Title
Ghost Citizens. Jewish Return to a Postwar City


Author(s)
Krzyzanowski, Lukasz
Published
Cambridge, Mass. 2020: Harvard University Press
Extent
352 S.
Price
€ 31,50
Reviewed for H-Soz-Kult by
Markus Nesselrodt, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder

Der Warschauer Historiker Łukasz Krzyżanowski widmet sich in seiner Studie der Nachkriegsgeschichte der jüdischen Gemeinde in der zentralpolnischen Stadt Radom. Die vorliegende englische Übersetzung ist eine überarbeitete Fassung des preisgekrönten polnischen Originals aus dem Jahr 2016, das in der dortigen historisch interessierten Öffentlichkeit seinerzeit zurecht viel Aufmerksamkeit erhalten hat. Denn es fügt sich nahtlos ein in eine Serie vielbeachteter Studien über das Leben von Holocaust-Überlebenden in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Polen.1

Krzyżanowski geht es darum, die Lebensrealitäten der Holocaust-Überlebenden in Radom zu rekonstruieren, einer Stadt, die er als durchaus repräsentativ für andere kleine und mittlere Städte in Zentralpolen betrachtet. Wie er eindrucksvoll zeigt, war die Lage der jüdischen Rückkehrer/innen aus Zwangsarbeit, KZ-Haft, Versteck oder sowjetischem Exil hochgradig prekär. Antisemitisch motivierte physische Gewalt, verbale Einschüchterung und Drohungen waren in der polnischen Übergangsgesellschaft zwischen deutscher Besatzung und erneuter Fremdherrschaft unter sowjetischer Hegemonie weit verbreitet. Es ist mittlerweile für die polnische Nachkriegsgesellschaft gründlich nachgewiesen worden, dass eine tiefgreifende Entfremdung zwischen polnischen Jüdinnen/Juden und Christ/innen zu den wesentlichen Kriegsfolgen zählte.2 Nur vor diesem Hintergrund ist die über die Kriegszeit hinaus anhaltende Gewalt gegen jüdische Holocaust-Überlebende in fast allen Teilen Polens überhaupt verständlich.

Die Folgen der nationalsozialistischen Propaganda und Herrschaftspraxis wirkten sich zudem auch auf jene Polinnen und Polen aus, die unter Einsatz ihres eigenen Lebens Juden versteckt hatten oder ihnen anderweitig zu Hilfe gekommen waren. Anders als in den ehemaligen deutschen Ostgebieten, in denen Menschen aus vielen Teilen des polnischen Vorkriegsterritoriums angesiedelt wurden, kannten sich in Zentralpolen die Menschen, die nun nach Jahren der deutschen Besatzung, Verfolgung und Gewalt wieder aufeinandertrafen. Hier setzt Krzyżanowski an. Im ersten von vier Kapiteln widmet er sich der multiethnischen Bevölkerung Radoms vor und während des Krieges und zeichnet die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Einwohner/innen durch die deutschen Besatzer nach. In den verbleibenden drei Kapiteln stehen der Aufbau einer Nachkriegsgemeinde, die Erfahrungen mit antijüdischer Gewalt und der häufig vergebliche Kampf um die Rückerstattung des geraubten Eigentums im Vordergrund.

Krzyżanowski betrachtet Radom als typische polnische Provinzstadt der Vorkriegszeit (S. 5). Von den 90.000 Einwohnern der Stadt war im Jahr 1939 etwa ein Drittel jüdischen Glaubens. Deren sozio-ökonomische Lage unterschied sich kaum von anderen, vergleichbar großen Städten in Polen. Mit ihrem vielfältigen religiösen und politischen Leben war Radoms jüdische Bevölkerung durchaus ein Abbild der jüdischen Welt im Vorkriegspolen: Assimilierte Jüdinnen und Juden, Sozialist/innen, Orthodoxe, Zionist/innen und Bundist/innen, die sich auf Polnisch, Jiddisch und/oder Hebräisch verständigten, prägten das öffentliche jüdische Leben der Stadt. Wenngleich die jüdische Community keineswegs isoliert von der christlichen Mehrheitsbevölkerung lebte, konstatiert Krzyżanowski für die Zwischenkriegszeit eine zunehmende Spaltung entlang ethnischer Grenzen. Auch in Radom nahmen antisemitische Einstellungen im Zuge der wirtschaftlichen und politischen Krise zu. Gegenseitige Distanz, Abneigung und Vorurteile charakterisierten demnach den Alltag zwischen Jüdinnen/Juden und Christ/innen in der Stadt schon vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs.

Die deutsche Besatzung Radoms vertiefte den Graben zwischen beiden Gruppen noch weiter. Radom wurde von den Besatzern zum Verwaltungssitz eines von zunächst vier Distrikten im Generalgouvernement bestimmt und von Beginn an wirtschaftlich ausgebeutet. Die lokale Waffenfabrik wurde der NS-Kriegswirtschaft unterstellt; bald wurde sie zum Einsatzort für jüdische und nichtjüdische Zwangsarbeiter/innen. Auch in Radom quälten und beraubten die Deutschen die jüdische Bevölkerung, bevor sie diese in Ghettos sperrten und wenig später ermordeten. Nach der Auflösung der beiden seit April 1941 bestehenden Ghettos im August 1942 verblieben lediglich 3.000 jüdische Zwangsarbeiter/innen in Radom. Nur einige hundert von knapp 30.000 Jüdinnen und Juden aus Radom überlebten das Ghetto, die Zwangsarbeit und die sogenannten Todesmärsche der letzten Kriegstage. Die christlichen polnischen Nachbar/innen verhielten sich in Radom ähnlich wie andernorts auch: Wenige halfen, viele schauten indifferent zu, einige bereicherten sich auf Kosten der Jüdinnen und Juden. Dieses Verhalten prägte die Beziehungen zwischen Christ/innen und Jüdinnen/Juden in der Stadt über den Krieg hinaus, denn auch nach Kriegsende blieb Empathie für die Leidenserfahrung der jüdischen Nachbarn eine Ausnahme.

