Die Geburt des christlichen Glaubens aus dem Judentum verlief nicht ohne Komplikationen. Das Verhältnis von Altem und Neuem Bund, von Synagoge und Kirche erwies sich als diffizil; konfliktbeladen blieb es bis heute. Kaum eine andere Figur des Neuen Testaments verkörpert diesen Konflikt so eindringlich wie Maria, die jüdische Mutter Jesu. Als „mediatrix“ steht sie nämlich nicht nur zwischen Christus und seiner Kirche, sondern auch zwischen altem und neuem Israel. In ihr erfüllt sich gewissermaßen die „familia Judaeorum“. So jedenfalls deuten es die um 1300 entstandenen Rothschild-Canticles, die Maria als Rose aus jüdischen Dornen zeigen.
Daß eine solche Deutung keine Ausnahme war, hat man bislang nur erahnen können. Nach der Lektüre dieses Sammelbandes weiß man es besser und genauer. Natürlich ist die mittelalterliche Marginalisierung des Judentums zur Zeit des „Schwarzen Todes“ hinlänglich bekannt. Und bekannt ist auch, wie die scheinbar harmlos-asketische Bußfrömmigkeit der Zeit in antijüdische Agitation umschlagen konnte 1. Weniger bekannt hingegen war bislang der Umstand, daß kirchliche Judenfeindschaft oftmals mit einer florierenden Marienverehrung verbunden war, und zwar in theologischer, sozialer und mentaler Hinsicht 2. Überraschen darf dieser Zusammenhang freilich niemanden. Seit der Approbation des Titels „Theokotos“ (Gottesgebärerin) durch das Konzil von Ephesus 431 entwickelte sich mit der Mariologie nämlich ein Schauplatz heftiger theologischer, mithin auch antijüdischer Gefechte. Nicht von ungefähr wurde Maria, die Galionsfigur katholischen Glaubens, in der Folge als verläßliche Vorkämpferin gegen Häretiker und Ungläubige, als Überwinderin des Judentums verehrt.
Während die katholische Theologie dieses heikle Thema bislang sträflich vernachlässigt hat 3, betont dieser Sammelband nachdrücklich die Bedeutung des marianischen Antijudaismus. Anknüpfend an die wegweisenden Arbeiten Heinz Schreckenbergs 4, vereint er theologische und historische, literaturwissenschaftliche, kunst- und architekturgeschichtliche Fallstudien zu einem facettenreichen Gesamtbild. Nicht nur im Mittelalter wurde es von jener Opposition zwischen marianisch gedeuteter Kirche und blinder Synagoge geprägt, die Matthias Theodor Kloft kenntnisreich darstellt. Daß dieser Gegensatz von „synagoga“ und „ecclesia“ seine eigene, durchaus verschlungene Geschichte hat, weist Rainer Kampling nach: Die Kirchenväter wußten um die Jüdischkeit Marias, bei Tertullian und Hieronymus erscheint Maria folgerichtig als ungläubige Synagoge. Auch wenn das „Opus inperfectum in Matthaeum“ eines arianischen Theologen dieses Motiv in eine „synagoga credens“ umdeutete und Ambrosius von Mailand schließlich die Gottesmutter als Typus der Kirche interpretierte, sorgte die Jüdin Maria so für erhebliche exegetische Irritationen. Überzeugend deutet Kampling sie als verdeckten antijüdischen Reflex.
Einen auslegungsgeschichtlichen Akzent trägt auch der Aufsatz von Johannes Heil, der verschiedene Interpretationen von Lk 2, 34-35 („ ... und es wird ein Schwert durch deine Seele dringen“) vorstellt. Gerade weil dieser Satz, im Unterschied etwa zum sogenannten Blutruf der Juden in Mt 27, 25 5, nicht zu den Schlüsselstellen theologischen Antijudaismus’ zählt, gelingt Heil ein wichtiger Beitrag zur Genese und Tradition verdeckter, potentiell antijüdischer Deutungsmuster. Indem er den „Prozeß fortschreitender Detextualisierung“ (51) rekonstruiert, wird überdies jene Tendenz zur De-Judaisierung Marias erkennbar, die für die gesamte Mariologie von entscheidender Bedeutung war.
