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Titel
Austriaca. Abhandlungen zur Habsburgermonarchie im 'langen' 19. Jahrhundert. Herausgegeben von Matthias Stickler


Autor(en)
Brandt, Harm-Hinrich
Erschienen
Anzahl Seiten
492 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carlo Moos, Historisches Seminar, Neuzeit, Universität Zürich

Der vielseitige Band präsentiert 15 Abhandlungen des 1935 in Stuttgart geborenen und zuletzt in Würzburg lehrenden Harm-Hinrich Brandt zur Spätphase der Habsburgermonarchie. Sie kreisen um eine eindrückliche Reihe von Themen wie den Staatsbankrott von 1811, die Revolution von 1848, Ungarn im europäischen Kontext, den Neoabsolutismus und seine Finanzpolitik, den Liberalismus, das Wirtschaftsbürgertum und die Wiener Rothschilds sowie die deutschen Turnvereine in Prag und Brünn. Weil der Rezensent vornehmlich aus Platzgründen nicht auf alles eingehen kann, greift er als pars pro toto sechs Aufsätze heraus, die sich beispielhaft um zwei Großthemen drehen: zum einen im Kontext der Integrationsprobleme des Reichs um seine verunglückten Repräsentationsorgane, zum andern um einen habsburgischen Gegenentwurf gegen den preußisch-bismarckschen.

Beim ersten Problemkomplex findet sich zu Anfang des Bandes ein differenzierter Aufsatz von 1985 zum Scheitern der Parlamentsbildung, wofür das Habsburgerreich mit seinen Integrationsdefiziten ein „Negativbeispiel“ darstellt (S. 15). Am Kremsierer Reichstag von 1848/49, der einzigen Konstituante dieser Monarchie, drängten die Tschechen auf ethnische Föderalisierung, womit sich das Problem der Minderheiten und Mischzonen stellte. Zwar gelang auf der Basis der Gleichberechtigung aller Sprachen ein Verfassungsentwurf, der aber zur „versäumten Gelegenheit“ (S. 29) wurde, denn statt seiner kam im März 1849 ein monarchischer Verfassungsoktroi für die gesamte Monarchie, auf den 1851 eine bürokratische Modernisierungsdiktatur unter polizeilicher Kontrolle und politischer Repression folgte. Franz Joseph schien Österreich konstitutionell nicht regierbar. Zwar konnte er den (Neo-)Absolutismus nicht aufrechterhalten, war aber unfähig zur Konstituierung des Reichs auf neuer Grundlage. Sie scheiterte an der magyarischen „Fundamentalopposition“ (S. 43), während der Ausgleich 1867 den Verzicht auf Reichseinheit und Reichsparlament bedeutete und jede weitere Föderalisierung verhinderte. Zwar wurde Cisleithanien zur konstitutionellen Monarchie, aber das Gruppenverhalten eskalierte zur Obstruktion und die Regierung zog sich auf das Notverordnungsregiment zurück. Der Doppelmonarchie gelang es nicht, einen modernen Staat zu bilden, während ihr Monarch die historischen Institutionen erfolgreich bewahrte. Demgegenüber fehlten den als Staaten konstituierten „‚Reichs‘-Hälften“ (S. 51) die Kompetenzen zur Außen- und Sicherheitspolitik. So weist der Aufsatz indirekt erklärend auf das Ende der Monarchie voraus, nicht aber – wie zurecht gesagt wird – auf seine „Unausweichlichkeit“; doch wurde Franz Josephs Überzeugung, Österreich sei konstitutionell nicht regierbar, zur „sich selbst erfüllenden Prophetie“ (S. 54).

