M. Baumeister u.a. (Hrsg.): Rethinking the Age of Emancipation

Cover
Titel
Rethinking the Age of Emancipation. Comparative and Transnational Perspectives on Gender, Family, and Religion in Italy and Germany, 1800–1918


Herausgeber
Baumeister, Martin; Lenhard, Philipp; Nattermann, Ruth
Erschienen
New York 2020: Berghahn Books
Anzahl Seiten
444 S.
Preis
$ 149.00; € 135,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Wienfort, Historisches Institut, Universität Potsdam

Während es eine Zeitlang so schien, als habe das 19. Jahrhundert in der deutschen Geschichtswissenschaft an Interesse und Bedeutung verloren, zeigt sich gegenwärtig ein anderes Bild: Vor allem transnationale europäische und kolonial-globale Perspektiven haben neue Fragen und Themen an das 19. Jahrhundert herangetragen. Verbinden sie – wie der vorliegende Band – dann auch noch lange vernachlässigte Felder von Frauen- und Geschlechtergeschichte einerseits, von Religions- und Konfessionsgeschichte andererseits, und bemühen sich darüber hinaus um vergleichende Interpretationen, wird deutlich, dass es wenig sinnvoll ist, von einem ausgeforschten oder ausinterpretierten 19. Jahrhundert auszugehen. Aus dieser Multiperspektivität ergeben sich statt nationalen Masternarrativen Blicke auf parallele Entwicklungen, auf Verschränkungen und Pluralität. Schon der Titel des Bandes betrachtet Emanzipation mit Blick auf Frauen einerseits und auf Juden und Jüdinnen andererseits – in Italien zusätzlich auch auf Protestanten – als ein zentrales, aber stets infrage gestelltes Leitmotiv. Weniger geht es dabei um gesetzliche Regelungen der Gleichstellung als um soziale Praktiken von Frauen, Männern und Familien, die sich vor allem in der Sphäre des privaten und geschäftlichen Lebens finden.

Für den Sammelband haben Forscher:innen aus Deutschland und Italien unter Federführung des DHI Rom und der Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts zusammengearbeitet, darunter viele, die in den Historiographien beider Länder zuhause sind. Statt durchgängig zu vergleichen, wurden die Forscher:innen eingeladen, ihren jeweiligen nationalen Schwerpunkt vergleichend und transnational zu denken. Grundsätzliche Überlegungen zur Untersuchung Italiens und Deutschlands im 19. Jahrhundert und zum Status von Nation und Familie stellen Amerigo Caruso und Ilaria Porciani an. In beiden Beiträgen geht es um die kritische Diskussion von nationalen Stereotypen zur Bedeutung der „bürgerlichen“ Familie im Staat. Marcella Simoni stellt die jüdische Familie Moreno aus Livorno vor, deren Mitglieder sich in Tunis ostentativ als Patrioten den italienischen Kolonialbestrebungen verschrieben, gleichzeitig aber jüdische Schulen und Wohlfahrtsorganisationen unterstützten. Guilia Frontoni behandelt „politische Frauen“, die als „Mutter der Nation“ und als Verkörperungen organisierter Mütterlichkeit gesehen wurden. Angelika Schaser unterstreicht mit Nachdruck, wie sehr Mutterschaft als Lebensaufgabe eine anspruchsvolle Berufsausübung von Frauen als gesellschaftliche Zielvorgabe überragte.

Philipp Lenhard und Silvia Guetta widmen ihre Beiträge jüdischen „Katechismen“ in Deutschland und Italien. Diese populäre Textgattung reichte im 19. Jahrhundert über die religiöse Volksbildung im engeren Sinn hinaus und wurde auch für säkulare, nationale oder politische Ziele eingesetzt. Katechismen für Mädchen einigten sich meist darauf, die Erziehung zur Hausfrau, Ehefrau und Mutter in den Mittelpunkt zu stellen.

