In den letzten Jahren scheint die ohnehin eher randständige Beschäftigung mit Männlichkeit(en) sowohl in der historischen Holocaust- als auch der NS-Täter/innenforschung wieder etwas mehr ins Hintertreffen geraten zu sein. Männlichkeit wird zwar inzwischen oft „mitgedacht“, aber trotz wegweisender Studien1 bleibt ein eigenständiger Forschungszweig marginal. Diese Entwicklung ist angesichts der anerkannten Bedeutung der Kategorie Geschlecht kaum nachvollziehbar. Schon deswegen sollten Veröffentlichungen wie die aktuelle Studie von Veronika Springmann besondere Aufmerksamkeit erfahren. In ihrer nun veröffentlichten Dissertation widmet sich die Berliner Historikerin den ambivalenten Praktiken der Gewalt und des Sports in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Dabei verbindet sie Ansätze der Männlichkeitenforschung und Körpergeschichte mit der Gewaltforschung. Mithilfe unter anderem des soziologischen Konzepts der „hegemonialen Männlichkeit“ nach Raewyn Connell2 soll dem „doing gender“ in den Konzentrationslagern nachgegangen werden. Methodisch bedient sich die Arbeit zum einen bei der Oral History, indem neben Zeichnungen und Fotografien besonders lebensgeschichtliche Interviews als Quellen herangezogen werden. Zum anderen werden die Akteure praxeologisch in Beziehung zueinander gesetzt.
Mithilfe des Konzepts der „doing difference“ ist Springmann in der Lage, der Herstellung körperlicher Differenz durch den Sport nachzuspüren. Anhand der empirischen Beispiele des „Sportmachens“ als Gewaltpraxis ebenso wie des Fußballs und des Boxens als Selbstbehauptungspraktiken wird nicht nur die performative Trennung von Häftlingen und Aufseher/innen, sondern gleichsam die „Kooperationen und Netzwerkbildungen“ (S. 16) herausgearbeitet. Der Sport im Konzentrationslager führte demnach ein widersprüchliches Dasein, diente er einerseits doch der Herstellung von „Ordnung des sozialrassistischen und antisemitischen Diskurses“ (S. 19) im Lagersystem, während er andererseits zu den „Aneignungsstrategien der Häftlinge“ (S. 17) zu zählen ist, der als Spiel „ein bewusstes Heraustreten [der Häftlinge, Anm.] aus dem sonstigen Lageralltag“ (S. 28) ermöglichte. Diese Ambivalenz des Sports als Herrschaftstechnik sowie als widerständiges Vehikel und Überlebenstechnik verweist auf Räume und Grenzen ebenso wie auf Verschiebungen und Kontinuitäten im System der nationalsozialistischen Konzentrationslager.
Nachdem die Autorin einführend die Bedeutung des Sports als Erziehungs- und Disziplinierungsinstrument in preußischem Militär und Gefängniswesen beschrieben hat, befasst sich der erste empirische Abschnitt (Kap. 3) mit dem „Sportmachen“. Bereits in den „frühen“ Konzentrationslagern wurde die gewaltförmige Praxis des „Sportmachens“ angewandt und propagandistisch inszeniert, um das Vorgehen gegen jedwede politische Opposition zu legitimieren. In der „Dialektik von Vereinzelung und Vermassung“ (S. 84) zeigte sich die Perfidie des „Sportmachens“, denn die „schwachen“, oft älteren Häftlinge traten aus der Masse heraus. Neben der körperlichen Gewalt war die Demütigung zentraler Teil des „Sportmachens“, bei dem das „Scheitern“ intendiert war. Die Aufseher/innen wiederum konnten durch den oft stundenlangen Drill Differenz zwischen sich und den Häftlingen herstellen. Schon in der Frühphase verfolgte das „Sportmachen“ einen eliminatorischen Zweck, indem „Juden“ vom Männlichkeitsideal ausgeschlossen wurden. Gleichzeitig sollten so „arbeitsfähige“ von „arbeitsunfähigen“ Häftlingen selektiert werden. So gehört das stundenlange Strammstehen oder Kniebeugen zu den von Überlebenden besonders häufig beschriebenen Gewaltpraktiken, die von den Häftlingen zynisch-euphemistisch als „Sachsenhausengruß“ oder „Moorolympiade“ bezeichnet wurden. Selbst in der Kriegsendphase wurde die Praxis des „Sportmachens“ nicht aufgegeben.