Am sichtbarsten tritt der Gegensatz von „synagoga“ und „ecclesia“ freilich in der Baugeschichte zu tage. Zu recht versteht Wolfgang Glüber den Zusammenhang zwischen Synagogenzerstörungen und Marienkirchbauten im spätmittelalterlichen Deutschland als bewußt inszenierten Triumph der Kirche – und ihrer Beschützerin, der Gottesmutter. Der Frage, wie aus dem heilsgeschichtlichen Dualismus von Synagoge und Kirche eine todbringende Antithese entstehen konnte, geht auch der Beitrag von Winfried Frey nach. Während die Rolle von Juden in mittelalterlichen Volksschauspielen mittlerweile gut erforscht ist 6, betritt Frey mit seiner Analyse der Rolle Marias im Frankfurter und Donaueschinger Passionsspiel neues Terrain. Trotz alles philologischen Tiefgangs bleiben die antijüdischen Züge der Marienfigur indes verschwommen. Daß Maria bei allen antijüdischen Ausfällen „immer mitgedacht und mitbedacht“ (147) sei, ist durch den Text kaum nachweisbar. Mit seinem Hinweis auf den vehement antijüdischen Hirtenbrief des Freiburger Erzbischofs Conrad Gröber vom 8. Februar 1941 leitet Frey sodann zum nationalsozialistischen Marienbild über. Dessen Konturen werden in Franz-Josef Bäumers Beitrag ansatzweise erkennbar. Anhand ausgewählter Predigten, Andachts- und Gebetbücher deckt Bäumer nationalsozialistische Instrumentalisierungen Marias auf („Maria als Vorbild für die Liebe zu Volk und Vaterland“, 251), die jedoch kaum antijüdische Züge tragen.
Einen ähnlichen Befund liefert Viktoria Pollmanns kundiger Beitrag zu Marienkult und Judenfeindschaft in Polen. Gerade in der Zeit der polnischen Teilungen ließ sich die Gottesmutter, seit 1656 formell als „Königin Polens“ verehrt, gegen mutmaßliche Feinde der polnischen Nation instrumentalisieren. Nicht von ungefähr etablierte sich das Paulinerkloster Jasna Góra, in dem die berühmte Schwarze Muttergottes verehrt wurde, zur nationalen Weihestätte. Dieses nationalreligiöse Marienbild wurde insbesondere durch die militant katholische Presse der Zwischenkriegszeit popularisiert – wobei sich diese Medien bei ihren antijüdischen Ausfällen freilich lieber auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ als auf die Gottesmutter beriefen.
Sehr präsent ist die Mutter Gottes hingegen in Annette Webers glänzender Untersuchung zur Bedeutung und Verbreitung antijüdischer Mariendarstellungen 7. Ebenso wie durch spätmittelalterliche Predigtwerke, denen der instruktive Beitrag von Hans-Martin Kirn nachgeht, wurden auch durch die großformatigen Glasfenster mittelalterlicher Kathedralen judenfeindliche Klischees verbreitet. Weil Annette Weber die Bedingungen und Funktionsweisen dieser Popularisierung exakt herausarbeitet, kann sie die Judenbilder als Chiffren des Unglaubens interpretieren, die mitunter weniger zeitgenössische Juden meinten, sondern Abtrünnige in der eigenen Kirche. Ihrer Einschätzung nach dienten viele antijüdische Mariendarstellungen daher „nicht so sehr der Schürung des Judenhasses per se als vielmehr [...] als didaktisches Mittel zur Vermittlung komplexer Glaubensinhalte“ (82) – ein Befund, der sich mit Johannes Heils hilfreichem Begriff der „virtuellen Juden“ (56) deckt.
So anregend Annette Webers Studie ist, so irritierend wirkt Michaela Haibls Beitrag zum antijüdischen Gehalt nazarenischer Malerei. Auch hier geht es um Chiffren des Antijüdischen. Deutlich zu erkennen sind sie allerdings kaum. Tatsächlich ist es Haibl denn auch darum zu tun, „antijüdischen Haltungen in der christlichen Kunst nachzugehen, die sich visuell äußern, ohne daß das ,Jüdische’ in den Facetten bekannter Stereotypen tatsächlich dargestellt wird“ (188). Was hier theoretisch anspruchsvoll klingt, erweist sich in der Praxis als ausgesprochen problematisch. Das gilt schon für Haibls Prämisse, derzufolge die „enge Verknüpfung von Kunst, Leben und christlicher Religion“ dazu berechtige, „den visuell nicht an phänotypischen Zeichen auszumachenden Antijudaismus in den Werken der Nazarener, besonders Overbecks, ex negativo vorauszusetzen“ (195). Von einer solchen Berechtigung kann nun allerdings keine Rede sein – trotz Haibls Hinweise auf Schlegels Kunstphilosophie und eine vermeintlich „christlich-völkische Haltung“ der Nazarener, die freilich mit Ernst Moritz Arndt und der Christlich-deutschen Tischgesellschaft belegt wird. Daß das nazarenische Frauenbild dem raffaelitischen Schönheitsideal folgt, sagt über antijüdische Implikationen nichts aus. Und die bewußte „Exklusion des Nicht-Schönen“ (193) beweist umso weniger, als die ästhetisierende „Staffage antikisierter Zeitlosigkeit“ (188) nicht nur Jüdisches, sondern auch Römisches und Christliches enthistorisiert. Daß sich die Nazarener nicht für die jüdische Wurzel des Christentums interessieren, mag man bedauern. Einen antijüdischen Strick kann man ihnen daraus nicht ohne weiteres drehen.
