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Titel
Bauen nach Stalin. Architektur und Städtebau der DDR im Prozess der Entstalinisierung 1954–1960


Autor(en)
Salomon, Toni
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 581 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ullrich Hartung, Berlin

Eine der wichtigsten Fragen an die Architektur- und Städtebau-Geschichte der DDR betrifft den Übergang von den historistischen Prachtgebäuden der Stalinzeit zu den nüchternen, seriell montierten Typenbauten der 1960er-Jahre. Wie dieser Wandel vonstattenging, interessiert vor allem deshalb, weil er die Abwendung von einer strikt hierarchisch gedachten Architekturideologie und die Wiederaufnahme der Prinzipien einer internationalen Moderne bedeutete. Der damalige Wandel vollzog sich aber mit den Machtstrukturen aus der Glanzzeit Stalins; die personale Herrschaft über Partei und Staat, verkörpert in Walter Ulbricht, wurde dadurch eher gestärkt, anstatt sich in einer Vielheit rationaler Entscheidungs- und Aushandlungsprozesse aufzulösen. Die zuvor geschaffenen Institutionen, speziell die Bauakademie, ließen sich für die „Große Wende“ im Bauwesen einsetzen. So erschien die neue Architektur als bloße Reaktion auf die neuen Vorgaben: Sparsamkeit, typenplanerische Rationalität und Ausrichtung auf die Massenproduktion von „Objekten“ nach dem Vorbild der Industrie. Daraus zogen einige Fachleute den Schluss, dass mit der Herausbildung der baupolitischen Herrschaftsinstrumente in den 1950er-Jahren alles Wichtige erforscht sei und die spätere Architektur, betrachtet als Produkt der zentralistischen Schematisierung eines weltweiten „Bauwirtschaftsfunktionalismus“, keine besondere Aufmerksamkeit verdiene.1

So einfach macht sich Toni Salomon die Sache nicht. Er will mit seiner bis 2014 geschriebenen und im Jahr darauf verteidigten Doktorarbeit die genauen Abläufe dieses Wandlungsprozesses darstellen, seine Auswirkungen auf die Bau- und Staatsideologie, auf die Bauplanung und auf das Verhältnis von Architekten und Bauingenieuren zur Staatsführung untersuchen. Er charakterisiert die vorwärtstreibenden und die beharrenden Kräfte und nimmt sowohl den Ausgangspunkt der Konflikte als auch ihr Ergebnis, die weitgehend typisierte Architektur der Moderne und ihre „Sonderbauten“, in den Blick.

Salomons Dissertation entstand am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Technischen Universität Chemnitz und stellt der dortigen Forschungstätigkeit, was das Interesse an den Spezialthemen der Architektur- und Städtebaugeschichte betrifft, ein gutes Zeugnis aus. Als Historiker bemüht sich der Autor um eine präzise Darstellung der Diskussionsinhalte und der daraus direkt oder indirekt resultierenden Entscheidungen im Sinne einer Diskursanalyse; sein Ziel ist es, „die Diskussions- und Entscheidungsprozesse, die zur ‚Platte‘ führten, nicht nur darzustellen, sondern so detailliert wie möglich nachzuvollziehen und auf ihre Ursachen und unmittelbaren Wirkungsweisen zu untersuchen“ (Einleitung, S. 26).

Dazu geht er konsequent chronologisch vor: Um den spezifischen „Stand“ der Diskussion und seine Auswirkungen auf das Bauen zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erfassen, widmet er jedem Jahr der Übergangszeit von 1954 bis 1960 ein ganzes Kapitel. So entstand eine kleine Entwicklungsgeschichte des DDR-Bauwesens unter dem Zeichen der Industrialisierung. Beginnend in der Zeit des Stils der Nationalen Traditionen, seiner „Hochblüte“ um 1953, vor der berühmten und oft angeführten, jedoch zuvor kaum analysierten Rede Nikita Sergejewitschs Chruschtschows vom Dezember 1954 und ihren Folgen bis hin zu den „Grundsätzen für die Umgestaltung der Stadtzentren“ aus dem Jahr 1960 wird die jeweilige Situation des Bauens analysiert.

