S. Goeke: "Wir sind alle Fremdarbeiter!"

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Titel
"Wir sind alle Fremdarbeiter!". Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre


Autor(en)
Goeke, Simon
Reihe
Studien zur Historischen Migrationsforschung 36
Erschienen
Paderborn 2020: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
386 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Siems, Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen

Mit dem Slogan „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ brachten linke Aktivistinnen und Aktivisten der Münchener Gruppe „Arbeitersache“ Anfang der 1970er-Jahre ihre Solidarität mit Migrantinnen und Migranten zum Ausdruck, thematisierten die gemeinsame Entfremdungserfahrung im kapitalistischen Produktionsprozess und rückten durch die bewusste Wahl eines Begriffes aus dem NS-Vokabular die Migrationspolitik der Bundesrepublik in die Nähe des nationalsozialistischen Zwangsarbeitssystems. Hierin verbinden sich der Protest von und für Migrantinnen und Migranten sowie deren Instrumentalisierung für eigene politische Zwecke. Das Zitat macht die Schnittmengen zwischen der Migrationsgeschichte, der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Geschichte der außerparlamentarischen Linken sichtbar, die Simon Goeke in seiner Dissertation untersucht. Damit ist es treffend gewählt als Titel dieser 2016 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereichten, jetzt als Buch veröffentlichten Arbeit.

Goekes ambitioniertes Projekt beleuchtet die vielfältigen Erscheinungsformen der „Proteste von und für Migrantinnen und Migranten“ (S. 13) während der 1960er- und 1970er-Jahre. Mit dieser zeitlichen Abgrenzung kommt die immer stärkere Ausländerbeschäftigung der 1960er-Jahre ebenso in den Blick wie die Verschiebung der migrationspolitischen Themen vor und nach dem Anwerbestopp. Dabei will der Autor „bewusste und unbewusste widerständige Praktiken [der Migrantinnen und Migranten] gegen bestehende ausbeuterische und diskriminierende Verhältnisse“ (S. 15) in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellen. Er versteht nicht nur die Proteste in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch die Migrationsbewegungen selbst als eine Art sozialer Bewegung. Die drei Hauptkapitel des Buches befassen sich mit Migrantinnen und Migranten in Betrieben und Gewerkschaften, mit den gewerkschaftlichen Positionen zur Migration sowie schließlich mit den Beziehungen zwischen Migrantinnen und Migranten und der außerparlamentarischen Linken.

Durch den Anspruch, nicht die staatliche oder gewerkschaftliche Migrationspolitik, sondern die Perspektiven von Migrantinnen und Migranten ins Zentrum zu stellen, muss sich die Arbeit mit einer über weite Strecken lückenhaften Überlieferung auseinandersetzen. Goeke wertet neben der aktuellen Forschung auch ältere und wenig bekannte Literatur aus; zudem trägt er Dokumente zur Geschichte teilweise kurzlebiger linker Gruppen auch aus kleineren, bewegungsnahen Archiven zusammen. Als ergänzende Quellen nennt er Interviews mit früheren Aktivistinnen und Aktivisten, die er jedoch nicht systematisch ausgewertet, sondern als Hintergrundgespräche einbezogen hat. Leider bleibt damit die konkrete Gestaltung wie auch die Bedeutung der Gespräche für die Arbeit etwas unklar.

Nach einer knappen Rekapitulation des bundesdeutschen Migrationsregimes und der Lebens- und Arbeitsverhältnisse von Migrantinnen und Migranten in der Einleitung erfasst Goeke im zweiten Kapitel eine Vielzahl sogenannter wilder Streiks, also solcher, die sich nicht an die in der Bundesrepublik etablierten Regeln für Arbeitskämpfe hielten. Besonders im Bergbau belegt er schon für die frühen 1960er-Jahre zahlreiche Arbeitsniederlegungen, die sich meist auf einzelne Zechen beschränkten und nur begrenzte Aufmerksamkeit erfuhren. Speziell für das Frühjahr 1962 spricht der Autor gar von einer „kleinen Streikwelle“ (S. 70), wobei offen bleibt, ob den lokalen Initiatoren die anderen Aktionen bekannt waren. Trotz der oftmals dünnen Überlieferung widerlegen diese frühen Auseinandersetzungen die Annahme, Migrantinnen und Migranten hätten erst im Zuge ihrer dauerhaften Niederlassung in der Bundesrepublik begonnen, auf eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse hinzuwirken.

