R. Schattkowsky: Osteuropaforschung in Polen 1918–1939

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Titel
Osteuropaforschung in Polen 1918–1939.


Autor(en)
Schattkowsky, Ralph
Erschienen
Wiesbaden 2019: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
XII, 342 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kai Johann Willms, Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien, Ludwig-Maximilians-Universität München

Forschungen zur europäischen und globalen Wissenschaftsgeschichte nehmen Ostmitteleuropa seit einiger Zeit vermehrt in ihr Blickfeld. Dies ist nicht zuletzt einem verstärkten Interesse an transkulturellen Perspektiven zu verdanken: Die historische Multiethnizität und Mehrsprachigkeit der Region, Migrationen und Grenzverschiebungen sowie die gleichsam liminale Lage zwischen Ost und West schufen spezielle Bedingungen für die Zirkulation von Wissen zwischen Sprach- und Kulturräumen.1 Zugleich kam den Geistes- und Sozialwissenschaften in Ostmitteleuropa eine zentrale Rolle im Prozess der Nationsbildung zu, galt Wissen als Ressource in Konflikten um die nationale Deutungshoheit. Vor diesem Hintergrund hat der Rostocker Historiker Ralph Schattkowsky, der seit 2001 auch an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Toruń lehrt, eine Studie zur Osteuropaforschung in der Zweiten Polnischen Republik vorgelegt.

Mit seiner Arbeit möchte Schattkowsky an einen Forschungskontext anschließen, der die deutsche „Ostforschung“ und die polnische „Westforschung“ der Zwischenkriegszeit aufeinander bezieht und postuliert, dass beide eine neuartige wissenschaftliche Interdisziplinarität mit dem politischen Ziel verbunden hätten, territoriale Ansprüche der eigenen Nation zu legitimieren.2 In diesem Zusammenhang sei die polnische Erforschung des „Ostens“ noch nicht systematisch analysiert worden. Analog zu jener Debatte interessiert sich Schattkowsky für das Verhältnis von Wissenschaft und Politik und fragt, welche Wirkungen die Osteuropaforschung auf die Ausarbeitung einer polnischen Ostpolitik entfaltet habe. Dabei lehnt er sich an Mitchell G. Ashs Konzept von „Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander“ an, das darauf abzielt, die historische Einbindung von Wissenschaftlern in politische Projekte nicht als Bedrohung wissenschaftlicher Autonomie, sondern als deren Bedingung und als Chance für die Wissenschaftsentwicklung zu verstehen.3 Von Beginn an geht Schattkowsky von einer engen Verflechtung der beiden Teilsysteme der polnischen Gesellschaft aus und unterstreicht eine (Selbst-)Verpflichtung polnischer Geistes- und Sozialwissenschaftler auf ein Verständnis von Wissenschaft als „nationale Aufgabe“.

Den Kern der Studie bildet eine Analyse der wichtigsten Institutionen der Osteuropaforschung sowie der Rolle „Osteuropas“ im politischen Diskurs der Zweiten Polnischen Republik. Ausführlich geht Schattkowsky vor allem auf die Arbeiten der Historiker Oskar Halecki und Feliks Koneczny sowie des Slavisten Marian Zdziechowski als dominante Figuren der Geisteswissenschaften an den Universitäten in Warschau und Wilno (heute Vilnius, Litauen) ein. Allen drei Autoren gemeinsam war die Betrachtung Osteuropas als Schauplatz religiös-zivilisatorischer Antagonismen: Während bei Halecki die Abgrenzung des lateinisch-westkirchlichen Europas gegenüber Russland im Mittelpunkt stand, wähnten die beiden Letztgenannten die europäische Christenheit auch in einem Abwehrkampf gegen eine „jüdische Zivilisation“, namentlich in Gestalt des „Bolschewismus“. Diese antisemitische Grundierung konstatiert Schattkowsky durchaus, begegnet der Modernitätsskepsis seiner Protagonisten ansonsten aber mit sehr weitreichendem Verständnis und schreibt ihr gar eine erhebliche Originalität zu – über Zdziechowskis pessimistisches Geschichtsbild heißt es etwa, dass es „Antworten zu geben vermochte, wo andere mit einem rational wissenschaftlichen Instrumentarium nicht weiterkamen“ (S. 126). In etwas kürzerer Form wird die Forschung an außeruniversitären Instituten behandelt: Diese war teils stärker sozialwissenschaftlich orientiert und sei daher von offizieller Seite aufgrund vermeintlicher prokommunistischer Tendenzen skeptisch beäugt worden, teils orientierte sie sich am politischen Programm des „Prometheismus“. Dieser Gedanke einer polnischen Sendung gegenüber Unabhängigkeitsbestrebungen nichtrussischer Nationalitäten in der Sowjetunion genoss zeitweise besondere staatliche Förderung.

