Cover
Titel
Die Erhaltung der Sicherheit. Deutscher Bund, politische Kriminalität und transnationale Sicherheitsregime im Vormärz


Autor(en)
Tyrichter, Jean Conrad
Reihe
Studien zu Policey, Kriminalitätsgeschichte und Konfliktregulierung
Erschienen
Frankfurt am Main 2019: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
X, 470 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicole Wloka, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Geschichtsschreibung zur deutschen Staatswerdung im 19. und 20. Jahrhundert war lange Zeit einer streng nationalen Perspektive verpflichtet. Zugespitzte Überlegungen eines deutschen Sonderweges haben dabei Attribute wie „verspätet oder rückständig oder vormodern, wie es immer noch mit Blick auf die damals fehlenden zentralstaatlichen Institutionen behauptet wird“1 salonfähig gemacht. Die „Überwindung der borussischen Dogmen“2, die seit Mitte der 1830er-Jahre unter zunehmend national-liberalen Vorstellungen Affinitäten zu einer kleindeutschen Lösung entwickelten und schließlich mit dem Ziel, das Kaiserreich historisch zu legitimieren, durch eine preußenzentrierte Geschichtsschreibung für beinahe ein Jahrhundert den Blick auf die mehrdimensionalen Ordnungsstrukturen des Deutschen Bundes im Vormärz verstellten, markiert ein leitendes Forschungsinteresse aktueller Bund-Forschung. Dabei wird eines schnell deutlich: Das vermeintlich überforschte 19. Jahrhundert offenbart sich in Bezug auf seinen zeitlich dominierenden politischen Körper, den Deutschen Bund, als nachgerade unterforscht.

Beeindruckende Forschungsergebnisse jüngerer Zeit, die sowohl den Gesamtbund als auch zentrale politische Akteure in den Fokus stellen, zeigen fast schon als obiter dictum, dass gängige geschichtswissenschaftliche Beschreibungsbegriffe, beispielsweise eines stringent begriffenen System Metternich oder eines Zeitalters der Restauration, bald selbst ad acta gelegt werden könnten. Flankiert werden diese Forschungsergebnisse durch eine Reihe neuerer Darstellungen spezifischer Einzelaspekte der Bundesgeschichte, vornehmlich zur vormärzlichen Kommunikationskontrolle und Zensur3, aber auch zur Universitätspolitik des Bundes.4 Mit „Die Erhaltung der Sicherheit. Deutscher Bund, politische Kriminalität und transnationale Sicherheitsregime im Vormärz“ hat Jean Conrad Tyrichter nun einen weiteren Aspekt des Bundesregimes neu beleuchtet.

Die auf seiner Dissertation aus dem Jahr 2017 aufbauende (straf-)rechtshistorische Darstellung verfolgt die Zielstellung, die sicherheitspolitischen Maßnahmen gegen politische Kriminalität im Deutschen Bund für den Zeitraum des Vormärz aus einer möglichst „ganzheitlichen“ Perspektive zu rekonstruieren und zu analysieren (S. 417). Damit wählt Tyrichter einen historisch-konstruktivistischen Ansatz, dessen Stärke sich in einer ganzheitlichen primär diskursgeschichtlichen Zugriffsvariante zeigt. Überzeugend nähert er sich der Komplexität des Mehrebenensystems des Deutschen Bundes über eine „Regime-Perspektive“ (S. 6), unter welcher in der Forschung „ein sektoral eingrenzbares Bündel von Normen, Diskursen und Praktiken verstanden“ wird, „die der Bewältigung eines spezifischen transnationalen Problem- oder Regelungsfelds dienen“ (S. 5f.). Die vorgelegte Untersuchung stellt insofern eine Geschichte „transnationaler Sicherheitsregime“ im Vormärz dar.