Ferner setzt sich Goeke mit verbreiteten zeitgenössischen Interpretationen auseinander, denen zufolge diese Auseinandersetzungen vor allem Resultate von Missverständnissen, „südländischem Temperament“ oder kommunistischer Unterwanderung gewesen seien. Derartige Abwertung hätten die Arbeitskämpfe ausländischer Frauen noch in besonderem Maße erfahren. Die Streiks ausländischer Arbeiterinnen, sowohl in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie als auch etwa bei Automobilzulieferern (S. 88– 93), werden explizit aufgegriffen. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Migrantinnen erhalten eine eigene Passage (Kap. 2.1.2), wodurch der Zuschnitt des Kapitels angemessen intersektional ausfällt. Auch ungeachtet des Geschlechts hätten Goeke zufolge Gewerkschaften und Betriebsräte Forderungen oft schon deshalb als ungerechtfertigt verworfen, weil sie von Migrantinnen oder Migranten vorgetragen wurden. Da andererseits die Arbeitgeber auf die bereitwillige Unterstützung von Polizei und Justiz setzen konnten, stünden zahlreichen Entlassungen und Abschiebungen infolge vor allem der frühen Auseinandersetzungen nur wenige positive Resultate gegenüber.

Am Beispiel des Streiks italienischer Arbeiter im Wolfsburger Volkswagenwerk 1962 vermag Goeke jedoch zu belegen, dass auch ein kurzfristig erfolgloser Arbeitskampf Anstoß zu längerfristigem Wandel geben konnte. So habe die für die Unternehmensführung, den Betriebsrat und die IG Metall überraschende Auseinandersetzung dazu beigetragen, dass die Werksleitung ihre Blockade der Gewerkschaftsarbeit aufgab und die IG Metall ihrerseits das Werben um italienische Mitglieder intensivierte. Der Streik sei somit „zu einem Motor des sozialen Wandels und der betrieblichen Mitbestimmung“ geworden (S. 87). Ähnlich nachhaltige Wirkungen attestiert Goeke auch den Arbeitskämpfen der Jahre 1970/73 beim Automobilzulieferer Pierburg in Neuss sowie 1973 im Kölner Ford-Werk, denen er jeweils ein Unterkapitel widmet. In der detaillierten Darstellung dieser von Migrantinnen und Migranten getragenen Streiks löst der Autor seinen Anspruch ein, deren widerständige Praktiken in den Mittelpunkt zu stellen, zeigt aber gleichzeitig die Relevanz der Unterstützung durch Gewerkschaften und Linke für deren Erfolge und macht die Spannungen zwischen diesen Akteursgruppen sichtbar. Gerade die Streiks in Neuss gegen die diskriminierende Entlohnung ausländischer Arbeiterinnen öffnen darüber hinaus den Blick auf den intersektionalen Charakter der Auseinandersetzungen.

Anhand von biografischen Beispielen und Konferenzprotokollen stellt Goeke noch im selben Kapitel die gewerkschaftliche Integration von Migrantinnen und Migranten dar, die sich parallel zu den Arbeitskämpfen vollzog. Dieser Teil der Arbeit (Kap. 2.4, rund 15 Seiten) hätte durchaus mehr Raum verdient, insbesondere weil das folgende dritte Kapitel, „Die Gewerkschaften und die ‚multinationale Arbeiterklasse‘“, seine herausgehobene Stellung nicht rechtfertigen kann. Dort referiert der Autor auf immerhin 100 Seiten vorrangig allgemeine Gewerkschaftsgeschichte und die Positionen der Gewerkschaften zur bundesdeutschen Migrationspolitik; er schildert dabei das Spannungsverhältnis zwischen internationalistischem Anspruch und protektionistischer Praxis. Das Kapitel stützt sich auf die Studien zu Goekes 2007 verfasster Magisterarbeit, wie er bereits in der Einleitung offenlegt.1 Hier wäre eine knappere, stärker auf die Migrantinnen und Migranten fokussierte Darstellung wünschenswert gewesen, denn durch den vollzogenen Perspektivwechsel wirkt dieser Teil der Dissertation wie ein Fremdkörper. Zu vage bleibt darin, ob und wie die zuvor geschilderten betrieblichen Proteste von Migrantinnen und Migranten die Haltung der Gewerkschaften beeinflussen konnten. Die inhaltliche Verzahnung der ersten beiden Hauptkapitel kommt deutlich zu kurz, wodurch es Goeke in diesem Themenbereich kaum gelingt, der einige Jahre älteren Dissertation Oliver Tredes Wesentliches hinzuzufügen.2 Der Verfasser selbst erklärt in der Einleitung, dass sich seine Ergebnisse zwar mit denen Tredes deckten, er jedoch die Migrantinnen und Migranten stärker als handelnde Subjekte einbeziehen wolle (S. 26). Ebendiesem Anspruch wird er über weite Strecken nicht gerecht. Wenn zu Beginn dieses Kapitels (Kap. 3.1.1, vor allem S. 148–150) die Positionen einzelner Gewerkschaften und die Machtverhältnisse innerhalb des DGB geschildert werden, zeigt sich umso mehr, dass dieser Teil früher und knapper in der Einleitung hätte Platz finden sollen. Denn gerade Leserinnen und Leser, denen etwa die IG CPK (Chemie – Papier – Keramik) und die IGBE (Bergbau und Energie) kein Begriff sind, mussten seit deren erstem Auftauchen im vorherigen Kapitel gute 75 Seiten auf eine Erklärung warten.

