Cover
Titel
Im Kampf um Geschichte(n). Erinnerungsorte des Abessinienkriegs in Südtirol


Autor(en)
De Pretto, Sebastian
Reihe
Formen der Erinnerung 71
Erschienen
Göttingen 2020: V&R unipress
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Karlo Ruzicic-Kessler, Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte, Freie Universität Bozen

Eines sei vorweggenommen: Sebastian De Pretto leistet mit seiner Monografie viel mehr, als der bescheidene Titel dieses Werkes suggeriert. Es handelt sich um ein gründlich recherchiertes Buch, das in die (Un-)Tiefen der Südtiroler und italienischen Erinnerungsgeschichte eintaucht und mit scharfsinnigem Blick für Details und das große Ganze einen Kommentar über Erinnerungskultur, gesellschaftliche Rezeption, politische Vereinnahmung und soziale Bruchlinien darstellt. Jedem Historiker und jeder Historikerin, der/die sich mit italienischer Erinnerungsgeschichte, den Debatten in diesem komplexen Untersuchungsfeld und den Mythen der Vergangenheit sowie der Aktualität von Erinnerungsorten befasst, sei diese Untersuchung bereits jetzt ans Herz gelegt.

Das Werk teilt sich in vier circa gleich lange thematische Schwerpunkte sowie eine Einleitung und ein Schlusskapitel. Der methodischen und theoretischen Untersuchung am Anfang des Buches ist der Ursprung des Werkes als Dissertation klar anzumerken, doch darf diese bei einem gesellschaftlich und politisch heiklen Thema durchaus ausführlich ausfallen. Gefolgt wird dieses Kapitel vom ersten thematischen Schwerpunkt: dem Alpini-Denkmal in Bruneck. Dieses 1938 eingeweihte Denkmal, das auch das Cover des vorliegenden Werkes ziert und von der faschistischen Staatsführung der Tapferkeit der italienischen Alpini gewidmet wurde, schafft es mit seiner kontroversen Geschichte, als Spiegel Südtirols im 20. Jahrhundert zu fungieren. Der Autor verweist in seinen Erklärungen zum Denkmal nicht nur auf die Bedeutung dieses steinernen Eroberungszeichens Italiens im Pustertal, sondern geht auch detailliert auf die faschistische Denkmalpolitik in Südtirol ein, erklärt die strategischen und politischen Ziele des Regimes und die Ikonografie der vielen Zeichen, die das faschistische Regime setzte (man denke hier nur an das berühmte Siegesdenkmal in Bozen). Die architektonische Eroberung des Raumes ist eine Konstante der faschistischen Politik nach der Machtergreifung 1923, doch gerade in einem von deutschsprachigen Einwohnern dominierten Gebiet wie Südtirol nimmt diese Eroberung eine besondere Stellung ein. Dabei kann man die Gründung der vermeintlich fortschrittlichen, neuen Stadtteile in Bozen betrachten, die sich im Gegensatz zur als rückständig gesehenen, deutschsprachigen Altstadt darstellen. Doch auch in den kleineren Städten und Ortschaften rekurrierte das Regime auf die optische Eroberung durch Denkmäler, die in etlichen Fällen auf die Heroisierung der italienischen Kriegszüge in Afrika hindeuteten. In diesen Kontext fällt auch das Alpini-Denkmal in Bruneck. Das Denkmal, das der 5. Alpini-Division „Pusteria“ gewidmet war, stellte für das Regime nicht nur ein Prestigeobjekt dar, das den Sieg im Feldzug gegen Äthiopien bedachte, wo sich die Division durch besonders heldenhafte Taten hervorgehoben haben soll, sondern auch ein Zeichen der Eroberung Südtirols durch die strategische Platzierung des Denkmals an der Hauptverkehrsachse in Bruneck. Das Denkmal fungiert dann als Spiegel der Geschichte Südtirols und seiner wechselvollen Etappen. Es wird mit der italienischen Kapitulation vom 8. September 1943 und der Übernahme der Verwaltung Südtirols durch Nazi-Deutschland zum ersten Mal zerstört. Noch zwei Mal sollte das Denkmal, das nach dem Krieg wiedererrichtet wurde, dieses Schicksal ereilen – neben verschiedenen Beschmierungen. Dabei lässt sich anhand der Art, wie die italienische Republik mit diesem Denkmal umging, auch eine Linie zur italienischen Vergangenheitsbewältigung ziehen, die über Jahrzehnte nicht erfolgt ist. Besonders spannend ist das Beispiel des Alpini-Denkmals allerdings auch für seine unterschiedliche Deutung (einerseits Zeichen der italienischen Eroberung und verhasstes Objekt für die deutschsprachige Bevölkerung, andererseits Ehrenbekundung für gefallene Soldaten und Zeichen der Verbundenheit der italienischsprachigen Bevölkerung mit dem Rest des Landes). De Pretto gelingt es, anhand dieses Denkmals die Debatten der italienischen und Südtiroler Nachkriegszeit darzulegen und die schwierige Aufarbeitung der faschistischen Herrschaft zu erklären. Mehrfach wurde das Denkmal nach dem Krieg umgedeutet, doch stand es immer im Spannungsfeld zwischen „deutsch-nationalistischen“ und „italienisch-nationalistischen“ Sichtweisen, die lange Zeit die Geschichte Südtirols geprägt haben. Sehr gut zeigt der Autor auch auf, dass erst die (späte) kritische Auseinandersetzung durch eine neue Historikergeneration sowie Journalisten und Politiker zu einer besseren Aufarbeitung und einer umfassenderen Betrachtung der „steinernen“ Geschichte geführt hat.

