: Bingen in der Geschichte des 19. Jahrhunderts (1816–1870). Vom Ende der napoleonischen Zeit bis zum Beginn des Kaiserreichs. Bad Kreuznach 2017 : Verlag Matthias Ess, ISBN 978-3-945676-37-0 287 S. € 24,90

: Bingen 1871–1918. Kaiserreich, Gründungsboom und Erster Weltkrieg. Bad Kreuznach 2019 : Verlag Matthias Ess, ISBN 978-3945676530 631 S. € 29,90

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alena Saam, Stadtarchiv Solingen

Dietrich Ebeling und Jürgen Krome widmen sich jeweils in einem eigenständigen Band der Geschichte der Stadt Bingen im „langen 19. Jahrhundert“. Die beiden Publikationen bilden zusammen den dritten Teil der Reihe „Bingen – eine Stadt am Mittelrhein“, welche sich die historische Aufarbeitung der Entstehung und Entwicklung der Stadt von der Steinzeit bis in die Gegenwart vorgenommen hat. 16 Jahre ist es her, dass der zweite und bis dato letzte Band erschienen ist, der sich mit dem Abschnitt von der Steinzeit bis zum Frühmittelalter befasst.1 Der erste Band der Reihe erschien schon 1989 und beschäftigte sich mit der Zeit vom Frühmittelalter bis zur Frühen Neuzeit.2 Diese nicht strikt chronologische Vorgehensweise war dem Umstand geschuldet, dass nicht genügend Archivalien aus dem Bearbeitungszeitraum erschlossen waren. Da die Bestände nun vollständig zugänglich sind, war es möglich, den dritten Teil der Stadtgeschichte anzugehen.

Für den ersten der beiden Bände zur Stadtgeschichte, den Zeitraum von 1815 bis 1870 umfassend, zeichnet Wirtschafts- und Sozialhistoriker Dietrich Ebeling verantwortlich. Anhand von Themenkomplexen wie Industrialisierung, Urbanisierung, Demografie und Veränderungen im kommunalen Wesen gibt Ebeling in der Einleitung jeweils eine kurze historische Einführung und bietet dem Leser dadurch eine Einordnung der Stadtgeschichte Bingens in den Kontext der allgemeinen historischen Entwicklung auf Bundessebene sowie in den Forschungsstand. Diese Themen sind natürlich nicht willkürlich gewählt, sondern folgen dem Aufbau der weiteren Publikation und reißen damit Aspekte an, die im Anschluss für die Stadt Bingen untersucht werden. Schon in der Einleitung zeichnet sich ab, dass dabei die Industrialisierung und die Revolution von 1848/49 zwei Kulminationspunkte in der Geschichte der Stadt Bingen im 19. Jahrhundert sind. Daneben erklärt Ebeling in der Einleitung, wie die einzelnen Kapitel strukturiert sind: Zunächst werden allgemeinere Entwicklungen auf Bundes- und Landesebene grundlegend erklärt, bevor der Fokus vollständig auf Bingen gelegt wird. So stehen die Ergebnisse, die die stadtgeschichtliche Analyse bietet, nicht nur für sich, sondern sie geben dem Leser Vergleichs- und Einordnungsmöglichkeiten.

Bereits zu Beginn der Lektüre fallen sehr schnell Unterbrechungen im Fließtext in Form von kurzen Exkursen auf, die vor allem biografischer Natur sind. Diese lockern nicht nur optisch, sondern auch inhaltlich den Text auf. Sie beginnen mit passenden, teils sehr amüsanten Zitaten aus Binger Quellen. Diese kleinen Exkurse machen die Stadtgeschichte persönlich und anfassbar für den Leser und bieten in Gestaltung und Umfang eine hervorragende Ergänzung zu den hochinformativen Fließtexten. Ebenfalls optisch auflockernd wirken eine Reihe von Bildern, die für die Themen der Kapitel passend ausgesucht sind und dem Leser einen visuellen Eindruck Bingens im 19. Jahrhundert geben. Wenn auch der Klappentext das Buch als „reich illustriert“ anpreist, so wirken die Kapitel nicht überladen mit Bildern.

