M. Epkenhans u.a. (Hrsg.): Politiker ohne Amt

Cover
Titel
Politiker ohne Amt. Von Metternich bis Helmut Schmidt


Herausgeber
Epkenhans, Michael; Frie, Ewald
Reihe
Otto-von-Bismarck-Stiftung: Wissenschaftliche Reihe 28
Erschienen
Paderborn 2020: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
276 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Christiane Gatzka, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Was taten Politiker, nachdem sie ihr Amt abgeben mussten? Michael Epkenhans und Ewald Frie haben Antworten auf diese Frage gesammelt, die 2017 einer von der Otto-von-Bismarck-Stiftung veranstalteten Tagung zugrunde gelegen hatte. 13 Historiker und eine Historikerin bearbeiten im Sammelband anhand biographischer Vignetten, die meist auf eigenen Vorarbeiten aufbauen, die Leitfragen der beiden Herausgeber. Sie nehmen gleichsam vorweg, dass „Politiker ohne Amt“ freilich weiter mitzureden versuchten. Warum und wie sie das taten, auf welche Kreise sie sich stützten und welche Reaktionen und Erfolge sich anschlossen, steht im Fokus. Der Reigen beginnt mit Fürst Metternichs letzten Jahren nach dem „Trauma“ von 1848 (Wolfram Siemann) und endet mit Sam Nujoma als lebenslangem Freiheitskämpfer und einzigem nicht-europäischen Fall (Henning Melber). Hans Maier beschließt den Band mit einem Systematisierungsversuch, der zeitlich weiter zurückgeht und auch Politikerinnen (Maria Theresia) einfängt.

Es bleibt vage, ob die Herausgeber die Politikerexistenz „ohne Amt“ oder aber die Erfahrung des Machtverlusts heuristisch ins Zentrum rücken möchten. Beide Phänomene gehen jedenfalls historisch nicht ineinander auf. Der Machtverlust hätte eine machttheoretisch informierte Konzeptualisierung verdient, mindestens aber wäre eine Explikation des Machtbegriffs wünschenswert gewesen, der für die Beiträge leitend war. Impliziert ist ein enger, ans Staatsamt gekoppelter Machtbegriff, womit das politische Wirken „ohne Amt“ in logischer Konsequenz als machtlos zu konzipieren wäre. Dies jedoch würde dem Maß an Einfluss und politischem Engagement nicht gerecht, das viele Beiträge herausarbeiten. Ex-Reichskanzler Franz von Papen etwa, den Reiner Möckelmann als Wegbereiter und „Vasall Hitlers“ (S. 99) vorstellt, bereitete mit seinem diplomatischen Einsatz fürs „Dritte Reich“ beim Vatikan und in Wien dessen Anerkennung in der katholischen Welt und schließlich den „Anschluss“ Österreichs vor. Und Ex-Reichskanzler Joseph Wirth, den Bernd Braun in seinem exzellenten Beitrag als „Herzensrepublikaner“ (S. 73) porträtiert und dabei einige Verzerrungen der Wirth-Biographik aufhellt, ist vor allem für seinen beharrlichen Einsatz für die Demokratie zu würdigen.

