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Titel
Als die Comics laufen lernten. Der Trickfilmpionier Wolfgang Kaskeline zwischen Werbekunst und Propaganda


Autor(en)
Kennel, Herma
Erschienen
Berlin 2020: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
240 S., 33 SW-Abb., 11 farb. Abb.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rolf Giesen, Grambin

Gegenstand der Schrift ist der deutsche Animations- und Werbefilm am Beispiel eines Produzenten, dessen Name heute nur noch wenigen Eingeweihten etwas sagen wird: Wolfgang Kaskeline. Kaskeline kam am 23. September 1892 in Frankfurt am Main zur Welt und starb am 13. März 1973 in Bonn. Schon als junger Mann interessierte er sich für Malerei und Zeichnen. Als Kriegsfreiwilliger wurde er im Oktober 1914 schwer verwundet und verbrachte zwei Jahre im Hospital. 1917 nahm er eine Stelle als Zeichenlehrer an einer Oberrealschule an.

Fünf Jahre später begann Kaskeline, sich mit Film-Animation zu beschäftigen und machte zusammen mit zwei seiner Schüler (Gerhard Huttula, Gerd Dressler) animierte Probeaufnahmen, die zur Gründung einer eigenen Herstellungsfirma führten. Was genau ihn am Animationsfilm faszinierte, bleibt in Herma Kennels Buch ungeklärt. Die Autorin verweist allenfalls auf Walt Disney, der aber in jener Zeit in Deutschland noch keineswegs prominent war: „In den 1920er Jahren wird in Deutschland zum ersten Mal über einen bis dahin unbekannten amerikanischen Zeichentrickfilmer mit dem Namen Walt Disney berichtet.“ (S. 26) Tatsächlich kam der erste Disney-Cartoon (aus der Oswald-Serie der Universal) im Sommer 1927 nach Deutschland und die bekanntere Mickey Mouse 1930. Trotzdem, erklärt Kennel ohne weitere Begründung, sei die Zeit für die neue Kunstrichtung reif gewesen. Aber im Gegensatz zu dem Amerikaner verstand sich Kaskeline ja auch nicht als Cartoon-, sondern als Werbefilm-Hersteller mit Zeichenstift.

Am Anfang wurden Kaskelines Werbefilme durch Mendelfilm, Arminius-Film, die im Buch nicht erwähnt werden, und schließlich Werbekunst Epoche GmbH in Frankfurt am Main vertrieben. Als Epoche sich mit der Ufa-Werbefilm zusammenschloss, handelte Kaskeline 1927 einen Vertrag mit dieser führenden deutschen Filmgesellschaft aus – für Kennel ist die Epoche von Anfang an ein Tochterunternehmen der Ufa (Universum Film AG).

Nur an einer Stelle ihres Buches geht Herma Kennel wirklich auf die personellen, technischen und künstlerischen Hintergründe der Trickfilm-Produktion Kaskelines ein. Sie nimmt sich gleichsam die literarische Freiheit, Kaskeline als Augenzeugin in seine Werkräume zu begleiten und ihn in den „Spätfrühlingstagen des Jahres 1933“ (S. 68) neue Mitarbeiterinnen in die Tätigkeit des Ufa-Zeichentrickateliers einführen zu lassen:

„Während Walt Disney männliche Mitarbeiter bevorzugt, schätzt Wolfgang Kaskeline die Gegenwart junger Zeichnerinnen, in deren Gesellschaft er sich besonders wohlfühlt. Mit charmanter Geste führt er als Direktor der Abteilung die Neuen durch das Haus, besucht mit ihnen einige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die er nacheinander vorstellt und ihre Funktionen erklärt. […] Wolfgang Kaskeline ist in seinem Element und schildert den Ablauf bei der Herstellung eines Zeichentrickfilms. ‚Zuerst muss die Geschichte stehen‘, erklärt er und fährt fort: ‚Das Drehbuch schreibe ich, danach entwerfe ich die einzelnen Figuren. Und nun kommt das Wichtigste, meine Damen. Wer von Ihnen weiß es?‘ Verlegenes Schweigen, Kopfschütteln. ‚Ich will Sie nicht länger warten lassen: Es ist die Musik! Zeichentrick besteht zu neunundneunzig Prozent aus Musik. Nach der Musik zeichnet man – und zwar genau nach den Noten. Bei hohen Tönen geht oder springt eine Figur nach oben, bei tiefen nach unten. Musik und Bewegung sind also immer synchron aufeinander abgestimmt.‘“ (S. 68f.)

Tatsächlich ist Kaskeline musikalisch bewandert und sein Bestreben, seine kleinen Filme musikalisch auszurichten, ist auch anderen Herstellern jener Jahre eigen, Disney eingeschlossen, aber dennoch: Ein „deutscher Walt Disney“, wie Herma Kennel meint, ist Kaskeline nie gewesen.

Um die Figur Kaskelines lebendig zu machen, um der Lesbarkeit willen bemüht Herma Kennel emotionale Formulierungen: „Wolfgang Kaskeline ist bestürzt, fassungslos, fühlt sich wie betäubt“ (S. 93) – als ihn die Ufa am 25. Oktober 1937 fristlos entlässt. Er hat in Fragebögen jüdische Vorfahren verschwiegen. „Das ist das Ende, schießt es Kaskeline durch den Kopf. Wieder und wieder überfliegt er die Worte, die seine Zukunft zerstören“ (S. 115) – als die Reichsfilmkammer mit Datum 4. März 1939 eine Sondergenehmigung zurückzieht, die später wieder erteilt wird. „Am 1. September 1939 erfährt Wolfgang Kaskeline aus dem Volksempfänger, dass deutsche Truppen in Polen einmarschiert sind. Er ist fassungslos. Wieso Polen?“ (S. 129) Aber dann: „Wolfgang Kaskeline kann aufatmen. Von nun an gilt er als ‚Mischling II. Grades‘.“ (S. 132) Er darf weiterarbeiten, zwar nicht für die Ufa, wohl aber für Epoche Color-Film AG, mit deren Geschäftsleitung er in den kommenden Jahren häufig über Kreuz liegt.

Gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, Herma Kennel habe die noch im Archiv erhaltenen Werbefilme von Kaskeline nicht gesehen. Sie nennt nur Titel und Auftraggeber bzw. zitiert kurze Beschreibungen. Etwas ausführlicher werden allein ein nicht überlieferter Zweifarben-Werbefilm für die Meierei C. Bolle von 1928 (S. 36–38) und ein schwarzweißer Mischfilm von 1938 für Atika-Zigaretten beschrieben: „Heute Abend hab‘ ich Gäste“ (S. 105–107). Die von Georg Alexander in Karikatur vorgestellten Gäste sind Theo Lingen, Hans Moser, Harry Piel (in Begleitung eines Zeichentrick-Tigers) und eine „genussvoll rauchende“ Marlene Dietrich.

Auch schleichen sich vermeidbare historische Fehler ein. So wird Oberregierungsrat Karl Neumann, vor 1933 wegen nationalsozialistischer Aktivitäten entlassener Prokurist einer Fleischwarenfabrik, der nie ein Hochschulstudium absolviert hat, posthum zum „Dr.“ promoviert: „Ende der 1920er Jahre hatte er Goebbels davon überzeugen können, dass der deutsche Zeichentrickfilm gefördert werden müsse, um das Niveau der amerikanischen Filme von Walt Disney zu erreichen, wenn nicht gar zu übertreffen.“ (S. 162) An diesem Satz stimmt so gut wie gar nichts. Erst 1941 wurde Neumann, der im Kulturfilmsektor des Propagandaministeriums tätig war, zum Geschäftsführer der reichseigenen Deutschen Zeichenfilm GmbH ernannt.1 Kurz vor Toresschluss, ab 1. Oktober 1944, sah sich Neumann, der viel Geld ausgegeben, umfangreiches Personal verpflichtet und ausgebildet und große Ambitionen hatte, aber nur einen einzigen Kurzfilm („Armer Hansi“) vorweisen konnte, dann gezwungen, den ungeliebten „Vierteljuden“ Kaskeline als Herstellungsleiter für einen Kurzfilm „Walzermärchen“ zu verpflichten – worauf dieser nach dem Krieg den Anspruch ableitete, „Chef“ des gesamten Unternehmens gewesen zu sein. 1950 verklagte er die Nachfolgegesellschaft der Ufa deswegen sogar auf 100.000 Mark. Die Ufa bot einen Vergleich an, den Kaskeline ablehnte.