In zwei jeweils weitgehend chronologisch aufgebauten Hauptkapiteln widmet sich Tyrichter dabei ausführlich den transnationalen Sicherheitsregimen innerhalb des Deutschen Bundes (S. 83–315), bevor er „Normen, Diskursen und Praktiken“ in Beziehungen zu außerdeutschen Staaten nachgeht (auch diese bezeichnet er als transnationale Sicherheitsregime) (S. 317–416). Einer der am Ende vermeintlich wenig überraschenden Hauptaussagen folgend – so zeigen die Sicherheitsregime Phasen der „Verdichtung“ und „Entspannung“, Tyrichter verwendet hierfür „Versicherheitlichung“ und „Entsicherheitlichung“ (S. 11, S. 417) – dient als Zäsur für beide Hauptkapitel die Julirevolution von 1830 (Untersuchungszeitraum: 1819–1827 und 1830/33–1842).

Entsprechend der Vormärz-Chronologie umfasst das erste Hauptkapitel (S. 83–315) alle bekannten „Größen“: Von den Karlsbader Beschlüssen über die Mainzer Zentraluntersuchungskommission bis zur Frankfurter Bundeszentralbehörde und der Gründung des Informationsbüros im Zuge des Hambacher Festes 1832. Dargestellt werden zudem Fallbeispiele von Jurisdiktionskonflikten sowie Initiativen und Modelle zur Ausbildung und schließlich Weiterentwicklung von Justiz- und Polizeikooperation im Deutschen Bund.

Eingängig erscheint Tyrichters Darstellung in der quellenreichen Aufbereitung der konkreten Aushandlungspraxis auf Bundesebene. Im Nachgang zu Wolfram Siemann5 kann hierbei eine vielfach „moderierende“ Rolle Österreichs herausgearbeitet werden. So entschärfte Metternich beispielsweise den auf den im Zuge der Karlsbader Konferenzen beauftragten Entwurf zur Einrichtung einer Zentral-Untersuchungskommission erfolgenden deutlich darüber hinausgehenden Gegenvorschlag Preußens in der Forderung nach einem Bundesgericht mit der Begründung, dass „das eigentliche Ausmaß der Untersuchungen und der wirklich ermittelbaren Hochverräter noch gar nicht abzusehen sei“, sodass ein Bundesgericht erst dann eingerichtet werden sollte, „wenn durch polizeiliche Untersuchungen zweifelsfrei sichergestellt wäre, dass ein Bundesgericht wirklich gerechtfertigt sei“ (S. 106).

Tyrichter zeichnet das Bundesregime insgesamt als kein „Reaktionssystem“ (S. 309), sondern vielmehr als ein reaktives, mit in „Krisensituationen zu beobachtenden reflexhaften und inflationären Erlasse[n] sicherheitspolitischer Bestimmungen“ (S. 418). Entgegen der nach Tyrichter in der Strafrechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts regelmäßig betonten „Modernisierungseffekte“ (S. 315), verweise seine Darstellung durch den Rückgriff des Bundes auf etablierte sicherheitspolitische und strafrechtliche Instrumente des Alten Reichs als „wichtiges Ergebnis“ hingegen auf „Kontinuitätslinien zur Vormoderne“ (S. 315).

Im zweiten vergleichsweise kurzen und in Bezug auf die sogenannten „Flüchtlingsverzeichnisse“ (vergleiche S. 351f. sowie S. 408–413) leicht repetitiven Hauptkapitel (S. 317–416) widmet sich Tyrichter dem Bundesregime in Beziehung zu außerdeutschen Staaten – darunter Frankreich, Belgien, der Schweiz und Großbritannien. In der Entwicklung betrachtet werden dabei zentrale Problemfelder von „politischer Kriminalität“ und „politischen Flüchtlingen“, Auslieferung und Polizeikooperation vor und nach der Julirevolution 1830.

Setzte eine „Entpolitisierung“ schwerer Delikte auf europäischer Ebene erst nach der Revolution von 1848/49 ein (S. 371), zeigt Tyrichter dabei trotz der Nichtauslieferungspraxis der Beispielländer Frankreich und Belgien einen im Zuge der Julirevolution einsetzenden Wandel, durch welchen sich „eine idealisierte Vorstellung des politischen Kriminellen als Mitglied des ‚juste milieu‘“ sukzessive „um das Bild des aufgrund seiner Herkunft und Handlungsweisen ‚asozialen‘ Gewalttäters ohne echte politische Motive“ (S. 372) ergänzt habe. Als „komplementär und kompensatorisch“ zu Entwicklungen wie dem politischen Asyl habe nach Tyrichter dabei eine zunehmende „Trennung von justiziellen und polizeilichen Elementen und Funktionen“ sowie die Herausbildung differenzierter polizeilicher und nachrichtendienstlicher Verfahren gewirkt (S. 419).