Der Frage, wie der Machtverlust inszeniert wurde und wie Politiker darüber reflektierten, widmen lediglich Peter Alter und Hans Peter Mensing an den Beispielen Winston Churchills und Konrad Adenauers etwas mehr Raum. Der Abgang des greisen Bundeskanzlers wurde 1963 von Rudolf Augstein mit einer SPIEGEL-Sonderausgabe begleitet, und auch hier ging es um Macht, nämlich um den beginnenden Kampf um politisch-biographische Deutungsmacht. Der konservative Kriegs-Premier Churchill indes reflektierte seit 1945 viel über sein Schicksal, mutmaßlich jeder politischen Verantwortung enthoben zu sein – und gestand offen ein, schlecht ohne die Politik leben zu können. Zugleich schien er aus dem Umstand, seine Abwahl 1945 als Symbol der siegreich aus dem Krieg hervorgegangenen Demokratie deuten zu können, nachgerade Sinn zu ziehen – ähnliche Wertschätzungen der Demokratie sind in Verbindung mit deutschen Machtverlusten offenkundig nicht anzutreffen. Verbreiteter war es, im Kaiserreich wie in der Republik, dem Nachfolger mit Kritik, wenn nicht gar mit Geringschätzung zu begegnen. Ex-Reichskanzler Otto von Bismarck machte daraus geradezu sein Markenzeichen. Doch auch Bernhard von Bülow, Joseph Wirth, Konrad Adenauer oder Kurt Georg Kiesinger stellten sich und ihre Kompetenzen über die ihrer Nachfolger – wobei Bülow nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wohl die triftigsten Gründe dafür vorbringen konnte und auch beinahe noch einmal zum Reichskanzler ernannt worden wäre, wie Gerd Fesser darlegt.

Für Bismarck, so Christoph Nonn in seinem lesenswerten Beitrag, war Politik eine „Droge“ und die Zeit nach seiner Demission von der beständigen Suche nach „Ersatzstoffen“ geprägt (S. 41), die er in einer kontinuierlichen Medienpräsenz fand. Diese Befunde sind weithin generalisierbar. Das Geltungs- und Deutungsbedürfnis ging keinem Ex-Regierungschef ab und zeigte sich lediglich auf unterschiedlichen Wegen, die allerdings stets von der Fama des einstigen Amtes und den damit verbundenen Netzwerken gesäumt waren. Heinrich Brüning pflegte im Exil vielfältige Kontakte zu britischen und US-amerikanischen Regierungskreisen, wo er auf seine Art Deutschland-Lobbying betrieb, wie Peer Oliver Volkmann minutiös rekonstruiert. Willy Brandt reüssierte als Ex-Bundeskanzler in der Sozialistischen Internationale und in der Nord-Süd-Kommission der Weltbank. In beiden Fällen galt sein Einsatz vor allem dem globalen Süden. Hier wie auch als Protagonist einer oppositionellen sozialdemokratischen „Nebenostpolitik“ (S. 178) stützte er sich auf seine internationalen Kontakte und Reputation. Für eine herausgehobene Medienpräsenz, die dann zugleich einen stärker nationalen Fokus mit sich brachte, stehen indes Konrad Adenauer und Helmut Schmidt, Letzterer vor allem auch in seiner religiösen Motivation als sich einmischender Ex-Kanzler porträtiert von Rainer Hering.

Die Frage nach dem „Erfolg“ dieser Aktivitäten beantworten die Beiträger zurückhaltend. Die Herausgeber bilanzieren jedoch zu Recht, dass der Einfluss der „Politiker ohne Amt“ häufig ein indirekter gewesen sei. Nonn etwa attestiert Ex-Kanzler Bismarck doch einen beträchtlichen Einfluss auf die Gesellschaft des Kaiserreichs, nicht nur indem er als „Reichsgründer“ vor allem für Konservative und Nationalliberale eine Art lebendes Nationaldenkmal abgab, sondern auch die „Mentalität der politischen Verantwortungslosigkeit“ (S. 51) gefördert habe: in der Presse vernichtende Kritik an der Regierung übend, aber unwillig, im Reichstag konstruktiv Politik mitzugestalten. Günter Buchstab schätzt die Fortune Kiesingers als Oppositionspolitiker nach der frustrierenden Erfahrung, trotz des Wahlsiegs abtreten zu müssen, verhalten ein; durch den Nachfolger Brandt, aber auch in der eigenen Partei sei der vehemente Gegner der „neuen Ostpolitik“ zunehmend marginalisiert worden. Daniela Münkels Bilanz der „dritten Karriere“ (S. 173f.) Willy Brandts fällt ebenfalls nüchtern aus. Als „Nebenostpolitiker“ habe er die Staatszentrierung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) im Verhältnis zum Ostblock akzentuiert und die Protestbewegungen weitgehend übergangen. Als langjähriger Parteivorsitzender schwand seine Integrationskraft und sein deutschlandpolitisches Vermächtnis schien seiner Partei auch dank einer verfehlten Nachwuchspolitik Anfang der 1990er-Jahre nichts mehr wert. Am Ende seines Lebens schienen Willy Brandt und die SPD geschieden; seine Ikonisierung setzte postum ein. Frank Golczewskis Vignette des einstigen Sowjetpräsidenten Michail Gorbatschow zeigt einen im westlichen Ausland gefeierten Mann, der in Russland als Sündenbock galt und allenfalls zur politischen Randfigur taugte. Nachdem er mit der Annexion der Krim 2014 auf einen Putin-freundlichen Kurs einschwenkte, stehe auch sein Einsatz für demokratische Rechte und Medienfreiheit in Russland in Frage.