Salomon findet dafür oft treffende Charakterisierungen. Der Vorbild-Macht Sowjetunion räumt er, bemerkenswert und zuweilen überraschend, in den verschiedenen Phasen eine starke oder aber geringe Bedeutung für die Architekturdiskussion ein. Die Folgen der Schwenks und Wendungen in der Baupolitik für die Baupraxis legt er an einem Beispiel aus seiner Heimatstadt dar: Lücken- und Ergänzungswohnbauten aus dem kaiserzeitlichen Altbaugebiet im Westen von Chemnitz-Gablenz, dem „Lutherviertel“, werden in ihrer sukzessiven Vereinfachung beschrieben. Der Autor bezieht sich darin auf einen Text von Roman Hillmann zu Lückenbauten in Berlin-Weißensee.2 Im Ganzen gibt das Buch starke Anregungen für die Forscherinnen und Forscher, sich der genauen Abfolge der baupolitischen Entscheidungen und ihren jeweiligen Konsequenzen zuzuwenden und dabei alle Einflussfaktoren als Aspekte zu berücksichtigen. Die chronologische Arbeits- und Denkweise erweist sich hier als ertragreich.

Leider verlässt Salomon selbst in vielen Passagen seiner Arbeit den wissenschaftlichen Standpunkt, die Zeitzeugnisse rein in ihrer historischen Qualitas erfassen zu wollen und dafür von politisch-ästhetischen Bewertungen ihrer „Qualität“ abzusehen. Deshalb erscheint der Übergang vom hierarchisch strukturierten Historismus zu den gleichwertigen Formen der Baumoderne im ganzen Buch als der von (politisch induziertem) Reichtum zu gestalterischer Armut, und wie die banale Negativität der Schlusseinschätzungen zur DDR-Baupolitik (S. 529ff.) zeigt, hat der Autor solch „kritische“ Bewertung geradezu verinnerlicht. Sie wird ebenso deutlich im Ausblick auf die Jahre nach 1960, die Zeit der „radikalen Standardisierung im Bauwesen“ (S. 533ff.). Zu vermissen ist hier die Sachanalyse – dem Bestreben, Überlegenheit über die historischen Gegenstände zu demonstrieren, ordnet Salomon die Erfassung und präzise Verarbeitung der Fakten unter. In vielen Fällen trifft er Bewertungen, gibt Charakterisierungen, die sich als ungenau und oberflächlich erweisen und auch durch die angeführten Belege nicht gestützt werden.

So waren weder Hermann Henselmann noch Richard Paulick und Hanns Hopp „frühere Bauhäusler“ (S. 1); selbst Paulick, der als ein Bauleiter das Dessauer Arbeitsamt von Walter Gropius betreute, muss historisch präzise als „externer Bauhäusler“ (Wolfgang Thöner)3 bezeichnet werden. Henselmann hat nicht mit Hochhäusern in „Stahlskelett“ experimentiert (S. 2), sondern mit Stahlbeton-Skelettbauteilen (Bild S. 6), in starker Konkurrenz zu Paulick (vgl. S. 131). Dieser war niemals der “neue oberste Typenprojektant“ (S. 185), sondern seit 1953 allein für die Wohnungsbautypen zuständig; in dieser Funktion hat er bekanntlich den ersten Wohnblock der Tafelbauweise in Berlin-Johannisthal (S. 153ff.) und ab ca. 1955 die Tafel- und Blockbauten für den ersten Wohnkomplex von Hoyerswerda-Neustadt entworfen. An ihrer Architektur zeigten sich 1957 genau die Übergangsphänomene zwischen Historismus und Moderne, die Salomon als Vorschläge der Meisterarchitekten vermisst.

Dass sich der Autor für bautechnische Fragen nicht interessiert, ist im Buch allenthalben zu spüren. Sie gehören aber in sein Arbeitsfeld, weshalb es ärgerlich ist, dass Salomon nicht bloß die Montagebauweisen kaum unterscheiden kann (Bilder S. 374 u. 439 unten), sondern auch „Tafelbauweise“ und „Plattenbauweise“ als Begriffe für zwei verschiedene Konstruktionen auffasst (S. 185), obwohl es sich nur um die korrekte und die unkorrekte Bezeichnung desselben Konstruktionsprinzips handelt. Auch ordnet er den beschriebenen Bauten mehrfach die falschen Typenbezeichnungen zu (S. 286f., 437 und Bild S. 414). Ein Bild aus der Sammlung des Architekten Leopold Wiel zeigt einen seiner bemerkenswerten Wohnblocks in Berlin-Karlshorst (S. 416) – Salomon hat es, um die serielle Erscheinung des Baus zu betonen, schlicht in der Breite dupliziert und damit Bildinhalt wie Bildaussage verfälscht.

Seinen spärlichen Autorenangaben ist zudem mit Vorsicht zu begegnen – so wurde die „Typensegmentreihe Q 3“ in der Großblockbauweise nicht vom Typungsinstitut des Hans Schmidt (S. 349), sondern auf Initiative des Chefarchitekten von Berlin, also Henselmanns, von Josef Kaiser, Klaus Sbrzesny und dem Bauingenieur Erhardt Gißke entwickelt4; sie kam nicht; wie geplant, republikweit, sondern nur in der Hauptstadt und im angrenzenden Bezirk Frankfurt (Oder) zur Anwendung.

