Cover
Titel
How Russia Learned to Talk. A History of Public Speaking in the Stenographic Age, 1860–1930


Autor(en)
Lovell, Stephen
Erschienen
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 83,70
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lorenz Erren, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Nach Worten des Autors ist das Thema dieses Buches „zugleich lächerlich weit gefasst und lächerlich eng“. Tatsächlich ist es ihm gelungen, seinen straffen roten Faden durch ein gründlich erforschtes Zeitalter so zu legen, dass sich wohl für alle Leser neue Einsichten ergeben. Seine Darstellung konzentriert sich zunächst auf die Praxis der Rhetorik – also auf die kulturellen, politischen, (verfassungs-)rechtlichen und technischen Rahmenbedingungen der öffentlichen Rede in Russland, wie auf die Mittel ihrer Dokumentation, Reproduktion, Rezeption und nicht zuletzt ihre politische Wirkung.

Lovell holt weit aus. Alle Foren und Formate des öffentlichen Redens versucht er zu erfassen. Im einleitenden Teil behandelt er die Geschichte der kirchlichen Predigt und des Predigens, des (privaten oder schulischen) Deklamierens im 18. und 19. Jahrhunderts sowie die Aufführungen des Theaters, das in den Haupt- und Provinzstädten Erfolge feierte. Selbst Universitätsvorlesungen prominenter Historiker finden Erwähnung, die sich um 1850 massenhaften Andrangs erfreuten und zu dem wurden, was man heute „Medienereignis“ nennt. Seine Sehnsucht nach einer Verfassung stillte das liberale Publikum einstweilen durch intensive Lektüre der Zeitungen, die immer ausgiebiger über die Entwicklung der parlamentarischen Praxis in Westeuropa berichteten.

Mit großer Genauigkeit schildert Lovell das Aufkommen und die Etablierung der Stenographie als Technik und Profession nebst ihren Rückwirkungen auf den Redner, Zuhörer und die Presseberichterstattung. Er warnt davor, die Grenze zwischen „Mündlichkeit“ und „Schriftlichkeit“ zu überschätzen. Die verbreitete Praxis des Vorlesens und Weitererzählens hätte dazu beigetragen, den lange sehr niedrigen Alphabetisierungsgrad, der um 1900 angeblich unter dem englischen des Jahres 1700 gelegen habe, zu kompensieren. Schließlich barg das Vorlesen die Chance, auch das rhetorische Pathos des Originals stimmlich und gestisch zu reproduzieren. Ein Leitmotiv in Lovells Darstellung bleibt die Frage nach dem Verhältnis der rhetorischen Kunst zur Authentizität. Traditionell begegnete man langen Reden in Russland mit Geringschätzung und Misstrauen. Rhetorische Brillanz erzielte mitunter den gegenteiligen Effekt, sie erzeugte eine Kluft zwischen Redner und Publikum.

Eine dammbrechende Wirkung schreibt Lovell den großen Reformen Alexanders II. zu. Die zwischen 1860 und 1917 eintretenden gesellschaftlichen Veränderungen zeichnet er entlang jener Situationen plastisch nach, in denen nun öffentlich über Recht, Verwaltung und Politik debattiert werden durfte. Die nunmehr nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführten öffentlichen Gerichtsverhandlungen sowie die Debatten der neuen Körperschaften der lokalen Selbstverwaltungen (Zemstvo) wurden stenographisch aufgezeichnet – und so zum Informationsrohstoff, den eine neue Zeitungspresse an ihr ständig wachsendes Lesepublikum weiterverkaufte. Da die öffentlichen Verhandlungen von Gerichten und Zemstvos keiner Vorzensur unterlagen, war dieses Verfahren nicht nur billig, sondern auch legal. Gerichtsreportagen stillten den Sensationshunger der Leserschaft, gaben aber auch Anstoß zu Diskussionen über soziale Reformen. Rechtsanwälte und Journalisten waren die großen Profiteure der Reformen. Erstere genossen das Privileg, zumindest während der Gerichtsverhandlungen unzensiert sprechen zu dürfen, was Letzteren zu hohen Zeitungsauflagen verhalf.

Die Gerichtsöffentlichkeit wurde somit zum Treibhaus politischer Talente. Anwälte erlangten hier die rhetorischen Fertigkeiten, die ihnen 1905 den Weg in das erste Parlament, die Staatsduma, ebneten – die meisten von ihnen als Vertreter der liberalen Kadettenpartei. Die Angeklagten ihrerseits präsentierten sich effektvoll als Märtyrer der revolutionären Bewegung. Wenn Lenin sich für den Beruf des Anwalts entschied und Stalin später den Schauprozess als Bühne zur finalen Demütigung seiner Gegner wählte, so handelten sie wohl im zeittypischen Glauben an die propagandistische Wirksamkeit von Gerichtsreportagen.