Was die Quellen angeht, ist Herma Kennels eher belletristische Darstellung mit Vorsicht zu betrachten: Sie schildert Kaskelines Leben und Wirken sehr subjektiv, aus Sicht der Familie, basierend auf einem unveröffentlichten Manuskript „Der Nachweis“, das der im April 2013 verstorbene Kaskeline-Sohn Horst geschrieben und ihr überlassen hat, sowie auf beigelegten Dokumenten aus dem Bundesarchiv. Alles Weitere ist komponiert aus Erinnerungen von Kaskelines letzter Sekretärin Ingrid Vonderschmitt, der ehemaligen Zeichnerin Jutta Kaskeline (die mit Kaskelines 2011 verstorbenem Sohn Heinz verheiratet war) und Unterlagen aus dem Archiv des Sammlers Heinz Offermann. Personen und Institutionen, die sich langjährig mit dem deutschen Animationsfilm befasst haben, wurden offensichtlich nicht oder wenn, nur ungenügend kontaktiert.

Trotz aller Defizite vermittelt das Buch neue Erkenntnisse und stellt sehr wohl eine wertvolle Ergänzung der Forschungen zum deutschen Animationsfilm dar.2 Am Beispiel zahlreicher Dokumente wird dargestellt, wie der Rassenwahn der Nazis auch die Filmindustrie erfasste. Wir erfahren von einem angeblich 1937 angedachten Projekt eines abendfüllenden Zeichenfilms mit dem Titel „Die Fledermaus“, das aber schon im Ansatz scheiterte (nach meinen Informationen handelte es sich hierbei jedoch nur um Trickarbeiten für einen Spielfilm), und Kaskelines Weigerung, sich an Kartenanimationen für den antisemitischen Propagandafilm „Der ewige Jude“ zu beteiligen. Vergleichsweise wenig Raum nimmt dagegen das Nachkriegsschaffen der Firma Kaskeline-Film ein, die sich nach dem „Sarotti-Mohr“ und einer Auszeichnung in Venedig für den Kurzfilm „Zauber im Zeichenfilm“ in den 1960er-Jahren unter Leitung der Söhne von der Animation ab- und mehr dem realen Industrie- und Städtefilm sowie einer privaten Filmschule, der Kaskeline-Film-Akademie, zuwandte.

Das Buch ist vom be.bra Verlag liebevoll aufgemacht und illustriert. Der Titel „Als die Comics laufen lernten“ (der Arbeitstitel lautete simpel „Wolfgang Kaskeline. Zeichentrickfilmer unterm Hakenkreuz“) scheint dem Publikumsgeschmack geschuldet und beschreibt zugleich die Tragik des deutschen Animationsfilms: Der Comic Strip führte, trotz Wilhelm Busch, im kulturellen Geschehen Deutschlands ein stiefmütterliches Dasein, ganz im Gegensatz zur Entwicklung der frankobelgischen Comics, die den Aufbau einer innovativen Animationsindustrie förderte. Definitiv geschadet hat dem Animationsfilm in Deutschland die jahrzehntelange Fokussierung auf Gebrauchsgrafik und Werbefilm.

Anmerkungen:
1 Eine genauere Biografie des in sowjetischer Internierung 1945 durch Selbstmord geendeten Betriebsleiters der Deutschen Zeichenfilm GmbH vermittelt: Rolf Giesen, Bienenstich und Hakenkreuz. Zeichentrick aus Dachau – die Deutsche Zeichenfilm GmbH, Frankenthal 2020.
2 Vgl. auch Deutsches Institut für Animationsfilm, Chronologie zum Animationsfilm in Deutschland, https://www.diaf.de/forschung/chronologie-zum-animationsfilm-in-deutschland/ (18.09.2020).

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