Im Kapitel zur Rolle Osteuropas im politischen Diskurs der Zweiten Republik bietet Schattkowsky einen konzisen Überblick über die Positionen unterschiedlicher politischer Gruppierungen in ihrem Umgang mit den östlichen Nachbarn Polens und ihre jeweilige wissenschaftliche Untermauerung. Dabei verweist er zu Recht darauf, dass mit Blick auf die politische Praxis nach dem Ende des Polnisch-Sowjetischen Krieges die Gegensätze zwischen dem Piłsudski-Lager und der Nationaldemokratie um Roman Dmowski keineswegs unüberbrückbar waren. Abschließend setzt Schattkowsky die polnische Osteuropaforschung mit der deutschen Ostforschung der Zwischenkriegszeit in Beziehung und stellt fest, dass sie international nur wenig rezipiert worden sei.

In seinem Urteil einer starken Politisierung der polnischen Geistes- und Sozialwissenschaften zwischen den Weltkriegen ist Schattkowsky sicherlich Recht zu geben, und es erscheint daher auch konsequent, die Verflechtungen von Wissenschaft und Politik zum Leitmotiv der Studie zu machen. Dennoch drängt sich der Eindruck auf, dass das Verhältnis dieser beiden gesellschaftlichen Teilsysteme einseitig konzipiert wird: Bei Schattkowsky erscheint Wissenschaft konsequent politischen Imperativen untergeordnet, er schreibt gar von einer „politischen Determiniertheit von Forschung“ (S. 2). Inwiefern umgekehrt eine bestimmte politische Konstellation, um im Bilde Ashs zu bleiben, eine Ressource für die Wissenschaftsentwicklung sein konnte, namentlich auch für die theoretische und methodische Entwicklung einzelner an der Osteuropaforschung beteiligter Disziplinen, wird dagegen weit weniger deutlich, obwohl dies etwa für die Entwicklung einer modernen Literaturtheorie in Ostmitteleuropa bereits gezeigt worden ist.4 Als Hindernis erweist sich dabei die Analogie zur deutschen Ostforschung: Zwar gab es in Gestalt des „Prometheismus“ durchaus ein politisches Programm, dem sich ein Teil der mit dem östlichen Europa befassten Forscher verpflichtet fühlte. Wie Schattkowsky selbst feststellt, betrachteten sich die polnischen Wissenschaftler der Zwischenkriegszeit aber gar nicht als Angehörige einer in sich geschlossenen „Osteuropaforschung“, sondern als Vertreter ihrer jeweiligen Fachdisziplin (S. 271). Diesem Selbstverständnis hätte man Rechnung tragen können, indem man die Erforschung des östlichen Europas stärker in eine allgemeine Geschichte der polnischen Geistes- und Sozialwissenschaften eingebettet hätte.