Eher beiläufig, ohne selbst darauf ausdrücklich hinzuweisen, schildert Lovell, wie die öffentliche Austragung von Konflikten auch die Integration des Imperiums beförderte. Am Beispiel der Publikationsumstände des Manifests über die Aufhebung der Leibeigenschaft von 1861 erkennt man die damalige Hilflosigkeit des Regimes beim Versuch, mit seinen bäuerlichen Untertanen in direkten Kontakt zu treten. Es bedeutete eine Revolution, wenn Bauern und Adlige im selben Raum saßen und gemeinsam über Fragen der lokalen Selbstverwaltung debattierten. Dass sich die russische Gesellschaft dennoch bald an die neuen Verhältnisse gewöhnte, war auch das Verdienst der Zeitungen, die umfangreich über die Arbeit der neuen Institutionen berichteten. Sie erzeugten den großen Aufmerksamkeitsstrudel, der nach und nach eben doch fast alle Schichten aller Regionen des zerklüfteten Riesenreiches in seinen Bann zog – und so eine zwar nicht ganz freie, aber dennoch „moderne“ Öffentlichkeit begründete.

Die Staatsduma stand als Institution vor einem ähnlichen Problem wie zuvor der einzelne Redner. Die Versuchung war groß, das Defizit an Macht durch rhetorische Schärfe auszugleichen. Doch die so erzielten Aufmerksamkeitserfolge bargen die Gefahr, vom Publikum als Ansammlung von Schreiern und Schwätzern wahrgenommen zu werden. Lovell beschreibt „dicht“, wie die Parlamentarier mit der neuen Situation umzugehen versuchten. Den Kadetten fiel es mitunter schwer, sich vom Habitus des Anwalts zu lösen, der eben doch eher als schillernde Figur denn als Freiheitsheld wahrgenommen wurde. Abgeordnete der Rechten neigten ohnedies zur Eskalation: Durch Beleidigungen und Verleumdungen suchten sie, Schlagzeilen zu erhaschen und die Duma als Organ zu diskreditieren. Umso größer erscheinen vor diesem Hintergrund die Verdienste des Sprechers Sergej Muromcevs, der als Urheber und Interpret der neuen Geschäftsordnung erheblich dazu beitrug, dass die neue Volksversammlung sich trotz allem als Ort der zivilisierten Auseinandersetzung etablierte und bei regierungsnahen Eliten zunehmende Akzeptanz fand. Nicht nur der charismatische Politiker Petr Stolypin, sondern auch brave Ministerialbeamte erkannten bald, dass selbst eine oppositionell gestimmte Duma ihnen Chancen bot, den Amtsbonus zur Geltung zu bringen: Wer Attacken an sich abprallen ließ und unter ostentativem „Verzicht auf Rhetorik“ geduldig Auskünfte erteilte, erwarb sich bei allen Seiten Respekt.

Im Februar 1917 war die Stunde von Rednern gekommen, die nicht nur ihresgleichen, sondern auch die große Volksmenge zu begeistern wussten. Von allen Vertretern der provisorischen Regierung vermochte dies einzig Alexander Kerenski – dem jedoch die Statur fehlte, die Bolschewiki auf Dauer in Schach zu halten. Der Propagandasieg, den Letztere im Sommer und Herbst 1917 über Feinde und Konkurrenten errangen, erscheint bei Lovell nicht als Rätsel, sondern als Lohn für ihre Übung in der seltenen Kunst, ohne Scheu und Herablassung mit den Unterschichten zu reden, mithin einen Tonfall zu finden, der in ihren Ohren „authentisch“ klang. Von etwa 1930 an kam ihnen diese Fähigkeit wieder abhanden. Der Repressionsdruck der Stalinzeit ließ Funktionären nur noch wenig Raum zur persönlichen Profilierung. In der Begegnung mit der Basis verzichteten sie nun lieber auf Spontanität und hielten sich stattdessen immer bereitwilliger an vorab genehmigte Formulierungen. Eine Wendung, die mit dem Ende des „stenographischen Zeitalters“ zusammenfiel.

Die Stärke von Lovells Darstellung liegt in der Verschmelzung von Politik- und Mediengeschichte, wie ihrer Plastizität. Der Leser kann sich einbilden, er habe die Epoche der großen Reformen und Revolutionen selbst miterlebt. Dies geht nicht auf Kosten der Glaubwürdigkeit oder Genauigkeit, sondern verdankt sich den immensen Recherchen des Autors. So darf man dieses Buch bedenkenlos jedermann empfehlen, der sich in die politische und gesellschaftliche Welt des späten Zarenreiches einlesen will. Ein akademischer Rezensent muss es gleichwohl als Manko empfinden, dass der Autor auf jeden Versuch verzichtet, das von ihm so gelungen dargestellte Phänomen der (modernen, politischen, demokratischen, medialen, bürgerlichen, proletarischen, zivilgesellschaftlichen) „Öffentlichkeit“ theoretisch zu erfassen und in vertraute Großdeutungen einzubetten. Von wem, wenn nicht vom Autor dieses Buches, hätte man den Entwurf eines geeigneten Modells eher erwarten sollen? Künftigen Forschern hätte er die kritisch-produktive Auseinandersetzung mit seinen Erkenntnissen erheblich erleichtert.

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