Solche Verfehlungen und Verwechslungen stellen die Haltbarkeit des Werks in Frage. Seine seriöse konzeptionelle Anlage mit Ansätzen zu einer historischen Differenzierung ist leider schlecht ausgeführt. Das betrifft speziell die Analyse der Architekturideologie und ihrer „Binnenlogik“. So ist im zweiten Kapitel bei der Beschreibung des Dogmas des „Sozialistischen Realismus in der Baukunst“ alles auf die Person Stalins konzentriert, anstatt die Mentalität zu untersuchen, die dessen Machtstellung und ihre Wirkungen erst möglich machte. Die Moderne davor, ab 1945 und bis 1951, und die danach, ab ca. 1957, nimmt Salomon als Konzepte nicht wirklich ernst. Die spätere Architektur subsumiert er zu sehr unter dem Begriff „Platte“. Das grundlegende Werk zum ersten Thema, Andreas Butters „Neues Leben – Neues Bauen“, hat er eher verdrängt als verarbeitet.5 Dagegen bezieht er sich unkritisch auf andere Vorgängerarbeiten, was selbst 2014, als ergiebige neuere Publikationen noch fehlten, nicht notwendig war.

Dem entspricht Salomons Sprache – eine Geschichtsschreibung ohne Plusquamperfekt. Sie macht es den Leserinnen und Lesern schwer, in den historischen Rückblicken die nötige Trennschärfe einzustellen, zumal sich der Autor unhaltbare Gleichsetzungen erlaubt, so die der Vorschläge der 1960er Allunionskonferenz zum Bauwesen mit dem Gartenstadt-Manifest Ebenezer Howards (S. 520f.). Der Text ist zudem durchsetzt mit klischeehaften Wendungen, die einen eher journalistischen Sprachgebrauch verraten. Von mangelnder Sorgfalt zeugt die miserable Qualität vieler Bilder. Zu alledem kommt das Fehlen eines Personenregisters, was bei einem Buch mit so vielen international bedeutsamen Akteuren unverzeihlich ist.

Am Ende der Kritik steht das Bedauern darüber, dass ein derart gut konzipiertes und gegliedertes Werk so wenige wirklich unbezweifelbare Feststellungen enthält. Der saloppe Umgang des Autors mit den Einzeldaten macht sogar viele seiner plausiblen Bewertungen unsicher. So ist eine wissenschaftliche vertiefte Betrachtung der DDR-Architektur des „Übergangs“ in ihrer historischen Spezifik nach wie vor erforderlich. Dafür hat das vorliegende Buch eine Reihe guter Anregungen gegeben, nicht weniger und nicht mehr.

Anmerkungen:
1 S. Werner Durth / Jörn Düwel / Niels Gutschow, Ostkreuz. Personen, Pläne, Perspektiven (Architektur und Städtebau der DDR, Bd. 1); dies., Aufbau. Städte, Themen, Dokumente (Architektur und Städtebau der DDR, Bd. 2), Frankfurt am Main 1998, mit dem kurzen, vereinfachten „Ausblick“ auf die folgenden zwei Jahrzehnte in Bd. 1, S. 526–537.
2 Roman Hillmann, Tradition und Typ. Lückenbauten und Kleinensembles in Berlin Weißensee 1955–1960, in: Andreas Butter / Ulrich Hartung (Hrsg.), Ostmoderne. Architektur in Berlin 1945–1965 (Ausst.-Kat.), Berlin 2004, S. 100¬–113; in der 2. Aufl. 2005 korrigiert.
3 Wolfgang Thöner, Der externe Bauhäusler; in: Thomas Flierl (Hrsg.), Bauhaus, Shanghai, Stalinallee, Ha-Neu. Der Lebensweg des Architekten Richard Paulick (Gegenstand und Raum, Neue Folge 1) (Ausst.-Kat.) Berlin 2020, S. 108–119.
4 Gerhard Zilling, Die neuen Wohnungstypen für die Großblockbauweise, in: Deutsche Architektur 6,3 (1957), S. 130f.
5 Andreas Butter, Neues Leben – neues Bauen. Die Moderne in der Architektur der SBZ-DDR 1945 bis 1951 (Forschungen zur Nachkriegsmoderne, hrsg. von Adrian von Buttlar) (zugl. Univ.-Diss. TU Berlin), Berlin 2006.

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