J. Ganzenmüller (Hrsg.): Verheißung und Bedrohung

Cover
Titel
Verheißung und Bedrohung. Die Oktoberrevolution als globales Ereignis


Herausgeber
Ganzenmüller, Jörg
Reihe
Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg 25
Erschienen
Köln 2019: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
281 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Aust, Institut für Geschichtswissenschaft, Rheinsche Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Der von Jörg Ganzenmüller herausgegebene Band fügt sich in eine Reihe von Publikationen ein, die ihren vordergründigen Anlass im 100. Jahrestag der Russischen Revolutionen von 1917 haben.1 Der Titel „Verheißung und Bedrohung“ greift die Spannweite der zeitgenössischen und späteren Rezeptionen der von den Bolschewiki sogenannten Großen Oktoberrevolution auf. Die extrem gegensätzliche Wahrnehmungsgeschichte der Revolution, die zwischen euphorischer Emanzipationserwartung und Zukunftsgewissheit einerseits sowie Ängsten und Untergangserwartungen andererseits changierte, darf gerade für Deutschland als gut untersucht gelten.2 Der Untertitel des Bandes verspricht, Neuland zu betreten, indem er die Oktoberrevolution als globales Ereignis in den Blick rückt.

Der Band eröffnet mit einem Einleitungs- und bündigen Überblickstext von Jörg Ganzenmüller und einem Artikel zur Weltgeschichte des Kommunismus von 1917 bis 2017 von Gerd Koenen. An den Beispielen Russlands und Chinas wirft Koenen die Frage auf, inwieweit sich kommunistische Projekte im 20. Jahrhundert von der ursprünglichen Befassung mit der Arbeiterfrage entfernt und zu Instrumenten der Wiedererlangung und Behauptung von Macht in der Welt gewandelt haben. Im Folgenden betrachten vier Beiträge Reaktionen auf die Oktoberrevolution in Deutschland – zwei mit Blick auf die Linke, zwei zum Thema Antibolschewismus. Bernhard H. Bayerlein untersucht das Verhältnis zwischen der Komintern und deutschen Kommunisten. Eva Oberloskamp steuert einen Beitrag über die Reiseberichte deutscher Linksintellektueller aus der Sowjetunion während der Weimarer Republik bei. Am Beispiel von Max Erwin von Scheubner-Richter problematisiert Karsten Brüggemann den Beitrag von Baltendeutschen zum Antibolschewismus. Agnieszka Pufelska schreibt über das verschwörungstheoretische und stereotype Feindbild des „jüdischen Bolschewismus“. Drei weitere Beiträge widmen sich der europäischen Dimension des Themas. Thomas Kroll kontrastiert die Entstehung einer kommunistischen Partei in Frankreich mit deren Ausbleiben in Großbritannien. Hans Woller richtet den Blick auf Italien und Julia Richers vermisst das Verhältnis zwischen den Revolutionen in Russland und der ungarischen Räterepublik.

Im letzten Teil des Bandes scheint eine über Europa hinausgehende Perspektive auf. Michael Dreyer setzt die Red Scare in den Vereinigten Staaten ins Verhältnis zu vorherigen und folgenden politischen Umgangsweisen mit Imaginationen des Anderen in der Geschichte der USA. Gotelind Müller zeichnet den abnehmenden Modell- und Referenzcharakter der Oktoberrevolution im Zeitverlauf der chinesischen Geschichte aus Sicht der chinesischen Kommunisten nach. Gero Fedtke erhellt, wie Reformmuslime in Zentralasien es verstanden, den Kommunismus für ihre Auseinandersetzung mit muslimischen Traditionalisten zu nutzen. Es zeichnet den Band aus, dass Jörg Ganzenmüller ausgewiesene Autorinnen und Autoren gewonnen hat, die allesamt sehr fundierte, quellenbasierte und gut lesbare Texte beisteuern und damit für eine durchgehende Qualität des Sammelbandes sorgen.

