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Titel
Geschichte der Schweizer Armee. Vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart


Autor(en)
Jaun, Rudolf
Erschienen
Anzahl Seiten
548 S.
Preis
CHF 54.90; € 68,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Michael Epkenhans, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Universität Potsdam

Fragt man Menschen außerhalb der Schweiz nach der Schweizer Armee, dann fallen diesen allenfalls die Schweizer Gardisten ein, die heute noch den Papst bewachen, oder jene gelegentlich in den Gazetten abgebildeten Milizionäre, die auf einem Fahrrad und mit einem Karabiner auf dem Rücken irgendwo in den Bergen zu einer Übung radeln. Da die Schweizer Armee außerhalb ihrer Grenzen nicht präsent ist, anders als viele andere europäische Armeen, und die Schweizer aus ihren Truppen nach außen nicht allzu viel Aufhebens machen, ist dies nicht verwunderlich.

Rudolf Jaun, emeritierter Ordinarius für neue Geschichte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und langjähriger leitender Historiker an der Militärakademie hat nun den Versuch unternommen, unser, vermutlich aber auch das Wissen der Schweizer über diese weitgehend unbekannte Armee in einem voluminösen und reich bebilderten Buch zu vergrößern. Dieser Versuch ist, dies soll gleich zu Beginn gesagt werden, geglückt.

In zehn großen Kapiteln beschreibt er die „longue durée“, wie er es nennt, der Entwicklung der schweizerischen Staatsbürger-Armee. Diese ordnet er ein in die Entwicklung der Streitkräfte in Europa seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert. Der militärische Wandel mit all seinen Facetten und Problemen ist der Leitfaden, der die Darstellung durchzieht.

Jaun beginnt mit der Miliz der Alten Eidgenossenschaft, die sich spätestens in den Kriegen gegen Napoleon am Ende des 18. Jahrhundert überlebt hatte. Er beschreibt dann den Weg zur nationalen Armee, dessen wichtigste Wegmarke der einzige innerschweizerische Krieg, der Sonderbundskrieg von 1847, ist, um anschließend die „Gefechtsfeld-, Technik- und Erziehungsrevolution“ im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu analysieren. Eine besondere Herausforderung für die Schweizer Armee war zweifellos der Erste Weltkrieg. Obwohl sie an diesem nicht teilnahm, machte sie doch mobil, sorgte für Ordnung und bewahrte die Schweiz am Ende vor revolutionären Wirren bei Ausbruch des Landesgeneralstreiks im November 1918. Weitaus herausfordernder waren dann jedoch die Zwischenkriegsjahre und die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Wie, so die Frage, sollte sich die Schweiz verhalten, wenn sie gegen ihren Willen in den großen europäischen Konflikt mithineingezogen werden würde? Aber auch die Zeit des Kalten Krieges war eine Herausforderung. Wie sollte sich die Schweiz, die die Neutralität als Teil ihrer Gene betrachtete, sich im Falle eines nun nuklearen Konflikts verhalten? Vielfältige Diskurse innerhalb und außerhalb des Militärs wirkten nun auf die Streitkräfte ein. Am Ende blieb der Test, was geschehen würde, wenn es zum Konflikt käme, aus. Wie alle anderen Armeen und Gesellschaften mussten sich die Schweizer Bürger und ihre Soldaten mit der Zukunft auseinandersetzen. Geblieben sind, so Kapitel 10, drei „Baustellen“: Dazu gehören zunächst der Verteidigungsbegriff, das heißt der Streit um den Verfassungsauftrag der Schweizer Armee. Damit untrennbar verknüpft ist die Baustelle „Rüstungsfinanzierung“. Wie sollen die notwendigen neuen Rüstungsvorhaben finanziert werden? Kaum weniger bedeutsam ist schließlich die „Baustelle“ Bestandsentwicklung, das heißt die Entwicklung vom „Überbestand zum Unterbestand“.