In den Konzentrationslagern kam gleichsam ein Prämiensystem zur Anwendung, das Anreize schuf und die Arbeitsproduktivität erhöhen sollte. So erlaubten Lagerleitungen um 1942/43 den Häftlingen das Fußballspiel (Kap. 4). Mannschaften wurden zumeist von Funktionshäftlingen nach Nationalitäten („Tschechen“), Häftlingsgruppen („Die Roten“), anderen Lagern („Auschwitzer“) oder Arbeitskommandos („Plantage“) aufgestellt. Die Spiele, die einen „ausgeprägten Unterhaltungscharakter“ (S. 185) hatten, waren keineswegs spontan, viele fanden an den seit 1942 arbeitsfreien Sonntagen statt. Nicht nur Häftlinge und SS-Aufseher waren als Zuschauende zugegen, teilweise sollen auch Zivilist/innen in die Lager gekommen sein, um den Spielen beizuwohnen. Sogar Pokale wurden verliehen. Sie trugen symbolisch dazu bei, dem „Verlust der Zukunft“2 (Wolfgang Sofsky) eine Perspektive entgegenzusetzen, hatten die Trophäen doch eine überzeitliche Dimension. So deutet Springmann das Fußballspiel als Akt der Selbstbehauptung und des Widerstands, in dem die Verletzlichkeit des Körpers in Stärke umgewandelt und der Überlebenswille der Häftlinge gestärkt wurde. Sogar der Begriff „Tor“ erhielt als Allegorie der Freiheit eine gesonderte Bedeutung.
Deutlicher als beim Fußball trete „[d]er ‚physische Charakter‘ der Macht“ (S. 208) beim Boxen hervor (Kap. 5). Hier waren die Häftlinge stärker der Gunst der SS-Aufseher oder der Funktionshäftlinge ausgesetzt, die oft die Boxer aussuchten und bestimmten, wer gegen wen kämpfen musste. Die Gegensätze von körperlicher Stärke und Schwäche im Konzentrationslager führten bei den Boxkämpfen zu paradoxen Situationen, bedurfte die „Inszenierung“ doch eines Publikums, wie schon Eugen Kogon feststellte. Da waren die „Bullen, die sogar Schauvorstellungen ihrer ungebrochenen Kraft und Geschicklichkeit im Hiebeausteilen gaben.“ Und dann gab es „die Schwachen, soweit sie noch gehen konnten, die Ausgemergelten, die Halbtoten auf schwankenden Beinen, die Ausgehungerten“, die „mit Vergnügen zu[sahen].“4 Springmann widmet sich anhand der Leidenswege der Boxer Johann Wilhelm Trollmann, Salamo Arouch und Antoni Czortek und der Überlebenden-Berichte über die ausgetragenen Boxkämpfe den Ambivalenzen von Demütigung und Selbstbehauptung durch das Boxen im Konzentrationslager. Der Zugang zu Lebensmittelrationen war zugleich Voraussetzung und Motiv, um an Boxkämpfen teilnehmen zu können. Gleichzeitig war das Verletzungsrisiko sehr hoch, zumal oft ohne Handschuhe gekämpft werden musste – und eine Verletzung im Lager lebensgefährlich sein konnte. So zeigen sich verkörperlichte Männlichkeitsvorstellungen von „stark“ und „schwach“ besonders beim Boxen.
Ein Wermutstropfen bleibt: Denn die Anwendung des Connell‘schen Konzepts hegemonialer Männlichkeit erfolgt keineswegs konsequent. Connell stellt der hegemonialen nämlich untergeordnete (wie homosexuelle) und marginalisierte (wie beispielsweise jüdische) gegenüber sowie komplizenhafte Männlichkeiten beiseite. Wie Springmann jedoch die geschlechtlichen Konnotationen jenes komplexen Wechselverhältnisses zwischen Häftlingen und Aufsehern, aber auch der Häftlingsgruppen untereinander aufzeigt, macht ihr Buch lesenswert. Vereinzelte Ungenauigkeiten lassen sich verschmerzen: So ist von der „Auflösung der SA“ (S. 108) die Rede, wenn eigentlich die Auflösung der „frühen“ Konzentrationslager und die Ablösung der SA-Wachmannschaften durch die SS gemeint ist. So hat Springmann eine überaus instruktive und übersichtliche Studie vorgelegt, die die Sportgeschichte des Nationalsozialismus um einen bisher vernachlässigten Aspekt bereichert.
Anmerkungen:
1 Als hervorzuhebende Ausnahme siehe Paula Diehl, Macht – Mythos – Utopie. Die Körperbilder der SS-Männer, Berlin 2005; Christopher Dillon, Dachau and the SS. A Schooling in Violence, Oxford 2015. Zum Forschungsstand siehe Anette Dietrich, Ljiljana Heise (Hrsg.), Männlichkeitskonstruktionen im Nationalsozialismus. Formen, Funktionen und Wirkungsmacht von Geschlechterkonstruktionen im Nationalsozialismus und ihre Reflexion in der pädagogischen Praxis, Frankfurt am Main 2013.
2 Raewyn Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen 2000 [englisch zuerst: Masculinities, Cambridge 1995].
[3] Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt am Main 1993, S. 105.
4 Eugen Kogon, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, München 1974, S. 152.