Zwei weitere Aufsätze erweitern diese grundlegenden Überlegungen zur inneren Beschaffenheit der Monarchie. Zunächst ein Text von 1996 zu „Mitteleuropa“ von der Paulskirche zum Ersten Weltkrieg sowie zur Führungsrolle des Deutschtums und den damit zusammenhängenden Übergängen zu „Kolonisationskonzepten“ (S. 251), welche die NS-Großraumvorstellungen dann weit hinter sich lassen sollten. Im Kontext der Paulskirche popularisierte der österreichische Handelsminister Karl Ludwig Bruck die Idee, die gesamte Monarchie in den von Österreich geführten Deutschen Bund aufzunehmen. Sie scheiterte an Preußen und den innerösterreichischen Divergenzen, lancierte im Glauben an die kulturelle Überlegenheit des Deutschtums aber eine verhängnisvolle Ideologie. Hier ergeben sich insofern Anknüpfungspunkte an den erstgenannten Text, als die Mitteleuropa-Idee durch die Nationalitätenprobleme Cisleithaniens und den ungarischen Chauvinismus in Transleithanien kontrastiert wurde. Im Weltkrieg machten die Ausgleichsprobleme alles noch komplizierter. Ein anderer Text behandelte 2014 das Problem „Verwaltung vor Verfassung“ im Neoabsolutismus von 1852 bis 1859/60, der nach der Revolution eine Fortführung früher begonnener Projekte administrativer und gesellschaftlicher Modernisierung anstrebte. In diesem „Staatsabsolutismus“ (S. 441) wurde der Monarch zur letzten Entscheidungsinstanz, allerdings kontrastiert vom Nationalitätenhader und der Blockade jeder föderativen Verfassungsentwicklung durch den Ausgleich und das Notverordnungsregime. Die Folgen der mit administrativer Integration und monarchischer Bürokratie „nachholenden Modernisierung“ (S. 445) sollten das Reich mit seinen ethnischen Problemen und einem von der Obstruktion lahmgelegten Parlamentarismus im Sinne der titelgebenden Leitidee „Verwaltung vor Verfassung“ bis zum Ende beschäftigen.

Neben solchen inneren Gründen besiegelten äußere das Schicksal der Habsburgermonarchie radikal-abschließend. Diesbezüglich illustriert der Band insbesondere die Wirkungen der österreichisch-preußischen Konkurrenz nach 1849, die zugunsten Preußens beziehungsweise des Deutschen Reichs ausging. Auch für diesen Themenkomplex werden drei Aufsätze präsentiert, deren zweiter eine vertiefende Ergänzung des ersten darstellt.

Ein 1990 veröffentlichter Text widmet sich Franz Josephs Außenpolitik von 1848 bis zur Zerstörung des vormärzlich/vorbismarckschen Fürstenbundes im „Bruderkrieg“ von 1866. Der junge Franz Joseph zeigte sofort Herrscher-Selbstbewusstsein, Loyalität gegenüber der Kirche und Vorliebe für alles Militärische. Von Anfang an folgte er vormodernen Mustern und entwickelte nie einen von der Dynastie losgelösten Staatsgedanken. Die Revolution von 1848 blieb als „Schlüsselerlebnis“ (S. 146) prägend im Versuch einer Wiederherstellung der Funktion des Deutschen Bundes als Sicherung der Wiener Ordnung von 1815. Dies hätte angesichts der strukturellen Schwäche Österreichs eine Verständigung mit Berlin erfordert. Franz Joseph ließ sich jedoch mehr von seiner militärischen Umgebung leiten, während (wie oben festgestellt) eine effiziente Bürokratie für eine durchgreifende Modernisierung sorgte, aber die eigene Stärke und Stellung im Deutschen Bund überschätzte. Wegen der Verweigerung des Eintritts in den Krimkrieg stieß die Habsburgermonarchie am Pariser Kongress auf politische Geringschätzung seitens der Westmächte, und als Napoleon III. mit Cavour die Italienfrage aufrollte, setzte Franz Joseph auf Preußen, wobei sich das Ultimatum vom 19. April 1859 als Katastrophe erwies und nach Solferino und dem Vorfrieden von Villafranca die Preisgabe der Lombardei zur Folge hatte. In der Schleswig-Holstein-Frage ließ sich Wien von Preußen „am Gängelband führen“ (S. 172). Zwar wurde im August 1864 ein Krieg gegen Frankreich in Aussicht genommen, um die Italiengründung rückgängig zu machen, aber als sich zeigte, dass Berlin den Deutschen Bund demontieren wollte, „resignierte“ Wien 1866 zum Krieg (S. 177). Sowohl 1866 als auch 1870 verhielt sich Franz Joseph wie vorher vornehmlich reaktiv. Nach der Reichsgründung wurde, jetzt im Rahmen internationaler Verträge, der Faden wieder geknüpft – aber mit Österreich als Juniorpartner. Während der Zweibund von 1879 für Bismarck eine begrenzte Option war, wurde er für Franz Joseph zum politischen „Orientierungspunkt“ (S. 180). So zeigt der Verfasser indirekt sehr schön, wie sich die inneren und äußeren Entwicklungslinien kreuzten. Dass sich Wien in der Schleswig-Holstein-Frage am „Gängelband“ Preußens führen ließ (s. oben), kann als Vorwegnahme der Konstellation im Weltkrieg gesehen werden.

Ergänzend zu diesem Aufsatz liest sich ein Text von 2019 zum österreichischen Reformplan von 1863 für den Deutschen Bund. Darin ging es um die europäische Funktion des Bundes sowie um die Frage einer ausbaufähigen inneren Staatlichkeit, wozu der Autor überlegt, welche Chancen dieses Projekt hätte haben können. Der Entwurf wurde Mitte August 1863 dem Frankfurter Fürstentag vorgelegt. Doch Preußen blieb fern und lehnte die Reformakte, die nach starken Divergenzen großmehrheitlich angenommen wurde, nach ihrer Zustellung ab. Mit der intendierten komplizierten Bundeskonstruktion wäre lediglich ein fragiles Gebilde entstanden, und das Projekt versandete angesichts des gemeinsamen österreichisch-preußischen Vorgehens im Schleswig-Holstein-Konflikt ohnehin. So misslang Franz Josephs Versuch, die österreichische Führung im Deutschen Bund gegen Preußen zu sichern. Entscheidend wurde – wie der bisher unveröffentlichte Beitrag „Wurmstichiges Orlogschiff“ zeigt – die Einschätzung der Habsburgermonarchie durch Bismarck. Ihm verschaffte der Krimkrieg Klarsicht über die Diskrepanz zwischen der von Habsburg beanspruchten europäischen Rolle und seinen materiellen Ressourcen. Aber nachdem Österreich im Frieden von 1866 geschont wurde, um eine spätere Annäherung nicht zu verbauen, bildete sich langsam die Auffassung von der „Existenznotwendigkeit“ (S. 195) dieses Reichs heraus und wurde die Ausgleichskonstruktion von 1867 als Voraussetzung einer engen Anbindung gesehen. Dem späten Bismarck erschienen das monarchische Regiment und der Obrigkeitsstaat als die sichersten Stützen der Stabilität der Habsburgermonarchie, während ihre nationalen Bewegungen in seinem Gesamtbild so wenig Platz hatten wie der russische Panslawismus. Deswegen erwartete er balkanpolitische Enthaltsamkeit und erstrebte eine Art Einflusszonenteilung russischer und österreichischer Interessen. Weil er Österreichs militärische Schlagkraft in Zweifel zog, wollte er jeden Krieg unbedingt vermeiden.

Insgesamt präsentiert der Band eine ganze Reihe zentraler Themen der Habsburgermonarchie im langen 19. Jahrhundert profund. Der Verfasser zeigt sich dabei als sehr kenntnisreich und hochdifferenziert, ebenso auch als anregend, insbesondere dann, wenn man – wie er wiederholt andeutet – spätere Folgen und insbesondere das Ende dieser Monarchie mitdenken kann. Sprachlich sind die Texte präzis, setzen allerdings wegen der Komplexität der Überlegungen und ihrer Detailliertheit ein breites Vorwissen voraus, weshalb sie nicht leicht lesbar sind. Wie immer in solchen Sammelbänden lassen sich thematische Überschneidungen und Wiederholungen nicht übersehen, können aber als Verzahnungen gelesen und leitmotivisch verstanden werden.

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