Nach der Einleitung geht es in die konkrete stadtgeschichtliche Untersuchung. Auf zwei einführende Kapitel folgt die sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Analyse der Binger Gesellschaft. Den Schluss bildet ein Blick auf das Verhältnis zwischen Stadt und Staat sowie eine genauere Betrachtung der Revolution von 1848/49 in Bingen. Zunächst geht Ebeling auf die Urbanisierung Bingens (Kapitel 2) und auf die Geschichte der Stadt unter rheinhessischer Herrschaft (Kapitel 3) ein. An dieser Stelle fällt die Reihenfolge der Kapitel ins Auge, da sich inhaltlich angeboten hätte, die herrschaftlichen Verhältnisse zuerst zu klären, um dann auf die konkrete Entwicklung der Stadt einzugehen.

Nachdem also die grundsätzliche historische Entwicklung der Stadt aufgearbeitet wurde, geht Ebeling in eine präzisere gesellschaftliche Analyse. Hierbei beleuchtet er zunächst die Bevölkerungsgeschichte (Kapitel 4) sowie die ökonomischen und verkehrstechnischen Entwicklungen (Kapitel 5) und unternimmt dann eine „gesellschaftliche Momentaufnahme“ für das Jahr 1849 (Kapitel 6). Zunächst werden rein demografische Aspekte wie die Auswertung von Alters-, Heirats- sowie Geburten- und Sterblichkeitsdaten im Rahmen der Bevölkerungsgeschichte vorgenommen. Darauf folgt das umfangreichste Kapitel der Publikation, die Analyse der Wirtschaft und des Verkehrs, in dem beispielsweise auf die Entwicklung des Handwerks, aber auch auf die für Bingen wichtige Schifffahrt und den Tourismus eingegangen wird. Erst dann geht es in die „Momentaufnahme“ des Jahres 1849, die wiederum eine genaue Auswertung der Binger Gesellschaft im Hinblick auf die berufliche, familiäre und wohnliche Situation darstellt. Ebeling greift hierfür auf die Bevölkerungserhebung aus dem Jahr 1849 zurück, in der über 5.000 Personen erfasst wurden und die detaillierte Daten über die Zusammensetzung der Binger Gesellschaft bietet. Auf Grundlage dieser ist Ebeling außerdem ein Vergleich mit den nahegelegenen Städten Mainz und Worms möglich.

In den darauffolgenden Kapiteln werden verschiedene Teilaspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Stadt näher untersucht. Dazu gehören neben den religiösen Verhältnissen (Kapitel 7) auch das Schulwesen (Kapitel 8) sowie Vereine, Parteien und Stiftungen (Kapitel 9). Ersteres beleuchtet beispielsweise das Verhältnis zwischen den in Bingen deutlich stärker vertretenen Katholiken und der langsam anwachsenden protestantischen Bevölkerung, die schließlich zu einer Konsolidierung einer evangelischen Gemeinde in Bingen führte. Gleichzeitig wird aber auch die Zusammensetzung der jüdischen Gemeinde in den Blick genommen sowie von Konflikten zwischen dieser und den christlichen Religionsgemeinschaften berichtet.

An dieser Stelle ist die tiefergehende gesellschaftliche Analyse abgeschlossen. Im folgenden Kapitel 10 „Staat und Kommune“ untersucht Ebeling das Verhältnis zwischen Stadt und Staat, genauer: den „Prozess […], der Städte letztlich […] zu reinen Gebietskörperschaften […] und Stadtbürger zu Staatsbürgern werden ließ“ (S. 216). Einerseits werden hier die Städteordnungen und die politische Repräsentation Bingens betrachtet, andererseits wird beispielhaft anhand der Armenpflege der Umgang der Stadt mit sozialen Problemen beleuchtet.

Das Werk endet mit einem eigenständigen Kapitel über die Revolution von 1848/49 (Kapitel 11). Hierbei handelt es sich um eine ergänzende Darstellung des Beginns, Verlaufs und Endes der Revolution in Bingen basierend auf einem Aufsatz von Jürgen Krome, der im ersten Band der Stadtgeschichte Bingens3 veröffentlicht wurde. Die Ergänzungen stammen zum einen aus Zeitungsartikeln aus dem Binger „Volksboten“ und zum anderen aus der Magisterarbeit von Myriam Mair von 2007. Das Kapitel verbindet somit die ältere mit der neuen Forschung, bildet aber gleichzeitig einen zeitlichen Rückschritt in der Gesamtdarstellung. Zwar darf die Untersuchung eines prägenden Ereignisses wie die Revolution von 1848/49 in der stadtgeschichtlichen Darstellung nicht fehlen, doch verwundert es, dass dieses Kapitel den Schluss des Werkes bildet. Sowohl chronologisch als auch thematische hätte sich eine Platzierung in der Mitte der Publikation angeboten. Außerdem fehlt ein abschließendes Fazit, das die neuen Erkenntnisse zusammenfasst und einordnet.