Erfreulicherweise nimmt der Autor im letzten der drei Hauptkapitel wieder konsequent die Proteste von und für Migrantinnen und Migranten in den Blick. Hier kann Goeke zeigen, dass sich der internationalistische Anspruch linker Gruppen in den 1960er- und 1970er-Jahren nicht in abstrakten Solidaritätsbekundungen erschöpfte. Vielmehr hätten gerade in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre Studierende etwa aus Iran, Lateinamerika und afrikanischen Staaten Proteste initiiert, die „die Wende der Studentenbewegung vom ‚Seminarmarxismus‘ zur antiautoritären Revolte“ (S. 255) mit eingeleitet hätten. Ein Teilkapitel zur „Exilpolitik“ zeigt, wie spanische und griechische Migrantinnen und Migranten ihren Aufenthalt in der Bundesrepublik für den Kampf gegen die Diktaturen in ihren Herkunftsländern nutzen konnten. Hier wird die eingangs dargelegte Prämisse, die Migrationsbewegungen selbst als eine Art politischer Bewegung zu verstehen, auf der Mikroebene exemplifiziert. Besonders detailliert und gelungen aus einer Vielzahl von Quellenfunden rekonstruiert sind die Teilkapitel zu West-Berliner „Basisgruppen“ und der Münchner „Arbeitersache“, linken Gruppen, die den Brückenschlag zwischen Studierenden einerseits, Arbeiterinnen und Arbeitern andererseits zu vollziehen suchten. Getreu seinem Vorhaben, Migrantinnen und Migranten in den Fokus zu nehmen, widmet Goeke die letzten Teilkapitel schließlich deren „Selbstorganisation“ etwa in Vereinen, Mieterstreiks und Ausländerbeiräten. Der Exkurs zu Bahnhöfen als nichtintendierten Orten migrantischer Selbstorganisation zeigt dabei auch die Bedeutung unbewusst widerständiger Praktiken und macht damit die Grenzen eines Verständnisses der Migration als sozialer Bewegung deutlich.

Ungeachtet der besagten Schwächen im Mittelteil bringt Simon Goeke mit seiner Vernetzung von Geschichten der Migration, der Arbeiterbewegung und der außerparlamentarischen Linken zusammen, was zusammen gehört. In der Vielzahl separater, aber verbundener Themen gelingt es ihm, Protest- und Widerstandsformen von Migrantinnen und Migranten sichtbar zu machen, ohne der Gefahr einer Heroisierung zu erliegen. Trotz des lückenhaften Quellenbestandes verliert sich die Arbeit dabei nicht im Allgemeinen, sondern verknüpft gekonnt Mikro- und Makroebene. Angesichts ihres ambitionierten Zuschnitts und ihrer inhaltlichen Breite ist Goekes Studie eine Rezeption auch außerhalb der beteiligten Disziplinen zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Offen bleibt, wie eng das Kapitel an die Magisterarbeit angelehnt ist, da sie anscheinend nicht veröffentlicht wurde; Goeke jedenfalls verweist an dieser Stelle (S. 26, Anm. 53) wohl versehentlich auf eine Publikation eines anderen Verfassers.
2 Oliver Trede, Zwischen Misstrauen, Regulation und Integration. Gewerkschaften und Arbeitsmigration in der Bundesrepublik und in Großbritannien in den 1960er und 70er Jahren, Paderborn 2015. Dieses Buch ist ebenfalls in der Reihe „Studien zur Historischen Migrationsforschung“ erschienen.