Cover
Titel
Besuche in der alten Heimat. Einladungsprogramme für ehemals Verfolgte des Nationalsozialismus in München, Frankfurt am Main und Berlin


Autor(en)
Nikou, Lina
Reihe
Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne
Erschienen
Berlin 2020: Neofelis Verlag
Anzahl Seiten
468 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jenny Hestermann, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam

Besuchsprogramme deutscher Städte waren ein Teil der bundesrepublikanischen Bemühungen, nach dem Zweiten Weltkrieg Kontakte zu ehemaligen jüdischen Bürgern aufzunehmen. Leitendes Motiv war dabei vor allem eine Imageverbesserung gegenüber dem Ausland, also eine Art Marketing für die junge Demokratie, die sich als von ihren nationalsozialistischen Irrungen erfolgreich gelöst präsentieren wollte. Lina Nikou zeigt in ihrer Hamburger Dissertation, wie die Schritte der städtischen Funktionäre für dieses Ziel einhergingen mit den Besuchsinteressen mancher Emigranten. Folgt man der Argumentation der vielzähligen Quellen, meist Briefwechsel zwischen den Interessenten und der jeweiligen Stadtverwaltung, waren es zu Beginn die jüdischen Emigranten, die auf eine Einladung drängten, und die Städte, die sich in unterschiedlichem Maße darauf einließen. Diese Unterschiede zwischen den drei größten und aktivsten Städten (West-)Berlin, Frankfurt am Main und München vergleichend herauszuarbeiten ist das Ziel des Buches.1 Nikou begründet die Auswahl damit, dass diese „drei Städte […] in der alten Bundesrepublik Zentren jüdischen Lebens waren“ (S. 15). Die Stadt Hamburg hatte sie bereits in ihrer ebenfalls publizierten Magisterarbeit untersucht.2

Nach der Einleitung und einer „Vorgeschichte der Kontakte“ folgt ein ausführliches Kapitel über die „Verhandlung von Zugehörigkeiten“ – ein Begriff, den die Autorin, im Anschluss an Dan Diner, statt der sonst häufig verwendeten „Identität“ wählt. Die Schilderung der „Städtekonkurrenz“, der „Gruppenreisen in Berlin seit den 1970er Jahren“ und der touristischen „Beziehungsgeschichten“ sowie ein „Vergleich der Einladungsinitiativen im Erinnerungsboom seit den 1980er Jahren“ bilden weitere Teile der überwiegend chronologisch strukturierten Arbeit, deren Zeitraum sich von den 1960er- bis in die 1990er-Jahre der bundesrepublikanischen Geschichte erstreckt. Der Schwerpunkt liegt einerseits auf der frühen Zeit, andererseits auf dem – allgemein erinnerungspolitisch bedingten – Wandel in den 1980er-Jahren. Die Stadt Berlin hat dabei eine Sonderrolle inne, da sich hier die geschichts- und erinnerungspolitischen Debatten in ganz eigener Weise konzentrierten. Nach dem Fall der Mauer und dem deutsch-deutschen Vereinigungsprozess, ein Zeitraum, den die Autorin nur zum Schluss noch einbezieht, sei „dem sogenannten Emigrantenprogramm in der immer größer und diverser werdenden Erinnerungslandschaft weniger Bedeutung“ zugekommen (S. 428).

Das wichtigste Charakteristikum der frühen Phase war, dass die Städte finanzielle Verpflichtungen für die Einladungen der Emigranten (bzw. jüdischen Vertriebenen) soweit wie möglich vermeiden wollten. Sie trugen die Aufenthalts-, nicht jedoch die Reisekosten, was zu einem direkten Ausschluss weniger gut betuchter Interessenten führte und Anlass für viele Beschwerdebriefe war. Da die meisten Gäste aus Israel oder den Vereinigten Staaten anreisen wollten, stellten die Kosten für viele eine Hürde dar. Die Arbeit basiert stark auf solchen Briefen und anderen Quellen, ergänzt durch 16 lebensgeschichtliche Interviews mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, die die Autorin zwischen 2012 und 2014 geführt hat. Die aufwendige Recherche in den Stadt- und Landesarchiven ist auf jeder Seite zu merken und löblich hervorzuheben. Durch die teils recht lange Darstellung einzelner Briefwechsel und die hohe Anzahl von Zitaten gerät die einordnende Analyse aber streckenweise in den Hintergrund: So ist ob der vielen individuellen Biographien und der handelnden Stadtfunktionäre nicht durchgehend klar, an welchem roten Faden sich die Studie orientiert.