Die Dominanz des politischen Gesichtspunkts verweist auf ein weiteres Problem des Buches: Schattkowsky orientiert sich weniger an jüngeren internationalen Forschungen zur Wissenschaftsgeschichte – mit Blick auf die historische Polenforschung konstatiert er überraschend einen „nach wie vor gegebenen Primat Politischer und Beziehungsgeschichte“ (S. 296) – als an einer polnischen Forschungsliteratur, die das inländische Publikum adressiert und die Entwicklung der Wissenschaften ebenfalls unter dem Gesichtspunkt ihrer politischen Funktion, namentlich für die Erlangung und Erhaltung polnischer Eigenstaatlichkeit, interpretiert. Ebenso wie letzterer mangelt es daher auch der vorliegenden Studie an theoretischer Reflexion und an einem Deutungshorizont, der den Kontext polnischer Nationalgeschichte übersteigt. So finden insbesondere postkoloniale Impulse zur Frage, wie Wissen über „den Osten“ produziert wird, keinerlei Berücksichtigung, obwohl der Zusammenhang zwischen der Imagination des „Ostens“ und dem polnischen Selbstverständnis für Schattkowsky doch von zentraler Bedeutung ist. Dies überrascht umso mehr, als in der polnischen Wissenssoziologie die Frage, inwieweit sich die an westeuropäischen Diskursen entwickelten Theorien des „Orientalismus“ auf ostmitteleuropäische Kontexte übertragen lassen, bereits aufgeworfen worden ist.5

Die Einsicht aus der postkolonialen Theoriebildung, dass die Art und Weise, wie Wissen über Weltregionen international produziert wird und zirkuliert, eng mit Machtasymmetrien des internationalen Wissenschaftssystems zusammenhängt, hätte es Schattkowsky auch erlaubt, seinem Thema eine stärker transkulturelle Perspektive zu verleihen. So wird zwar erwähnt, dass die polnischen Geistes- und Sozialwissenschaften international stark vernetzt waren. Die Bedeutung dieses Austauschs für die polnische Wissenschaftsentwicklung wird jedoch nur hinsichtlich der Beziehungen zur deutschen Ostforschung ausführlich diskutiert. Zwar hatte in der Geschichtswissenschaft und der politischen Geographie Deutschland zweifellos einen Vorbildcharakter, und in der Tat gehören die Passagen über die Verbindungen polnischer Wissenschaftler zur deutschen Ostforschung zu den interessantesten des Buches. Über die Relevanz sonstiger Verflechtungen, etwa zwischen polnischer und amerikanischer Soziologie6 oder polnischer und frankophoner Literaturwissenschaft, erfährt man hingegen nichts.

Somit bleibt es insgesamt zwar begrüßenswert, dass einer deutschsprachigen Leserschaft erstmals eine umfassende Studie zur polnischen Erforschung des östlichen Europas zwischen den Weltkriegen vorliegt. Eine stärkere theoretische Reflexion sowie eine weniger starke politik- und nationalhistorische Fokussierung hätten ihren Mehrwert gegenüber diesbezüglichen Arbeiten in polnischer Sprache7 jedoch erheblich gesteigert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Katherine Lebow / Małgorzata Mazurek / Joanna Wawrzyniak, Making Modern Social Science: The Global Imagination in East Central and Southeastern Europe after Versailles, in: Contemporary European History 28 (2019), Heft 2, S. 137–142.
2 Vgl. etwa Jan M. Piskorski / Jörg Hackmann / Rudolf Jaworski (Hrsg.), Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich, Osnabrück 2002.
3 Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander. Programmatische Überlegungen am Beispiel Deutschlands, in: Jürgen Büschenfeld / Heike Franz / Frank-Michael Kuhlemann (Hrsg.), Wissenschaftsgeschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen, Bielefeld 2001, S. 117–134.
4 Galin Tihanov, Why Did Modern Literary Theory Originate in Central and Eastern Europe? (And Why Is It Now Dead?), in: Common Knowledge 10 (2004), Heft 1, S. 61–81.
5 Vgl. Tomasz Zarycki, Ideologies of Eastness in Central and Eastern Europe, London 2014.
6 Vgl. Antoni Sułek, A Mirror on the High Road. Chapters from the History of Social Research in Poland, Berlin 2019, S. 17–32, 77–102.
7 Insbesondere Marek Kornat, Bolszewizm – totalitaryzm – rewolucja – Rosja. Początki sowietologii i studiów nad systemami totalitarnymi w Polsce (1918–1939), 2 Bde., Kraków 2003/04.

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