Den Straßennamen von Bozen und deren Umbenennung ab 1919 bis ins Jahr 2000 ist der zweite große Themenblock gewidmet. Auch in diesem Fall lässt sich die faschistische Eroberungspolitik in Südtirol durch ein weiteres, wichtiges Symbol nachzeichnen: die Namen von Straßen und Plätzen, die in jeder Stadt allgegenwärtig sind. In der neuen Stadt, die sich in Bozen hinter dem Siegesdenkmal erstreckt, finden sich bis heute Straßennamen, die einen direkten Bezug zur kolonialen Geschichte Italiens haben. Obschon die Bezeichnungen nach dem Krieg zunächst abgeschafft wurden, fanden sie zum Teil bis in die 1950er-Jahre wieder ihren Platz in der Bozner Odonomastik. In diesem Kapitel lassen sich somit auch sehr gut die historische Aufarbeitung und die politischen Diskussionen rund um die Namen aus der Vergangenheit nachvollziehen. Gerade in Bozen standen diese Debatten über mehrere Jahrzehnte an der Tagesordnung, da keine Einigung darüber gefunden werden konnte, wie man mit der Vergangenheit umgehen solle. Erst Anfang der 2000er-Jahre wurde etwa versucht, die „Piazza della Vittoria“, auf der sich das Siegesdenkmal befindet, in „Piazza della Pace“ umzubenennen. Dieser Versuch scheiterte allerdings kläglich, was die weiterhin bestehenden Schwierigkeiten in der Deutung von Geschichte unter Beweis stellt. Die faschistische Symbolik des Siegesdenkmals wurde allerdings durch architektonische Eingriffe in der Mitte der 2010er-Jahre entschärft.

Der dritte große Themenkomplex des Buches ist den „Südtiroler Heimatbüchern“ gewidmet, die in der Nachkriegszeit in vielen Gemeinden der Provinz Bozen entstanden. Insbesondere ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts entstand eine wahre Flut an Publikation aus noch so kleinen Gemeinden Südtirols, die eine wichtige Quelle für die Aufarbeitung von Lokalgeschichte (meist durch Laien) darstellen. In diesen Büchern sind, wie der Autor richtigerweise feststellt, sowohl der Inhalt als auch jene Teile der Geschichte, die nicht zu finden sind, interessant. Denn der Abessinienkrieg, die Teilnahme von italienischen Soldaten an Verbrechen in Ostafrika und die Nähe so mancher deutschsprachiger Südtiroler zum Nationalsozialismus werden in diesen „Heimatbüchern“ weitestgehend verschwiegen. Auch hier mischt sich der Gegensatz zwischen „italienischem“ und „deutschem“ Nationalismus in die Debatte, wobei auf beiden Seiten der Krieg romantisiert und Kriegsverbrechen verschwiegen wurden. Für Südtiroler, die am italienischen Kolonialkrieg beteiligt waren, blieb somit kaum Raum, um ihre Geschichten und ihre Erlebnisse zu erzählen.