Nikous Grundthese lautet: Die Sehnsucht der Emigrierten nach ihrer alten Heimat und nach Anerkennung ihres Leides ging einher mit dem Streben der Städte nach Rehabilitierung und Imageverbesserung im westlichen Ausland. Journalisten und Funktionäre der Programme betonten das Gefühl der „Verbundenheit mit der alten Heimat“ und den „Versuch, menschlich wiedergutzumachen“ (S. 95, mit Verweis auf die Broschüre „Heimweh nach München. Das Schicksal der emigrierten jüdischen Bürger Münchens“, 1965).

Während München mit den Einladungen den aktuellen Antisemitismus überspielen wollte, waren in Frankfurt die langjährige Geschichte der Juden am Main und die Kontakte des Stadtarchivs zu Emigranten die Basis für die Einladungen. Was zunächst symbolisch gemeint war, entwickelte sich hier zu einer öffentlichkeitswirksamen Initiative. Die Kontakte seien zustande gekommen, weil „beide Seiten Interesse an der gemeinsamen Geschichte signalisierten“ (zit. auf S. 199) – ein Allgemeinplatz der Stadt Frankfurt, deren Naivität aus heutiger Sicht markant ist.

Nikou schildert weiterhin, welche Gratwanderung es für die Verantwortlichen bedeutete, einerseits offen Werbung für die Besuche zu machen, andererseits sich nicht allzu offen gegen die zu diesem Zeitpunkt überwiegende Politik der Bundesregierung zu richten sowie möglichst Distanz zum Staat Israel zu wahren, wie es insbesondere die Stadt München tat (S. 98). Denn Israel galt, wenn auch nicht rundum gerechtfertigt, stets als Repräsentant des jüdischen Volkes. München sah sich vornehmlich als Musterschüler der „Vergangenheitsbewältigung“. „Keine deutsche Stadt [habe] so umfassend, so systematisch, so konsequent – und vor allem: so aufrichtig sich bemüht, die Schulden und Schatten der Vergangenheit abzutragen“, zitiert die Autorin den Publizisten Hans Lamm (S. 100f., Zitat von 1966), der 1945 aus dem US-amerikanischen Exil in seine Heimatstadt München zurückgekehrt war und von 1970 bis 1985 als Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern amtierte. Dem eindrücklichen, auch zeitgebundenen Pathos solcher Zitate hätte etwas mehr Interpretation der Motive der Scham und der Vergebung in diesem Kontext sowie auch der konkreten Stellung Münchens in der bundesrepublikanischen Politik noch weitere Erkenntnisse hinzugefügt.

Nikou zieht das Fazit, dass die Besuchsprogramme überwiegend freudig angenommen wurden. Das Streben vieler Emigranten nach einer Einladung in ihre früheren Heimatstädte gelang, indem sie auf frühere Berufe und noch bestehende Kontakte verwiesen (S. 120). Dabei war es für viele „einfacher, die Sehnsucht nach ihrem ehemaligen Wohnort zu formulieren, als einer Sehnsucht nach Deutschland Ausdruck zu verleihen“ (S. 126). Dialekt und lokale Mentalität hatten eine höhere Bedeutung für das Gefühl von Zugehörigkeit als eine Bindung an die Nation, analysiert die Autorin. Daher überrascht es wenig, dass in der fragilen Phase der Nachkriegszeit die Städte in dieser Kontaktpflege viel stärker gefragt (und auch erfolgreicher) waren als die Ebene der Bundespolitik.

