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Titel
Hundertfünfzig Jahre Commerzbank. 1870–2020. Herausgegeben von der Eugen-Gutmann-Gesellschaft


Autor(en)
Paul, Stephan; Sattler, Friederike; Ziegler, Dieter
Erschienen
München 2020: Siedler Verlag
Anzahl Seiten
712 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Gehlen, Historisches Institut, Universität Stuttgart

Die Commerzbank stand in ihrer Geschichte ebenso wie in der Geschichtsschreibung durchgängig im Schatten anderer Großbanken. Sie war volkswirtschaftlich nie so bedeutend wie der Branchenprimus Deutsche Bank und betriebswirtschaftlich weniger krisenanfällig sowie politisch unauffälliger als die Dresdner Bank, die 2008/09 von der Commerzbank übernommen wurde. Im Gegensatz zu nahezu allen anderen großen deutschen Geschäftsbanken – mit Ausnahme der Deutschen Bank – konnte die Commerzbank gleichwohl im vergangenen Jahr ihren 150. Geburtstag als selbstständiges Kreditinstitut feiern. Selbstverständlich bzw. zwangsläufig war dies nicht, wie die nunmehr erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung der Bank profund und überzeugend darlegt.

Die Darstellung ist in drei größere chronologische Abschnitte gegliedert, die jeweils von ausgewiesenen Sachkenner:innen verantwortet wurden. Dieter Ziegler untersucht die Zeit von der Gründung der Commerzbank 1870 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, Friederike Sattler die Entwicklung in den Besatzungszonen und der „alten“ Bundesrepublik (bis 1989) und Stephan Paul widmet sich den letzten gut dreißig Jahren. Auch wenn die Schwerpunkte in den jeweiligen Zeitabschnitten notwendigerweise unterschiedlich gesetzt werden, strukturiert die Heuristik des „Geschäftsmodells“ die jeweiligen Kapitel. Sie wird einleitend knapp theoretisch begründet und auf drei maßgebliche und miteinander verflochtene Analysestränge ausgefluchtet: erstens die Vorstellungen, wie Werte geschaffen werden sollten und worin die Wettbewerbsvorteile der Bank jeweils lagen, zweitens exogene Einflüsse – politische, rechtliche, demographische technische, gesellschaftliche Rahmenbedingungen – und die geschäftspolitische Reaktion sowie drittens das spezifische Wissen innerhalb der Bank als maßgebliche (und pfadprägende) Ressource.

Auch wenn eine solche Fokussierung naheliegend erscheinen mag, so funktioniert sie doch sehr gut, um einerseits eine durchgängige Perspektive zu entwickeln, andererseits aber Raum für die (zahlreichen) Besonderheiten des jeweiligen Zeitabschnitts zu lassen. Diese Besonderheiten zeigten sich bereits am Beginn der Commerzbank-Geschichte, denn bei ihrer Gründung in Hamburg wurde die Bank keineswegs als künftige deutsche Großbank konzipiert. Vielmehr füllte sie zunächst eine Lücke in der Finanzierung des Außenhandels und fungierte als merchant bank, einem in England verbreiteten, in Deutschland jedoch kaum geläufigen Banktypus. Zudem kämpfte sie, nicht zuletzt aufgrund einer verfehlten Personalpolitik, mit erheblichen Startschwierigkeiten, die unter anderem den eng gesteckten Zielsetzungen der Gründungsaktionäre – vor allem Hamburger Privatbankiers – geschuldet waren. Allmählich verschoben sich jedoch die Entscheidungskompetenzen auf die Geschäftsführung, die maßvoll, aber zielstrebig den Geschäftskreis der Commerzbank über Hamburg hinaus ausdehnte. Vor allem gelang es der Bank, sich durch Übernahmen in Berlin zu etablieren und damit vom dortigen aufstrebenden Finanzplatz zu profitieren. Die frühen Engagements in Frankfurt verliefen hingegen weniger erfolgreich.

Bereits früh setzte die Commerzbank auf das Depositengeschäft, sie dehnte ihr Geschäft also geographisch und sachlich aus, indem sie in der Fläche Kundengelder annahm und so ihre finanzielle Basis erweiterte. Auch weil die Commerzbank kleiner war als die Konkurrentinnen Deutsche und Dresdner Bank, war der stärkere Fokus auf die Eingliederung von Banken in Mittelstädten in Teilen erzwungen, da die beiden anderen Großbanken sich in den Großstädten besser positionieren konnten. Mit der Übernahme der Mitteldeutschen Privat-Bank gelang es der Commerzbank jedoch 1920, sich selbst endgültig als Großbank zu etablieren. Die Übernahme der Mitteldeutschen Creditbank 1929 festigte diese Position. Die Commerzbank verfügte über ein besonders dichtes Filialnetz, auch wenn sie in Süddeutschland noch nicht Fuß fassen konnte. Durch ihre vergleichsweise starke Expansion in der Fläche verfügte sie über einen größeren Anteil an mittelständischen Firmenkunden als die stärker auf die Großindustrie ausgerichteten Institute – eine betreuungs- und damit kostenintensive Struktur, die die Geschäftspolitik der Bank lange bestimmte.