Bald nach der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee im Januar 1945 kehrten die ersten jüdischen Überlebenden nach Radom zurück bzw. ließen sich Jüdinnen und Juden aus anderen Landesteilen vorübergehend in der Stadt nieder. Hier beginnt nun der Hauptteil der Studie. Krzyżanowski verortet die jüdische Nachkriegscommunity innerhalb der christlichen Mehrheitsbevölkerung Radoms. Er hebt ihre Schicksale hervor, ohne den nichtjüdischen Kontext zu vernachlässigen. Das ist deshalb so wichtig, weil Radom im Jahr 1945 eben keine jüdische Stadt mehr war. Unter den verbliebenen 60.000 Einwohner/innen bildeten die Juden eine verschwindend kleine Minderheit. Während die christlichen Einwohner/innen mehr oder weniger an ihr Vorkriegsleben anknüpfen konnten, standen die Jüdinnen und Juden Radoms vor den Ruinen ihrer Existenzen. Alle hatten Angehörige und Bekannte verloren; ihre alten Wohnungen, Häuser und Geschäfte waren entweder zerstört oder von christlichen Polen in Besitz genommen worden. Es mutet erstaunlich an, dass sich unter diesen Bedingungen überhaupt noch einmal eine jüdische Gemeinde im Umfeld des Jüdischen Kreiskomitees etablierte, einer unter den neuen politischen Bedingungen entstandenen regionalen jüdischen Interessenvertretung.

Nicht nur die politischen Bedingungen in Polen hatten sich radikal gewandelt, auch die Zusammensetzung der jüdischen Gemeinschaft sah vollkommen anders aus als vor dem Holocaust. Von wenigen Ausnahmen abgesehen stammten die Jüdinnen und Juden in Radom nach 1945 nicht aus der Stadt. Viele waren aus umliegenden Ortschaften nach Radom gekommen, weil sie sich andernorts nicht mehr sicher fühlten oder weil sie die Gesellschaft anderer Jüdinnen und Juden suchten.

Krzyżanowski beschreibt mit großem Einfühlungsvermögen und narrativem Geschick den Mikrokosmos Radom als einen Ort der ständigen Angst vor Gewalt, vor Überfällen und tätlichen Angriffen. Ein brutaler, eindeutig antisemitisch motivierter Mord an vier Holocaust-Überlebenden in einem Kleidungsgeschäft auf einer zentralen Straße im August 1945 löste eine panikartige Flucht aus der Stadt aus. In der Folge sollte sich zeigen, dass die neuen Machthaber nicht willens waren, die jüdischen Überlebenden in der Stadt ausreichend zu schützen. Aus Angst um die eigene nationale Reputation, und zudem selbst nicht frei von antisemitischen Haltungen, setzten sich die Kommunist/innen kaum für die gefährdeten Jüdinnen und Juden ein. Es gelingt Krzyżanowski auf eindringliche Weise, die „Wand menschlicher Gleichgültigkeit“ (S. 61) greifbar zu machen, der sich die jüdischen Überlebenden gegenüber sahen. Die körperliche Gewalt, der diese ausgesetzt waren, betrachtet er dabei lediglich als die Spitze eines Eisbergs antisemitischer Einstellungen.

Zugleich war die feindlich gesonnene Umwelt ein entscheidender Antrieb für die jüdischen Aktivist/innen im Umfeld des Kreiskomitees. Angesichts einer ablehnenden bis indifferenten christlichen Umgebung suchten viele Juden in Radom umso stärker die Gemeinschaft ihrer Leidensgenossen. Die Community der Überlebenden half sich gegenseitig bei der Suche nach Vermissten, gewährte materielle Unterstützung und etablierte ein Gefühl der Verbundenheit zwischen vereinsamten und traumatisierten Individuen. Es ist Krzyżanowskis großes Verdienst, dass er diese Menschen als Akteur/innen auftreten lässt und nicht vorrangig als Opfer fremder Einflüsse beschreibt. Man merkt dem Text an, dass sein Autor Partei ergreifen will für die Verfolgten und Gedemütigten, deren Leid auch nach Kriegsende noch nicht vorüber war. Krzyżanowski, der selbst aus Radom stammt, entreißt die Gemeinschaft der „Geisterbürger“ (so der Titel des Buches), die in der Stadt lebten und doch kaum von ihrer christlichen Umgebung wahrgenommen wurden, mit diesem hervorragenden Buch dem Vergessen. Ein echter Gewinn für alle, die sich für polnisch-jüdische Geschichte interessieren.

Anmerkungen:
1 Zu den herausragenden Werken, die sich mit der Gewalt gegen Juden in der Nachkriegszeit befassen, zählen Jan Tomasz Gross, Angst. Antisemitismus nach Auschwitz in Polen, Berlin 2012; Katharina Friedla, Juden in Breslau–Wrocław 1933–1949. Überlebensstrategien, Selbstbehauptung und Verfolgungserfahrungen, Köln 2015; Anna Cichopek-Gajraj, Beyond Violence. Jewish Survivors in Poland and Slovakia, 1944–1948, Cambridge (MA) 2016.
2 Siehe etwa Marcin Zaremba, Die große Angst. Polen 1944–1947. Leben im Ausnahmezustand, Paderborn 2016.

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