Was alle der hier besprochenen elder statesmen vereint – wobei die Valenz dieses englischen Begriffs für deutsche Verhältnisse erst noch zu prüfen wäre, wie die Herausgeber andeuten –, ist der Wille, das eigene historische Erbe zu pflegen und damit die Deutungsmacht über die eigene Biographie zu behaupten, die persönliche Agenda nachdrücklich weiterzuverfolgen und nicht zuletzt der Zeitgeschichte zentrale Deutungslinien vorzugeben. Die autobiographische Arbeit folgte seit Mitte des 19. Jahrhunderts geradezu selbstverständlich auf den Machtverlust und war etwa im Falle Churchills oder Adenauers von geradezu sensationellem Marktwert. Angesichts des prominenten Platzes, den Memoiren und Erinnerungen von Politikern bis heute in Geschichtsdarstellungen einnehmen, ist umso stärker einzufordern, sie in erster Linie als geschichtspolitische Quellen zu behandeln – das führen die Beiträge, insbesondere von Alter und Mensing, deutlich vor Augen.

Die Herausgeber wollen mit ihrem Band individualbiographische Vergleiche anstoßen. Woraufhin historisch zu vergleichen ist, wäre noch zu eruieren. Die Lektüre des Bandes lässt durchaus gewisse Typologien aufscheinen. Es gab Ex-Regierungschefs, die in der parlamentarischen oder in der Parteiarbeit politischen Sinn erkennen konnten, darunter Joseph Wirth, Kurt Georg Kiesinger oder Willy Brandt, und es gab solche, die trotz ihres Mandats dafür nicht viel Elan aufbringen konnten, darunter Winston Churchill, aber auch Konrad Adenauer. Hinter solchen Verhaltensweisen – die Herausgeber sprechen auch von „Rollen“ (S. 8), ohne diesen Begriff wiederum praxeologisch aufzuschließen und auch ohne damit unter den Beiträgern auf größere Resonanz zu stoßen – verstecken sich letztlich unterschiedliche Politikbegriffe, für deren Erforschung das hier betretene Feld sich anböte. „Politik“ galt Ex-Regierungschefs offenbar aufgrund ihrer spezifischen Machterfahrung häufig als zwischenstaatliche Politik: Es waren die außenpolitischen Probleme, nicht die trivialen innen-, sozial- oder wirtschaftspolitischen Angelegenheiten, die sie nicht losließen.

Trotz des etwas antiquiert anmutenden politikgeschichtlichen Zugriffs bietet der Band eine anregende, allerdings nicht immer zufriedenstellend redigierte, Lesereise durch den Ruhestand, häufiger den „Unruhestand“ (S. 52f.) wichtiger Politiker. Auf unterschiedlichen Wegen strebten sie weiterhin nach Einfluss und gaben ihrer eigenen Stimme Gewicht, verteidigten ihre Agenden und pflegten ihr politisches Andenken. Die Beiträge präsentieren dezentrierte, vom nationalen Machtzentrum abstrahierende Bilanzen politischer Biographien – über diese Perspektive und ihre jeweilige Nähe zur Macht lohnt es weiter nachzudenken.

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