Gerade hier wäre jene Vorsicht vonnöten gewesen, die den Sammelband sonst auszeichnet. Voreilig generalisierende Schlüsse werden nirgendwo gezogen. Und das ist gut so. Denn nicht nur die Nazarener verhalten sich ja dem Judentum gegenüber indifferent. Auch in der ikonographischen Tradition treten, Annette Weber zufolge, antijüdische Marienlegenden vergleichsweise selten auf. Matthias Theodor Kloft nimmt in der hochmittelalterlichen Mariologie „keine ausgesprochen antijüdischen Ausfälle“ (59) wahr. Lk 2, 34-35 spielt für den antijüdisch-theologischen Diskurs keine entscheidende Rolle. Für die Judenfeindschaft der katholischen Presse Polens war das marianische Argument nicht zentral. Das Marienbild im Nationalsozialismus instrumentalisierte die Gottesmutter, war aber nur selten antijüdisch grundiert. Solche Befunde nehmen der Fragestellung dieses Bandes nichts von ihrer Brisanz. Aber sie zwingen zu einem sehr behutsamen Vorgehen, zu indirekten Schlüssen, zur schwierigen Suche nach einem Antijudaismus „ex negativo“.
Insgesamt haben die Herausgeber einen wichtigen und anregenden Band vorgelegt, bei dessen Lektüre man das mediävistische Übergewicht gerne in Kauf nimmt. Freilich: Ein eigener Beitrag zum 19. Jahrhundert wäre um so wünschenswerter gewesen, als sich gerade in dieser Epoche nicht nur die Marienverehrung (Marienerscheinungen und –wallfahrten), sondern auch die Judenfeindschaft qualitativ und quantitativ neu formierten. Zu fragen bleibt schließlich, inwieweit die Grundspannung zwischen Altem und Neuem Bund theologisch überhaupt aufhebbar ist. Antijudaismus, so Rainer Kampling, erwachse „aus der Nähe von Christentum und Judentum, die christlicherseits durch Abgrenzung zur Bestimmung der eigenen Identität überwunden wurde“ (10). Wie diese offenkundig irreversible Abgrenzung zu relativieren ist, ohne die Gültigkeit des neuen Bundes in Zweifel zu ziehen, dürfte nicht nur die katholische Theologie vor erhebliche Probleme stellen. Daß die Rede gegen Menschen nie Rede von Gott sein könne, ist dabei eine Erkenntnis, die jenseits des Wissenschaftlichen liegt. Wichtig ist sie allemal.
Anmerkungen:
1 Vgl. František Graus, Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1987.
2 Erste Hinweise bei Hedwig Röckelein: Marienverehrung und Judenfeindlichkeit im Mittelalter und früher Neuzeit, in: Claudia Opitz, Hedwig Röckelein u.a. (Hg.): Maria in der Welt. Marienverehrung im Kontext der Sozialgeschichte 10.-18. Jahrhundert, Zürich 1993, S. 279-307.
3 Entsprechende Hinweise sucht man vergeblich bei Remigius Bäumer/Leo Scheffczyk (Hg.): Marienlexikon. Bd. 1-6. St. Ottilien 1988-1994.
4 Heinz Schreckenberg: Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.-11.Jh.), 3. Aufl., Frankfurt/M. 1995; ders.: Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (11.-13. Jh.). Mit einer Ikonographie des Judentums bis zum 4. Laterankonzil, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1997; ders.: Die christlichen Adversus-Judaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (13.-20. Jh.), Frankfurt/M. 1994; ders.: Christliche Adversus-Judaeos-Bilder. Das Alte und Neue Testament im Spiegel der christlichen Kunst, Frankfurt/M. 1999.
5 Dazu Rainer Kampling: Das Blut Christi und die Juden. Mt. 27, 25 bei den Lateinsprachigen christlichen Autoren bis zu Leo dem Großen, Münster 1983.
6 Vgl. Edith Wenzel: „Do worden die Judden alle geschant“. Rolle und Funktion der Juden in spätmittelalterlichen Spielen, München 1992.
7 Vgl. hierzu Klaus Schreiner: Antijudaismus in Marienbildern des späten Mittelalters, in: Das Medium Bild in historischen Ausstellungen zur Sektion 6 des 41. Deutschen Historikertages in München 1996, Augsburg 1998, S. 9-34.]