Schließlich gewährt der vierte Themenschwerpunkt des Buches auch einen Einblick in das „kollektive Schweigen“ über den Abessinienkrieg. Dabei zeigt De Pretto auf, welche Themenschwerpunkte (etwa angebliche koloniale Entwicklungsarbeit, Widerstand während des Krieges in Italien, gemeinsame Kriegführung mit den Alliierten nach dem 8. September 1943) auf nationaler Ebene forciert wurden und wie die Geschichte der Kolonialzeit und des Zweiten Weltkrieges Eingang ins kollektive Gedächtnis Italiens fanden. So waren etwa Zeugnisse über den Abessinienkrieg in der nationalen Meistererzählung lange Zeit kaum vorhanden. Ähnlich wie dies für andere Schauplätze italienischer Expansion (etwa am Balkan) gilt, setzten sich vermehrt Historiker mit dieser heiklen Thematik erst in den 1990er-Jahren auseinander. In Südtirol dominierte wiederum die Erfahrung vieler Angehöriger der deutschen Wehrmacht die Erinnerung. So wurde das öffentliche Gedenken und das Kriegsnarrativ vom „Südtiroler Kriegsopfer und Frontkämpferverband“ weitestgehend vereinnahmt und stellte sich in einen Gegensatz zum Faschismus, wobei die Rolle der Südtiroler bei Verbrechen des NS-Regimes verschwiegen wurde. Während der Nordafrika-Feldzug durchaus in den Jahrzehnten nach dem Krieg thematisiert wurde, blieb der Abessinienkrieg als vermeintlich rein italienische Angelegenheit unerwähnt. De Pretto stellt dieser Erinnerungslücke die Erzählung eines Südtirolers entgegen, der zwischen Oktober 1936 und März 1938 in Abessinien stationiert war. Dabei besticht, dass auch diese Erzählung Jahrzehnte nach dem Krieg erschien und vom Autor überarbeitet wurde, um sich dem allgemeinen Geist in der Südtiroler Gesellschaft anzupassen. Abgeschlossen wird das Kapitel mit der Inklusion von in den 2000er-Jahren lancierten Projekten zur Aufarbeitung (etwa durch Oral History) der Vergangenheit. Wie in den vorangegangenen Kapiteln meistert De Pretto auch hier den Blick auf die regionalen Begebenheiten, die nationalen Mythen und die Jahrzehnte der kollektiven Ablehnung einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Krieg. Besonders gewinnbringend ist auch in diesem Kapitel die Darstellung der Gegensätze zwischen nationaler und regionaler Ebene und zwischen unterschiedlichen Erlebnissen sowie dem Kampf um die Vorherrschaft in der öffentlichen Meinung.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass Sebastian De Pretto ein spannendes und wichtiges Werk gelungen ist. Es speist sich aus einer regionalgeschichtlichen Perspektive, die dennoch (oder gerade deswegen) Schlüsse für weit größere Zusammenhänge zulässt. Damit vermag dieses Buch auch die These zu untermauern, wonach man das Große auch im Kleinen und vice versa findet. Die Arbeit von De Pretto stellt eine präzise, spannende und hervorragend recherchierte Geschichte dar, die die Bedeutung von Erinnerungsorten, die Schwierigkeiten in der historischen Aufarbeitung und die Probleme des Kollektivgedächtnisses bestens darzulegen vermag.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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