Den zweiten Teil der Stadtgeschichte für die Zeit zwischen 1871 und 1918 hat Jürgen Krome übernommen. Der aus Bingen stammende Historiker geht ähnlich wie Ebeling in der Strukturierung der Kapitel vor: Er beginnt mit einem allgemeinen Teil über die Entwicklung von Städten im Kaiserreich und der Einordnung in der Forschungsstand. Anschließend wird ein Überblick über die historische Ausgangslage in Bingen zu Beginn des Kaiserreichs am Beispiel von Bevölkerung, Wirtschaft und sozialen Strukturen gegeben. Anders als Ebeling schließt Krome mit diesen beiden Anfangskapiteln die Aufarbeitung der allgemeinen historischen Entwicklungen ab und geht innerhalb der Kapitel nur noch in einem geringeren Umfang und nur, wenn es sich für das Verständnis des Lesers anbietet, auf diese ein. Krome fokussiert sich somit stärker auf die lokalen Ereignisse, während Ebeling diese vielmehr beispielhaft verwendet.

Ab dem vierten Kapitel taucht Krome vollständig in die Geschichte Bingens ein, indem er die Kommunalpolitik, inklusive Kommunalverfassung und Verwaltung sowie Steuern grundlegend untersucht, um im darauffolgenden Kapitel kommunalpolitische Schwerpunkte der Stadt („Weichenstellungen“) zu identifizieren. Dazu gehören zum einen der Kulturkampf, der in Bingen beispielsweise im Hinblick auf das Schulwesen geführt wurde. Zum anderen nennt Krome die Amtszeiten der Bürgermeister Ferdinand Allmann und Franz Neff als Zäsuren. Erstere zeichnete sich u. a. durch den Wechsel von der Landgemeinde- zur Städteordnung aus, während sich in der Amtszeit Neffs ein starker Modernisierungsschub in Bingen feststellen lässt. Krome identifiziert während Neffs Amtszeit einen Übergang von „der hausväterlichen Verwaltung […] zu einer kreditfinanzierten Investitionspolitik“ (S. 122), die notwendig für die Modernisierung der Stadt war. Diese Veränderung kann man nicht nur in Bingen, sondern in vielen deutschen Städten in dieser Zeit feststellen. Insgesamt ließe sich ein Wandel von den Kommunen als „Hoheitsträger“ zu „Leistungsträgern der Daseinsfürsorge“ (S. 98) ausmachen. In dem vollständig auf die Modernisierung der Stadt fokussierten sechsten Kapitel seziert Krome detailliert die einzelnen Maßnahmen, wie die Verkehrs- und Städteplanung, der Ausbau der Schul- und Sozialpolitik, die Erweiterung des Hafens und Rheinufers sowie die Einrichtung der Gas-, Wasser- und Elektrizitätswerke. Bingen ist zwar mehr die Regel als die Ausnahme, doch stellt dieses Kapitel eine bisher einzigartige, auf zahlreichen archivischen Quellen basierende Aufarbeitung dar. Krome bleibt aber nicht bei der bloßen Darstellung der Modernisierungsmaßnahmen, sondern untersucht ebenfalls die de facto-Verschuldung der Stadt und die ablehnenden Reaktionen der Bevölkerung darauf.