Sylvia Schraut betont, dass es sich bei dem „bürgerlichen“ Frauenideal im Deutschland des 19. Jahrhunderts faktisch um ein protestantisches Konzept von (Ehe-)Frauen handelte, während im katholischen Milieu die Jungfrau als Nonne höher bewertet wurde. Entsprechend groß blieb die Distanz zwischen Katholikinnen und der bürgerlichen Frauenbewegung. Liviana Gazzetta arbeitet die Ähnlichkeiten der Konzepte von Frauenbildung im liberalen Katholizismus und bei den Protestanten in Italien heraus. In beiden konfessionellen Bereichen ging es um die Funktion von Frauen in der Familie als Stifterinnen von Harmonie zwischen religiösen und nationalen Zielen. Anne-Laure Briatte erinnert daran, dass der Begriff „Emanzipation“ in der deutschen Frauenbewegung wenig Wertschätzung erfuhr, weil er gleichermaßen mit der Emanzipation von Juden und der Arbeiterschaft verbunden war. In Magdalena Gehrings Beitrag über den Internationalen Frauenkongress in Berlin 1896 werden die Teilnehmerinnen aus Italien gewürdigt. Gerade in solchen übernationalen Kontexten bemühten sich die Protagonistinnen um ein Zurücktreten ihrer jeweiligen religiösen Zugehörigkeitsgefühle zugunsten der gemeinsamen Bemühungen von Frauen.

Im letzten Teil des Bandes geht es um Erfahrungen im und Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg, besonders in Selbstzeugnissen. Damit wird hier reichhaltiges Material für eine Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkrieges im europäischen Kontext zusammengetragen. Martin Baumeister stellt mit Robert Davidsohn einen jüdisch-deutschen Historiker des mittelalterlichen Italiens vor, der im Ersten Weltkrieg räumlich und emotional aus Italien nach München zurückkehrte und sich als deutscher Nationalist einordnete. Marie-Christin Lux berichtet über den Ehebriefwechsel des jüdisch-französischen Ehepaars Alice und Robert Hertz. Alice Hertz blieb es wichtig, ihren persönlichen Einsatz für die Nation auch im Vergleich mit den Fronterlebnissen ihres Mannes zu betonen. Christa Hämmerle beschäftigt sich mit der Frage, wie sich dem Ungesagten – hier zur kriegerischen Gewalt gegenüber Zivilisten – nachspüren lässt. Nadia Maria Filippini erforscht die sexuelle Gewalt, die italienische Frauen von feindlichen Soldaten erfuhren, die als Deutsche und Österreicher bezeichnet wurden. Tullia Catalan stellt zwei jüdische Schriftstellerinnen aus Triest vor, die sich im Weltkrieg gegen „Deutsche“ und „Slawen“ wendeten und den italienischen Nationalismus unterstützten. Ruth Nattermann betont, dass die Erfahrungen von Krieg und Verlust von Familienangehörigen zu ganz unterschiedlichen politischen Positionierungen von Frauen führen konnten.

Insgesamt werden im Band viele Beispiele versammelt, die sich gewissermaßen am Rand des historiographischen Mainstreams befinden. Entsprechend ergibt der Überblick eher ein Mosaik als eine eindeutige Interpretation. So werden Voraussetzungen zum Vergleich im Zusammenhang von zwei Nationalgeschichten geschaffen, die sich nur sehr verkürzt unter Überschriften wie „verspätete Nationalstaatsbildung“ zusammenfassen lassen. Aus den Beiträgen über Selbstzeugnisse tritt zunächst die Einmaligkeit von individueller Erfahrung hervor, die Verallgemeinerung schwierig macht. Dennoch scheint es, als würden zentrale und bedeutsame Erfahrungen von Randständigkeit, aber auch von Krieg den Wunsch nach Eindeutigkeit von Zugehörigkeit fördern. Für viele der in diesem Band dargestellten Menschen trat damit tendenziell eher eine nationale als eine religiös-konfessionelle Identität in den Vordergrund. Um dieser Überlegung zu folgen, müssten weitere Mosaiksteine für die Konfessionen und Religionen, für Deutschland und Italien und darüber hinaus eingefügt werden.

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