Für die Spannung dieser Analyse hätte der Kontrast dazu interessiert, wie sich jene Emigranten zu Deutschland oder ihren Heimatstädten positionierten, die den Einladungen bewusst nicht nachkamen. Wie Nikou anfangs selbst reflektiert, ist es unmöglich, darüber signifikante Daten zu sammeln, da es zu Nicht-Reaktionen schlicht keine Aufzeichnungen gibt. Manche empörten Briefe stehen im Gegensatz zu einem weit verbreiteten Schweigen. Im Verlauf des Buches zeichnet sie allerdings ein positives Bild der „Verbundenheit“ und „Sehnsucht“ der Emigranten, das in dieser Eindeutigkeit kaum der Wirklichkeit entsprochen haben dürfte. Eine vorsichtig quantifizierende Einordnung hätte geholfen, die Bedeutung der vorgestellten Ergebnisse besser einschätzen zu können.

Im Bestreben, die disparate Gruppe der Emigrierten zu analysieren, neigt die Autorin teilweise zu Pauschalisierungen, wie dem diagnostizierten „Wunsch“ ihrer Akteure, dass „alte Vorstellungen, die sie von den Städten aus der Zeit vor ihrer Verfolgung hatten, wieder bestätigt würden“ (S. 116). Trauer um die verlorene Welt und Kultur interpretiert sie als „Verbundenheit“. Ihre Lesart der „negativen Gefühle“, ein häufig verwendeter, jedoch etwas schwammiger Ausdruck, hätte dabei noch andere Interpretationen denkbar erscheinen lassen, beispielsweise eine starke Ambivalenz gegenüber dem Land und seinen Bewohnern, die die Verfolgung und Vertreibung aktiv betrieben bzw. mindestens geduldet hatten. Wenn es um die Haltung der Besucher geht, bleibt die Analyse mitunter spekulativ („es scheint als hätte“, S. 152). Insgesamt wäre eine Straffung der durchaus interessanten Ergebnisse, der ausführlichen Zitate und der detaillierten Schilderungen einzelner Abläufe dem Lesefluss sicher förderlich gewesen.

Die breite existierende Forschung zu jüdischer Emigration und Remigration in der Bundesrepublik ist Nikou den Fußnoten nach zwar bekannt3, doch hätte man sich eine noch bessere Einbettung ihrer eigenen Forschungsergebnisse in diesen Kontext gewünscht: Sie erwähnt zwar mit Recht, dass es schwer ist, über Nicht-Briefwechsel zu schreiben, sodass nur eine bestimmte Auswahl der Vertriebenen und Emigrierten für die gewählte Fragestellung überhaupt in Betracht kommt. Gleichwohl wäre eine stärkere Einordnung der Relevanz der Besuche – die sich im Rahmen der neu aufblühenden Geschichtspolitik während der 1980er-Jahre zu Besuchsprogrammen institutionalisierten, wie die Autorin überzeugend zeigt – im weiteren innen- und außenpolitischen Kontext der Nachkriegsjahrzehnte noch wünschenswert gewesen. Stark ist das Buch vor allem dort, wo es die Lebensgeschichten der Emigranten und Holocaust-Überlebenden erzählt. Besonders diese wichtigen Passagen machen Lina Nikous plastische Schilderung eines bisher wenig beachteten Kapitels der bundesdeutschen Geschichte zu einem erhellenden Forschungsbeitrag.

Anmerkungen:
1 Zur Geschichte der Frankfurter Juden ist mittlerweile erschienen: Tobias Freimüller, Frankfurt und die Juden. Neuanfänge und Fremdheitserfahrungen 1945–1990, Göttingen 2020.
2 Lina Nikou, Zwischen Imagepflege, moralischer Verpflichtung und Erinnerungen. Das Besuchsprogramm für jüdische ehemalige Hamburger Bürgerinnen und Bürger, München 2011.
3 Z. B. Anthony Kauders, Unmögliche Heimat. Eine deutsch-jüdische Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, München 2007; Steven E. Aschheim / Vivian Liska (Hrsg.), The German-Jewish Experience Revisited, Berlin 2015; Stefanie Fischer / Nathanael Riemer / Stefanie Schüler-Springorum (Hrsg.), Juden und Nicht-Juden nach der Shoah. Begegnungen in Deutschland, Berlin 2019.