Nachdem Krome bis Kapitel sieben die Entwicklungen der Stadt selbst darstellte, geht er in den darauffolgenden Kapiteln acht und neun auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung ein. Krome kommt hierbei zu dem Ergebnis, dass Bingen durch den geringen Grad der Industrialisierung nur langsam seine Bevölkerungszahl erhöhen konnte, doch habe die Stadt im hessischen Vergleich eine schnell wachsende Wirtschaftskraft entwickelt, woran u. a. das Transportwesen, der expandierende Weinhandel und der Tourismus einen großen Anteil hatten. Dementsprechend „prosperierte“ (S. 575) Bingen, obwohl es keine nennenswerte Industrie hatte, und zeigt damit eine spannende, eigene Stadtentwicklung auf, die im Gegensatz zu den schnellwachsenden Industriestädten, wie beispielsweise im Ruhrgebiet, aber auch den ländlichen, strukturschwachen Regionen in dieser Zeit steht. Daneben untersucht Krome das gesellschaftliche Leben in der Stadt anhand des Vereinswesens, den Parteien bzw. der politischen Partizipation und des kulturellen Lebens. Unter letzterem fasst Krome u. a. Kunst und Literatur, für die er jeweils einen Repräsentanten in Form eines bekannten Sohns bzw. einer bekannten Tochter ausgewählt hat und in kurzen Biografien vorstellt. Positiv zu bemerken ist außerdem der darauffolge Abschnitt über die religiösen Gemeinschaften in Bingen und dem ausführlichen Unterkapitel über die jüdische Gemeinde. Krome wird hiermit dem vergleichsweise hohen jüdischen Anteil der Bevölkerung Bingens gerecht – zeitweise überstieg die Zahl der jüdischen Bürger den Anteil der protestantischen – und fragt nach dem Verhältnis zwischen christlichen und jüdischen Bingern, der Integration und Partizipation der jüdischen Bevölkerung, aber auch nach dem erstarkenden Antisemitismus.

Schließlich folgt eine Betrachtung der Stadt vom Ausbruch bis zum Ende des Ersten Weltkriegs sowie während der Novemberrevolution 1918. Hierbei kommen u. a. die Umstellung auf Kriegswirtschaft, die Probleme der Lebensmittelversorgung und der Einsatz von Zwangsarbeitern sowie die militärische Einnahme Bingens als Teil der Rheinlandbesetzung zur Sprache. Auffällig ist in diesem Kapitel wiederum, dass Krome auf Grundlage zahlreicher archivalischer Quellen, wie Zeitungsartikeln, Ratsprotokollen und Pfarrchroniken, die Kriegs- und unmittelbare Nachkriegszeit rekonstruiert.

Das Werk schließt mit einem Fazit, in dem Krome sowohl die wichtigsten Erkenntnisse seiner Analysen der Verwaltung, Bevölkerung und Wirtschaft zusammenfasst, als auch diese regional und überregional vergleicht. Mit dieser Vorgehensweise wird dem Leser abschließend eine historische Einordnung der städtischen Strukturen und Prozesse sowie wichtigen Ereignisse in der Stadtgeschichte Bingens zwischen 1871 und 1918 geboten.

Insgesamt sind beide Werke unterschiedlich in Aufbau, Methode und Fokus, ergänzen sich aber gerade deswegen gut. Während im ersten Teil von Dietrich Ebeling eine Einordnung der Stadtgeschichte Bingens in das „große Ganze“ erfolgt und damit die Grundlagen für die Stadtgeschichte schafft, ist es im zweiten Teil von Jürgen Krome möglich, den Fokus vollkommen auf die lokale Geschichte zu legen. So finden sich bei Krome Aspekte, die bereits Ebeling angesprochen hat, wie beispielsweise bestimmte wirtschaftliche Faktoren oder das Vereinswesen. Dementsprechend sind zwischen den beiden Bänden keine Lücken und Themen verlaufen nicht ins Leere, sondern werden wieder aufgegriffen. Beide Bände zeichnen sich außerdem durch die Auswertung und Sichtbarmachung von bisher unerschlossenen oder „übersehenen“ Quellen aus und bieten einen großen Mehrwert für die Stadtgeschichte Bingens. Zudem haben die Autoren mit ihren Werken eine Vergleichsbasis für andere Städte geschaffen.

Anmerkungen:
1 Gerd Rupprecht (Hrsg.), Vom Faustkeil bis zum Frankenschwert – Bingen. Geschichte einer Stadt am Mittelrhein, Bd. 2, Mainz 2003.
2 Helmut Mathy (Hrsg.), Bingen. Geschichte einer Stadt am Mittelrhein, Mainz 1989.
3 Jürgen Krome, Die Revolution 1848/49, in: Mathy (Hrsg.), Bingen, S. 379–449.

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