Der Autor beschreibt diese Entwicklungen mit viel Gespür für das militärische Handwerk, Fragen von Strategie und Taktik, Führung und Ausrüstung. Es ist schon spannend zu lesen, wie aus den ehemaligen „Bauernhaufen“, die sich schon früh erfolgreich gegen ihre habsburgischen Landesherren zu wehren wussten, am Ende eine Milizarmee wurde, die in der Lage war, ihrer Aufgabe, die Schweiz zu schützen, gerecht zu werden, falls einer der großen Nachbarn glaubte, die Schweiz als Aufmarschgebiet nutzen zu wollen. Dass dies nicht einfach war, zeigten die großen europäischen Krisen 1870, 1914 und 1939. Spätestens dann traten die eigenen Defizite und Missstände offen zu Tage. Ausrüstung und Ausbildung, aber auch die eigenen Planungen erwiesen sich als unzureichend. Zumindest bis 1870 waren dafür die Kantone verantwortlich, die sich weigerten, zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen. Aus der Rückschau mutet es kurios an, dass nach 1870 einige Offiziere glaubten, die preußisch-deutsche Militärsozialisation übernehmen zu müssen, um die Armee schlagkräftig zu machen. Dahinter verbarg sich ein „alter“ Streit über das Konzept des Staatsbürgersoldaten auf der einen, des auf militärische Expertise und die Notwendigkeit einer gesellschafts- und geschichtsrelevanten „Kriegstauglichkeit“ auf der anderen Seite. Marxistische Konzeptionen über eine Volksbewaffnung gegen die bürgerliche Armee und vom Burenkrieg neu belebte Vorstellungen über den Widerstand des ganzen Volkes rundeten die Vorstellungen über den Krieg der Zukunft ab. Am Ende ging, das zeigte der Erste Weltkrieg, an der Bedeutung militärischer Expertise kein Weg vorbei, auch wenn deren Einfluss auf die praktische Ausbildung und die Ausrüstung der Truppe immer wieder großen Zerreißproben ausgesetzt war. Der Zweite Weltkrieg offenbarte dann die Dilemmata der Schweizer Armee. So groß der Wille war, sich im Zweiten Weltkrieg zu wehren, so gering waren angesichts mangelnder Ausrüstung die Erfolgschancen. Was blieb, war die Entscheidung, sich aufs Reduit zurückzuziehen, um einmarschierenden Truppen Widerstand zu leisten. Die Angst vor der Wehrmacht bzw. italienischen Truppen war dabei genauso groß wie am Ende die Sorge, dass die Rote Armee an der Schweizer Grenze stehen könnte.

Diese Angst bestimmte auch die Zeit des Kalten Krieges. Die Beschaffung moderner Kampfflugzeuge und Panzer machte deutlich, dass die Schweiz gewillt war, ihre Existenz zu verteidigen. Die Debatten darüber zeigen aber ebenso, dass Rüstung und Verteidigung in der neutralen Schweiz immer stärker Teil innenpolitischer Auseinandersetzungen und dementsprechend immer schwerer durchzusetzen waren. An dieser Konstellation sollte sich auch nach 1989 wenig ändern. Die Debatten über Ausrüstung und Strategie oder über die Frage, braucht die Schweiz noch eine Armee, kennzeichneten die Debatten dieser Zeit. Darunter litt auch das Konzept des Staatsbürgersoldaten. Die neue Zivildienstgesetzgebung, die die bisherige Gewissensprüfung abschaffte „untergrub“, so die Sicht der Armee, die Bereitschaft, zur Armee zu gehen. Dieses Dilemma zu überwinden, ist ihr bisher jedoch nicht gelungen.

Jauns Buch zeichnet all diese Entwicklungen nach. Wer die innerschweizerischen Diskurse nicht kennt, hat am Ende sicherlich viel dazu gelernt über eine Armee, die vielen unbekannt ist, deren Probleme bei Ausrüstung und Ausbildung, sowie deren Selbstverständnis im Wandel der Jahrhunderte. Allein deshalb lohnt sich die Lektüre.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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