Gemeinsam ist allen Beiträgen ein Fokus auf die politikgeschichtliche Dimension. Wie politische Führungspersonen, politische Bewegungen und Parteien und politische Programmatiken die Oktoberrevolution aufnahmen, sie sich aneigneten oder sich von ihr abgrenzten, steht im Zentrum aller Beiträge des Bandes. Das Gegensatzpaar von Verheißung und Bedrohung ist dabei erheblich stärker ausgeleuchtet als der globalgeschichtliche Aspekt. Der Fokus auf die Frage, wie die Oktoberrevolution rezipiert wurde, führt dazu, dass die internen Diskussionen und Bemühungen der Bolschewiki um die Weltrevolution teils aus dem Blick geraten. So wäre es interessant gewesen, beispielsweise mehr über den Kongress der Völker des Orients/Ostens (russ. vostok) in Baku 1920 und die Moskauer Universität der Werktätigen des Orients/Ostens (russ. vostok) zu erfahren. Da der Band die Rezeption der Oktoberrevolution kommunismusgeschichtlich fasst, geraten andere Handlungsfelder globaler Relevanz nicht in den Blick.

Das gilt vor allem für die Frage nach Dekolonisation und Nationsbildung. Hier wäre bei Stalins Schrift über „Marxismus und nationale Frage“ von 1913 und Überlegungen Lenins aus dem Ersten Weltkrieg, nationale Fragen zur globalen Auseinandersetzung mit dem Imperialismus zu nutzen, anzusetzen gewesen. Der Fokus auf kommunistische Parteien und Arbeiterbewegungen hingegen ist ein vorrangiges Phänomen für die Geschichten Europas und der USA. In Asien und Afrika hatten demgegenüber Fragen von Nationsbildung und Dekolonisation ein viel größeres Gewicht. Die Nationalitätenpolitik der jungen Sowjetunion in den 1920er-Jahren besaß das Potenzial einer Orientierung für Projekte der Dekolonisation in Asien und Afrika, das der stalinistische Terror und die konservative Wende in der Nationalitätenpolitik der 1930er-Jahre dann freilich verspielt haben. Der globalgeschichtliche Blick auf Nationsbildung, Dekolonisation und Revolution hätte es freilich auch erfordert, die Februarrevolution von 1917 und ihre Vorgeschichte in den Band einzubeziehen. Neben der Konzentration des Bandes auf kollektive Akteure der Politikgeschichte ist der weiteren Forschung zur Globalgeschichte der Oktoberrevolution auch eine Verknüpfung mit biographischen und autobiographischen Forschungsansätzen zu wünschen.

Die Globalgeschichtsschreibung hat inzwischen die Höhenkämme der bevorzugten Behandlung globaler Ströme und Strukturen verlassen und sich in die Detailwelten individueller Lebenswelten und Lebensläufe begeben. Das ist auch für die Erforschung der Globalität der Oktoberrevolution ein vielversprechender Ansatz. Nun, da die Rückblicke anlässlich des 100. Jahrestags der Russischen Revolutionen geschrieben sind, bleibt zu hoffen, dass die Globalgeschichte der Revolutionen weiter auf der Agenda der Forschung stehen wird.3

Anmerkungen:
1 Sammelrezension entsprechender Titel von Felix Schnell, Rezension zu: Martin Aust, Die Russische Revolution. Vom Zarenreich zum Sowjetimperium, München 2017; Mark D. Steinberg, The Russian Revolution 1905–1921, Oxford 2016; Laura Engelstein, Russia in Flames. War, Revolution, Civil War, 1914–1921, Oxford 2018; Stephen A. Smith, Russia in Revolution. An Empire in Crisis, 1890 to 1928, Oxford 2017; Sheila Fitzpatrick, The Russian Revolution. 4. Aufl., Oxford 2017; Yuri Slezkine, House of Government. A Saga of the Russian Revolution, Princeton 2017, in: H-Soz-Kult, 03.10.2018, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-25977 (13.11.2020).
2 Gerd Koenen (Hrsg.), Deutschland und die russische Revolution 1917–1924, München 1988; ders., Der Russland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900–1945, München 2005.
3 Exemplarisch sei verwiesen auf: Tatiana Linkhoeva, Revolution Goes East. Imperial Japan and Soviet Communism, Ithaca 2020.

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