Dies erwies sich in der Bankenkrise 1931 zumindest nicht als Nachteil. Auch wenn die Bank ihre eigenen Finanzskandale zu verzeichnen hatte – hierbei waren vor allem die Beziehungen zur Schultheiß-Brauerei und deren Eigner Ludwig Katzenellenbogen problematisch –, überstand sie die Krise besser als viele Konkurrentinnen und hätte beinahe die größere Dresdner Bank übernommen. Auf Wunsch und schließlich mit Hilfe des Deutschen Reichs integrierte sie aber „nur“ den Barmer Bankverein und festigte dadurch ihre Position in Rheinland-Westfalen. Im Zuge dessen war allerdings der Fiskus Mehrheitsaktionär geworden, doch wie andere Banken auch wurde die Commerzbank nach erfolgreicher Restrukturierung des Bankwesens 1936 reprivatisiert. Bis dahin hatte sie sich auch unter den neuen Machthabern als verlässlich erwiesen und die gewünschten personellen Änderungen – Entlassung „nicht-arischer“ Beschäftigter und Gremienmitglieder, Eintritt von Vorstandsmitgliedern in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) – pragmatisch, wenn auch nicht aus politischer Überzeugung, durchgeführt. Sowohl bei der „Arisierung“ als auch der Übernahme von Banken in den besetzten Gebieten seit 1938 tat sich die Commerzbank nicht so stark hervor wie die Dresdner oder die Deutsche Bank. Moralische Gründe gab es dafür freilich nicht, sondern sie war häufig schlicht nicht schnell genug.

Nach dem Zweiten Weltkrieg prägten zunächst die Auswirkungen der alliierten Bankpolitik, die Dezentralisierung, die geschäftliche Realität aller Großbanken. Trotz der schwierigen Startbedingungen konnte die Commerzbank durch Ausweitung des Industriekredits sogar Marktanteile gegenüber den beiden anderen Großbanken hinzugewinnen, während gleichzeitig mit den Genossenschaftsbanken und vor allem den Sparkassen ernstzunehmende Wettbewerber insbesondere in das Mittelstandsgeschäft vordrangen. Der Gruppenwettbewerb prägte das Bankwesen der „alten“ Bundesrepublik stark und wurde durch die steigenden Masseneinkommen erheblich forciert. Entsprechend weitete die Commerzbank ihr Privatkundengeschäft und damit auch das Netz der Geschäftsstellen aus.

Parallel dazu engagierte sich die Commerzbank zunehmend in den internationalen Märkten. Diese Wachstumsstrategie geriet 1979 zur Belastungsprobe, als sich für die Bank langfristige Kreditengagements mit nicht kalkulierbaren Währungskrisen und Verschuldungsproblemen in Schwellenländern zu einer substantiellen Krise auswuchsen. Die Commerzbank überstand diese Krise zwar, aber die 1970er- und 1980er-Jahre zeigten besonders die gestiegene Volatilität in den Finanzmärkten, die sich in den Folgejahrzehnten fortsetzte und in der Bankenkrise 2008/09 den vorläufigen Höhepunkt erreichte.

Die Planungshorizonte wurden kürzer und das letzte Kapitel des Buchs vermittelt insofern einen recht „gehetzten“ Eindruck, als gleichsam permanent über Neupositionierungen berichtet wird: Probleme im zunehmend weniger ertragreichen Filialgeschäft, Fehlschläge im Investmentgeschäft, das sich sowohl betriebswirtschaftlich als auch unternehmenskulturell nur schwierig integrieren ließ, die Vertiefung des Immobilien- und Staatsfinanzierungssegments durch Übernahme der Eurohypo, die Re-Etablierung als explizite Mittelstandsbank und die kurz vor der Finanzkrise projektierte, auf deren Höhepunkt realisierte und mehrfach nachverhandelte Integration der Dresdner Bank schufen einen permanenten Veränderungsdruck. Wie sehr sich die Bankwelt verändert hat, zeigen in diesem letzten Teil auch Formulierungen, die für Historiker:innen gewöhnungsbedürftig sein dürften, etwa, dass „angesichts des frühen Stadiums diesbezüglicher Einblicke vor allem in den Themen Investmentbank, Monoliner-Exposure, SPVs, Funding und Leveraged-Buyout-Buch der Dresdner Bank […] eine Prognose zur Transaktionswahrscheinlichkeit verfrüht“ sei (S. 552).

Das Buch geht freilich weit über die hier nur allgemein wiedergegebenen Entwicklungslinien hinaus und behandelt zum Beispiel das Führungspersonal sowie die Professionalisierung des Personals inklusive der steigenden Bedeutung weiblicher Arbeitskräfte angemessen mit. Bemängeln ließe sich hierbei allenfalls, dass auf eine Übersicht von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern im Anhang verzichtet wurde. Die Studie ist zudem im besten Sinne kritisch: Sie ordnet ihre Befunde souverän in den Forschungsstand ein, ohne zu beschönigen oder aber zu skandalisieren. Besonders Dieter Ziegler kann seine Ausführungen aufgrund des vergleichsweise guten Kenntnisstands für die Zeit bis 1945 umfassend mit bisherigen Erträgen abgleichen, was er jedoch gleich so überzeugend macht, dass sich sein Kapitel gleichsam wie eine Gesamtdarstellung der deutschen Bankengeschichte bis 1945 liest. Friederike Sattler und Stephan Paul leisten insbesondere für die Zeit seit den 1970er-Jahren Pionierarbeit, was nicht minder verdienstvoll ist. Da es der Darstellung vorzüglich gelingt, auch kompliziertere bankwirtschaftliche Spezifika mit allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu verbinden, ist sie keineswegs nur explizit bankhistorisch oder -wirtschaftlich Interessierten uneingeschränkt zur Lektüre zu empfehlen. Vielmehr ist ihr eine breite Rezeption zu wünschen, insbesondere auch in der allgemeinen Geschichtswissenschaft, die sich zunehmend für finanzhistorische Fragen interessiert. An dieser Studie zur Commerzbank werden sich jedenfalls alle künftigen Bankgeschichten messen lassen müssen.

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