Cover
Titel
Welt im Wandel. Das Hochmittelalter


Autor(en)
Haas, Wolfdieter
Erschienen
Stuttgart 2002: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
453 S., 5 Karten
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Ertl, Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin

"Die Welt ist allenthalben / voll von Unfreundlichkeit.
Die einst mit mir gespielt, / sind jetzt müd und alt,
erweitert ist das Feld, / abgeholzt der Wald."

Walther von der Vogelweide war ein alter Mann, als er 1228 mit wehmütigen Worten auf ein bewegtes Leben zurückblickte. Es ist die „Elegie“ eines Dichters, der den Tod nahen fühlt und den Wandel der Welt beklagt. Haas beginnt sein Buch über die Jahrzehnte um 1200, also über die Zeit zwischen dem Fall Jerusalems (1187) und dem Kreuzzug Friedrichs II. (1228), mit Walthers Trauerlied. Zwar will er von keiner Wende des Mittelalters sprechen, doch die Anrufung des Dichters macht deutlich: Haas geht von der Prämisse aus, dass sich die Welt in der untersuchten Zeitspanne nicht gewandelt habe wie in anderen Dezennien auch, vielmehr habe um 1200 ein Beschleunigung stattgefunden, die diese Zeitspanne heraushebt aus dem Strom der Zeiten. Eine erste Relativierung birgt allerdings bereits der Untertitel: Die Epochenbezeichnung „Hochmittelalter“ umfasst nach allgemeinem Verständnis das elfte und zwölfte Jahrhundert und geht in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts zuende. Den revolutionären Wandel der Zeit um 1200 verbindet Haas also mit den hochmittelalterlichen Entwicklungen, die bereits seit einiger Zeit die besondere Aufmerksamkeit der Forschung genießen 1. Erst kürzlich nannte Robert I. Moore die Umwälzungen des 11. und 12. Jahrhunderts die ‚erste europäische Revolution’, die die Grundlagen des heutigen Europa hervorgebracht habe 2. So weit geht Haas nicht, weder inhaltlich noch zeitlich.

Erweitert ist das Feld, abgeholzt der Wald: Bevölkerungswachstum, Siedlungsbewegung und Landesausbau stehen im Mittelpunkt des ersten Kapitels. Mit zahlreichen Beispielen, vor allem aus den Randbereichen des Reiches, aber mit der Ostsiedlung und Ungarn auch darüber hinausreichend, schildert Haas die tiefgreifenden Veränderungen der abendländischen Kulturlandschaft zwischen 1100 und 1250. Das Substrat der Expansion sieht er in einem ständigen Bevölkerungswachstum, das die Gewinnung zusätzlicher Anbaugebiete und die Abwanderung in Randlagen überlebensnotwendig machte. Neue Formen der Arbeitsorganisation, des korporativen Zusammenlebens und der herrschaftlichen Erfassung sind mit diesem Landausbau ebenso verbunden wie eine technische Verbesserung der Agrarwirtschaft.

Vita evangelica: Das zweite Kapitel bietet einen Überblick über die seit dem 11. Jahrhundert intensivierte Suche nach der richtigen Lebensform. Die Reformorden werden vorgestellt, die antiken und biblischen Grundlagen der freiwilligen Armut skizziert. Ursache des Erfolgs sowohl orthodoxer als auch häretischer Wanderprediger sei eine sozioökonomische Polarisierung der Gesellschaft gewesen. In diesem Kontext fanden die Appelle gegen eine reiche und verweltlichte Kirche offene Ohren. Der Widerspruch zwischen dem neuen städtischen Reichtum und der apostolischen Lebensform habe nicht nur zu einer Belebung des Eremitentums, sondern auch zu Spannungen zwischen Laien und Kirche und zu einer fließenden Grenze zwischen Orthodoxie und Ketzerei geführt. Noch war die Kirche unfähig, auf gestiegene Ansprüche der Laien mit neuen pastoralen Methoden zu reagieren: In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zogen Katharer, Waldenser und Humiliaten in den städtereichsten Regionen Europas immer mehr Anhänger in ihren Bann. Die kirchliche Antwort auf die häretische Gefahr bildete eine pastorale Offensive im 13. Jahrhundert, an deren Spitze Dominikus und Franziskus standen. Diesem orthodoxen Gegenschlag widmet Haas ein eigenes Kapitel. In einer Allianz mit den Päpsten schufen die Mendikanten neue Formen der Seelsorge und der Ketzerbekehrung: Nicht die kontemplative Selbstheiligung, sondern die auf Studium und Predigt beruhende Pastorale war das mendikantische Propositum. Demütig, nach dem Vorbild ihrer heiligen Gründer, wollten die Bettelmönche zu Fuß ihren Weg suchen, ohne Gold und Geld, in allem die Lebensform der Apostel nachahmend. Mit eigenen Methoden rückte man den Häretikern zu Leibe – und war dabei äußerst erfolgreich: Die geistige Erneuerung führte zu einer triumphalen Rückkehr der katholischen Kirche. Im Wiedererstarken der Römischen Kirche um 1200 sieht Haas eine wesentliche Zäsur auch für die Geschichte der Kreuzzüge, die der Autor in einem ausführlichen Kapitel Revue passieren lässt und dabei von der religiösen zur politischen Sphäre überleitet. Papst Innocenz III. habe niemals Zweifel an seinem Führungsanspruch aufkommen lassen, die Vorbereitungen zum Kreuzzug in seine tatkräftigen Hände genommen und die Kreuzzugswerbung auch dazu benutzt, seine hierokratische Weltsicht zu propagieren. Bekanntlich nahm der Vierte Kreuzzug dann allerdings einen Verlauf, den der Papst keineswegs gewünscht hatte.

Herrschaft: Die beiden folgenden Abschnitte gehören der politischen Herrschaft. Mit einigen Stichworten, die von auctoritas, Haus und Hof, Lehnrecht, Feste und höfische Kultur bis zur Hofkritik reichen, charakterisiert Haas überaus kurz die Grundlagen mittelalterlicher Herrschaft aus verfassungsrechtlicher und soziologischer Sicht. Dieser Blickwinkel bestimmt die anschließende Darstellung der politischen Geschichte Frankreichs, Englands und Deutschlands. Es dominiert die Frage: wie stark war die Stellung des Königs gegenüber den Fürsten? Uneingeschränkt erfolgreich war Philipp II. August (1180-1223), der die französische Königsmacht auf neue verwaltungstechnische und machtpolitische Grundlagen stellte. Heinrich II. Plantagenet (1154-1189) hatte einen ähnlich Weg beschritten, doch sein Sohn Johann ohne Land (1199-1216) musste sich mit den Baronen auf einen Kompromiss einigen und die Magna Carta unterzeichnen. Zu einem Erstarken der Fürstenmacht kam es auch in Deutschland. Hier ist es die Regierungszeit Friedrichs I. (1154-1190), in der Haas die zukunftsbestimmende Weichenstellung erkennen will. Trotz einer wachsenden Machtfülle blieb Friedrich I. auf die Mitwirkung der Fürsten an seiner Politik angewiesen. Die mangelhafte Zentralisierung und Bürokratisierung der deutschen Königsmacht interpretiert Haas als „Verspätung“ gegenüber den westeuropäischen Königreichen.

Wissen: Die beiden letzten Kapiteln beschäftigen sich mit der Entwicklung der Technik, vorrangig des Bauwesens als Zeichen und Ort sozialen, politischen und religiösen Wandels sowie mit der Geschichte der Bildung sowohl in institutioneller als auch sozialer Hinsicht. Architektur und Schule sind für Haas der Raum, in dem sich neuartige Denk- und Lebensweisen, aber auch neue Formen des Wirtschaftens und des sozialen Aufstiegs festmachen lassen.

Wer soll das lesen? Zugriff und Inhalt sind nicht innovativ. Das Buch besitzt dennoch Eigenschaften, die es empfehlenswert machen: der Stil ist verständlich, die Aussagen sind klar, die Beschränkung auf wesentliche Themen macht das Zeitalter überschaubar. Vorbereitungsstoff für eine Klausur über das hohe Mittelalter also? Dafür erscheint die Themenauswahl und die Ausrichtung des Buches zu willkürlich: viele Herrschaftsbildungen im Norden, Süden und Osten Europas werden nicht genannt, die Päpste erscheinen vorrangig als Kreuzzugsstrategen, der Territorialisierungsprozess eindeutig negativ. Haas plante eine Darstellung der Jahrzehnte um 1200 und lieferte ansatzweise eine Geschichte des Hochmittelalters, eigentlich aber die Geschichte eines langen 12. Jahrhunderts in Mittel- und Westeuropa bis ca. 1215. Der Studierende gewinnt jedoch keinen prüfungsfesten Überblick über ein Zeitalter. Allerdings kann das Buch eine Einladung sein – sowohl für den Laien als auch für den Studierenden, sich mit einer Epoche zu beschäftigen, in der das Gesicht des Abendlands zweifellos Züge annahm, die seine Zukunft prägen sollten. Die Frage, ob überhaupt eine homogene Entwicklungsbeschleunigung um 1200 stattgefunden hat, ist zunächst vielleicht gar nicht so wichtig.

Gewöhnungsbedürftig: Die Funktion eines Anmerkungsapparats übernimmt ein ausführlicher Anhang, in dem Literatur zu den einzelnen Kapiteln, aber auch zu vielen Spezialfragen aufgelistet und teilweise auch kritisch kommentiert wird. Die Stichworte scheinen in einem Zusammenhang mit kursiv gedruckten Passagen in der Darstellung zu stehen – der Rezensent konnte das System aber nicht gänzlich entschlüsseln. Der Gebrauch traditioneller Endnoten wäre vermutlich transparenter gewesen. Ein allgemeines Literaturverzeichnis, ein Glossar sowie Personen- und Sachregister erleichtern die Lektüre.

1 Vgl. Michael Borgolte, Einheit, Reform, Revolution. Das Hochmittelalter im Urteil der Modernen, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 248 (1996) 225-258.
2 Robert I. Moore, Die erste europäische Revolution. Gesellschaft und Kultur im Hochmittelalter (Europa Bauen), München 2001. Vgl. die Rezension dazu in diesem Forum unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=975.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension