftsgeschichte im engeren Sinne und der breiter ausgerichteten New History of Capitalism an. Auf diesen Befund wird zurückzukommen sein. Die folgende Rezension nimmt die Beiträge nicht einzeln in den Blick, sondern orientiert sich an den fünf Themenkomplexen, die als Grobgliederung des Bandes dienen. Im ersten Abschnitt werden Aufsätze zu „Grundbegriffen und Konzepten des Kapitalismus“ zusammengefasst. Abschnitt 2 betrachtet „Unternehmen“, Abschnitt 3 beschäftigt sich mit „Konsum“, Abschnitt 4 widmet sich dem Verhältnis von „Staat und Wirtschaftsordnung“ und Abschnitt 5 trägt die Überschrift „Finanzmärkte“.
Der erste Abschnitt ist eng am Oberbegriff des „modernen Kapitalismus“ orientiert. Dankenswerterweise unterbleiben die verbreiteten Versuche zu einer essentialistischen Definition dieses Phänomens. Stattdessen liest man weit gefasste Überlegungen zur Untersuchung globaler Wertschöpfungsketten als möglichem Zugang zur Geschichte des Kapitalismus (Jan-Otmar Hesse), zum Verhältnis von Kapitalismus und freier Lohnarbeit (Thomas Welskopp), zur Begriffsgeschichte (Roman Köster), zum Verhältnis von Wissenschaft und Kapitalismus (Michael C. Schneider) oder zur Frage, ob es einen „Green Capitalism“ geben kann (ja, meint Ray Stokes). Das sind ausnahmslos sehr anregende Aufsätze, die das analytische Potential des Kapitalismus-Begriffes deutlich machen.
Merklich weniger an dieser Leitkategorie orientiert sind die in Abschnitt 2 versammelten Beiträge zu „Unternehmen“. Wie die Herausgeber schon in der Einleitung anmerken, tut sich die New History of Capitalism schwer, die unternehmensgeschichtliche Forschung – zu deren langjähriger Konjunktur Werner Plumpe erheblich beigetragen hat – für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Das liegt vor allem am Einzelfallcharakter der einschlägigen Arbeiten, der sich auch hier wieder deutlich zeigt. Bei der Mehrzahl der Aufsätze in diesem Abschnitt handelt es sich um solide Fallstudien (zum Beispiel zu Familienunternehmen), deren Einbettung in übergeordnete Zusammenhänge jedoch schwierig ist. Am besten löst Jörg Lesczenski dieses Problem, indem er seinen Beitrag zur „Hauskarriere“ in Unternehmen des 20. Jahrhunderts an die Debatte über die Varieties of Capitalism andockt und vor einer vorschnellen Zuordnung des untersuchten Phänomens zum deutschen Typus der Coordinated Market Economy warnt.
Die Abschnitte über den Konsum sind – abgesehen von Ben Wubs‘ Überlegungen zu einer International Business History of Fashion – von der Kapitalismus-Debatte ebenfalls recht weit entfernt. Das ist etwas erstaunlich, weil Plumpes Gesamtdarstellung die Massenproduktion und damit auch den Massenkonsum zu einem zentralen Merkmal des modernen Kapitalismus erklärt. Die hier abgedruckten Beiträge untersuchen hingegen eher Einzelprobleme. Die individuelle Qualität der Ausführungen ist dabei durchaus hoch. Lutz Budraß‘ Aufsatz über die deutschen Vorbereitungen auf die Hungerblockade im Ersten Weltkrieg etwa entlarvt etablierte Topoi der Weltkriegsforschung wie den „Schweinemord“ als NS-Propaganda und kommt zu einer lesenswerten alternativen Deutung dieser Episode.
Ähnlich originell sind auch die im vierten Abschnitt enthaltenen Überlegungen von Louis Pahlow zum Verhältnis von Recht und Kapitalismus am Beispiel des Umgangs der kaiserzeitlichen Justiz mit dem Börsenterminhandel. Man kann sie als Aufforderung an die Wirtschaftsgeschichte lesen, solche rechtshistorischen Aspekte stärker zu berücksichtigen. Hier und im Weiteren taucht zudem der Kapitalismus-Begriff wieder häufiger auf als zuvor. Bei den von Tim Schanetzky und Johannes Bähr gebotenen Einblicken in die neueren Debatten über die Wirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik trifft man ihn jedoch vor allem als Quellenbegriff an. Konzeptionell kämen die beiden sehr interessanten, weil eine aktuelle Diskussion gut zusammenfassenden, Beiträge wohl auch ohne dieses Dach aus.
Der letzte Abschnitt zu den Finanzmärkten rückt den Kapitalismus-Begriff dann wieder ins Zentrum. Margrit Schulte Beerbühl steuert einen lesenswerten Beitrag zur wenig beachteten, aber international wirksamen Hamburger Spekulationsblase von 1799 bei. Dieter Ziegler fragt statt nach der Bankenmacht nach der Macht in den Banken. Und Friederike Sattlers Beitrag zeigt in überzeugender Weise, wie sich das wolkige Konzept des „Finanzmarktkapitalismus“ anhand einer klaren, empirisch ausgerichteten Untersuchungsstrategie (die am Beispiel des globalen Ölmarkts durchexerziert wird) erforschen lässt.
Wie kann man angemessen über die Stärken und Schwächen eines solchen Bandes aus einem mittlerweile selten gewordenen Genre sprechen? Man könnte, so eine erste Lesart, darauf verweisen, dass die Beiträge trotz der beachtlichen Strukturierungsleistung der Herausgeber recht heterogen sind und einzelne von ihnen qualitativ etwas hinter dem Niveau von Zeitschriftenaufsätzen zurückbleiben. Auf diesem Wege gelangte man schnell zu einer Grundsatzdiskussion über den Sinn und Zweck von Festschriften. Bei allen Problemen, die dieser Publikationsform anhaften, ist die Existenz des vorliegenden Bandes aber durchaus zu begrüßen – schon allein wegen seines Wertes für eine künftige Wissenschaftsgeschichte der deutschen Wirtschaftsgeschichte, die an Werner Plumpe und seinem Umfeld nicht vorbeikommen wird.
Man könnte, das wäre eine zweite Lesart, statt nach Homogenität und Heterogenität nach der Reichweite und den „blinden Flecken“ des Buches fragen. Dann würde die Breite und Fruchtbarkeit der konzeptionellen Beiträge positiv hervorstechen, aber auch die starke Konzentration der empirischen Forschungen auf die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts auffallen. Zudem ließe sich bedauern, dass das Andere des Kapitalismus – sei es in der Vormoderne, in der außereuropäischen Welt oder im Sozialismus – nur am Rande thematisiert wird (immerhin aber von André Steiner anhand des Sozialismus und von Peer Vries anhand von Japan in der Meiji-Ära). Schließlich fiele auf, dass Fragen von Verteilung und Ungleichheit überhaupt nicht angesprochen werden, obwohl sie für die jüngere Debatte über den Kapitalismus von zentraler Bedeutung sind. Aber selbstverständlich entspringen solche Schwerpunktsetzungen im Falle einer Festschrift den zufälligen Interessenskonstellationen der Beteiligten und sie sind deshalb nicht an aktuellen Forschungskonjunkturen zu messen.
Eine dritte Lesart könnte den Band zum Anlass nehmen, um über die eingangs angeschnittene Frage nach dem Verhältnis von Wirtschaftsgeschichte und Kapitalismus-Geschichte nachzudenken. Aus meiner Sicht machen die Beiträge deutlich, dass ein beträchtlicher Teil der Wirtschaftsgeschichtsschreibung den Kapitalismus-Begriff entbehren kann. Daraus ließe sich der Appell formulieren, die Identität des Faches nicht zu stark an dieses Thema zu koppeln. Andererseits ist die Debatte für Teile der Wirtschaftsgeschichte äußerst anregend und verleiht ihren Befunden neue Relevanz. Zudem zeigt sich, dass ein eng an ökonomische Aspekte gekoppelter Kapitalismus-Begriff, wie ihn der vorliegende Band vertritt, gut geeignet ist, um der notorisch wachsweichen Verwendung des Konzeptes in benachbarten Fächern etwas entgegenzusetzen. Auch dies ist aber wohl nur aus einer Position heraus möglich, die das Proprium der Wirtschaftsgeschichte nicht zu eng an den Kapitalismus-Begriff bindet.
Jenseits solch allgemeiner Überlegungen, die weit über das zu besprechende Buch hinaus zu debattieren wären, bietet sich auch noch eine letzte Lesart des Bandes an. Man kann ihn schlicht als Einladung nehmen, um einen Einblick in die Produkte eines wesentlichen Zweiges der wirtschaftshistorischen Forschung der letzten Jahre und Jahrzehnte zu erhalten und deren Vielfalt kennen zu lernen. Tut man dies, so wird man zahlreiche Denkanstöße erhalten und Interessantes und Anregendes an Stellen finden, an denen man es vielleicht nicht vermutet hätte. Wer sich also beim Lesen gerne treiben lässt und in eher assoziativer Weise über modernen Kapitalismus nachdenken will, dem sei der Band empfohlen. Wer hingegen nach einer stringenten Deutung sucht, kann zu Plumpes eingangs genannter Gesamtdarstellung greifen.
Anmerkung:
1 Werner Plumpe, Das kalte Herz. Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution, Berlin 2019.