Die Darstellung ist in ihrem klugen Zugang und ihrer quellenreichen Gesamtleistung zweifelsfrei zu würdigen. Markant ist die zum Teil deutliche Abgrenzung zu Adam Zamoyskis „Phantome des Terrors“6 (vergleiche S. 44, S. 120, S. 421), gleichwohl Tyrichters Forschungsleistung auch als Beitrag zu einer Terrorismusgeschichte des 19. Jahrhunderts eingeordnet werden kann.7 Nicht unproblematisch erscheint hingegen, wie an anderer Stelle ausführlich diskutiert worden ist8, die gleichwertige Konzeption transnationaler Regime für die Einzelstaaten innerhalb des deutschen Bundes als auch die außerhalb dargestellten Staaten auf europäischer Ebene. Die Mitglieds-, Glied- oder Einzelstaaten des 1815 explizit gegen eine bundesstaatliche Lösung gegründeten Staatenbundes konzipiert Tyrichter dabei als „vollwertige Nationalstaaten“ (S. 8). Jenseits dieser (Trans-)Nationalstaatsproblematik kann die von der Bund-Forschung weitgehend abweichende terminologische Verwendung von Bundesstaaten, Bundesregierungen und „bundesstaatlicher Souveränität“ (S. 158) (gemeint ist hier die einzelstaatliche Souveränität) für staatsorganisatorisch ungeschulte Leserinnen und Leser gegebenenfalls irreführend wirken. Schlichtweg falsch ist hingegen das offenkundige Versehen, den Deutschen Bund als „Staatenbund mit staatenbündischen Elementen“ (S. 3) (korrekt: „Staatenbund mit bundesstaatlichen Elementen“) zu beschreiben, das in einer weiteren Auflage dieser rechtshistorischen Studie aber leicht behoben werden könnte.

Anmerkungen:
1 Wolfram Siemann, Vom Staatenbund zum Nationalstaat. Deutschland 1806–1871, München 1995, S. 15.
2 Ralf Zerback, Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Abteilung II: Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes 1830–1848. Bd. 1: Reformpläne und Repressionspolitik (1830–1834), München 2003, S. XVI.
3 Zum Beispiel: Gabriele B. Clemens (Hrsg.), Zensur im Vormärz. Pressefreiheit und Informationskontrolle in Europa, Schriften der Siebenpfeiffer-Stiftung, Bd. 9, Memmingen 2013. Für die einzelstaatliche Ebene insbesondere: Bärbel Holtz, Preußens Zensurpraxis von 1819 bis 1848 in Quellen, Acta Borussica Neue Folge, 2. Reihe: Preußen als Kulturstaat, hrsg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter Leitung von Wolfgang Neugebauer, Bde. 6/1 und 6/2, Berlin u.a. 2015.
4 S. insbesondere Andreas C. Hofmann, Deutsche Universitätspolitik im Vormärz zwischen Zentralismus, Transstaatlichkeit und Eigenstaatlichkeitsideologien (1815/19 bis 1848), München 2014.
5 Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München 2016.
6 Adam Zamoyski, Phantome des Terrors. Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit. 1789–1848, München 2016 (Originalveröffentlichung 2014 in London).
7 Siehe hierzu weiterführend Moritz Florin, Auf dem Weg zu einer Globalgeschichte politischer Gewalt. Ein Forschungsbericht zur Geschichte des Terrorismus im langen 19. Jahrhundert, in: H-Soz-Kult, 30.08.2019, <www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-4254> (08.06.2020).
8 S. Marko Kreutzmann, Rezension zu: Jean Conrad Tyrichter, Die Erhaltung der Sicherheit. Deutscher Bund, politische Kriminalität und transnationale Sicherheitsregime im Vormärz, in: Historische Zeitschrift 310 (2020), S. 216–218.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension