Vielleicht hat die Geschichtswissenschaft endlich zu sich selbst gefunden. Schon 1988 hatte Reinhart Koselleck sie methodisch als "Erfahrungswissenschaft [...], die Erfahrung und Erkenntnis aufeinander verweist" 1, bestimmt, ohne dabei allerdings den Erfahrungsbegriff selbst näher zu definieren, geschweige denn ihn für die historische Analyse zu operationalisieren. Dies ist im Begriff, sich zu ändern. 2 Der Begriff der Erfahrung scheint sich besonders dafür zu eignen, zwischen dem Ensemble von Institutionen, Strukturen, Diskursen einerseits und dem handelnden und leidenden Subjekt in der Geschichte andererseits heuristisch zu vermitteln. Klar ist dabei, daß Erfahrung als womögliche neue Referenzkategorie nicht zur Substanz historiographischer Erkenntnis nobilitiert werden kann, die die Paradigmata der Klasse, der Nation oder der Diskurse nun durch das Subjekt und seine Erfahrung ersetzt. 3 Daß sich zugleich aber das Verhältnis zwischen Subjekt und Repräsentationsrahmen durchaus dynamisch gestaltet und sich nicht in der quasi ideologiekritischen Deduktion von Erfahrungen aus gegebenen diskursiven Formationen erschöpft, hat Philipp Sarasin betont: "Menschen machen Erfahrungen, die nicht bereits diskursiv (vor-)geformt sind, sondern in den Leerstellen der Repräsentationsysteme einbrechen, Symbolisierungen erzwingen und so die Repräsentationen verändern." 4
Solche Erfahrungen, die eine solche Fragilität von Repräsentationssystemen verdeutlichen, lassen sich als Krisenerfahrungen begreifen. Wenn die Welt aus den Fugen geht, zeichnen sich diese Fugen um so deutlicher ab. So verwundert es nicht, daß die wohl erste institutionelle Verankerung des erfahrungsgeschichtlichen Ansatzes im Tübinger SFB 437 "Kriegserfahrungen - Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" erfolgt ist. Der anzuzeigende Sammelband präsentiert "Zwischenbilanzen" (9) von dort angesiedelten Forschungsprojekten zur regionalen Kriegserfahrung im Südwesten des Heiligen Römischen Reiches. Diese Zwischenbilanzen sind durchaus umfangreich ausgefallen. Keine der vier Regionalstudien bleibt unter der Grenze von 70 Seiten, manche gehen gar deutlich darüber hinaus. Interpunktiert werden sie durch Abbildungen zeitgenössischer Drucke und Gemälde, die Gregor Maier knapp, aber kundig kommentiert.
Anton Schindling entwirft in seinem Einleitungsaufsatz das Programm eines erfahrungsgeschichtlichen Ansatzes, der dann in den Einzelbeiträgen appliziert werden soll. Schindling definiert als Erkenntnisobjekt der Erfahrungsgeschichte "die verhaltensbestimmenden Erlebnisse, Wahrnehmungen, Wissensbestände, Deutungsmuster, Beurteilungskriterien, Bewältigungsstrategien und Handlungsmodelle der Akteure und Akteursgruppen." (12) Unter etwas pauschalem Rückgriff auf die Wissenssoziologie vor allem Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns sollen die (mediale) Vermittlung von Erlebnissen, ihre Transformation in Erfahrungen im Horizont gegebener Wissensbestände und Diskursformationen sowie deren Sedimentierung im kollektiven Gedächtnis untersucht werden. Als heuristische Leitkategorien schlägt Schindling "Erfahrungsräume, Erfahrungsgruppen, Deutungsmuster und Bewältigungsstrategien" (21) vor. Diese sollen dazu angetan sein, den unpräzisen Erfahrungsbegriff zu konzeptionalisieren und ihn an sozial-, politik- und kulturgeschichtliche Modelle anschlußfähig zu machen. Erfahrungsräume beschreiben Räume, die im Sinne von "mental maps" die politischen, konfessionellen und kulturellen Grenzziehungen transzendieren können. Erfahrungsgruppen umfassen nicht nur sozial- und kulturgeschichtliche Differenzierungen wie Familie, Geschlecht oder Klientelverhältnisse, sondern entstehen oftmals erst durch vergemeinschaftende (Kriegs-)Erfahrung. Als zentrales, Erfahrungen strukturierendes Deutungsmuster der Zeit des Dreißigjährigen Krieges macht Schindling die christliche Religion in ihrer konfessionellen Differenzierung aus. Sie bestimmt die Selbst- und Fremdbeschreibung von Erfahrungsgruppen, definiert Erfahrungsräume und stellt Sinnangebote zur Kontingenzbewältigung des Krieges bereit. Diese Begriffe sind demnach durchaus variabel konzipiert und in der Lage, neue Fragehorizonte zu eröffnen.
In der konkreten Empirie der Einzelbeiträge regeln sich Bestimmungen von Erfahrungsräumen, Erfahrungsgruppen und Deutungsmustern dagegen schon durch die Auswahl der Untersuchungsgegenstände leider eher definitorisch. Frank Kleinehagenbrock untersucht die "Bedrohung der Konfession in der Grafschaft Hohenlohe" anhand von Verwaltungsakten, vor allem Schriftverkehr der Behörden untereinander sowie Untertanensuppliken. Carsten Kohlmann wendet sich in seinem Beitrag näher den Pfarrern und Gläubigen im württembergischen Amt Hornberg zu. Die ausgeprägte territoriale und konfessionelle Fragmentierung dieser Region, in der konfessionelle und politische Konfliktlinien wie in den Kondominatsorten oftmals quer durch einzelne Gemeinden verliefen, lenkt den Blick auf Strategien der Koexistenz ebenso wie auf Mechanismen der Eskalation. Es wird deutlich, daß vor allem das Restitutionsedikt von 1629 das labile konfessionelle Gleichgewicht, das den kirchlichen und politischen Alltag in diesen Territorien prägte, empfindlich störte und als Wegscheide im Prozeß der konfessionellen Polarisierung innerhalb der Region wahrgenommen wurde.
Die von Kleinehagenbrock analysierten gemeinsamen Bemühungen von hohenlohischen Herrschaftsträgern, Beamten und Pfarrern, die politische Ordnung und Kirchenorganisation in der Grafschaft aufrechtzuerhalten, korrespondiert dabei den in Christian Schulz' Beitrag dargestellten hartnäckigen Bemühungen des Benediktinerabtes Georg Gaisser um Restitution des 1552 reformierten Klosters Sankt Georgen. Schulz arbeitet in einem close reading der Tagebücher des Abtes seine Handlungsspielräume im konfessionell wie politisch komplexen Rahmen zwischen württembergischen, fürstenbergischen und vorderösterreichisch-habsburgischen Einflußsphären heraus. Auch Carsten Kohlmann markiert in seinem Beitrag zu Pfarrern und Gläubigen im württenbergischen Amt Hornberg die Konfliktlinien im alltäglichen Kampf um die Seelen der Menschen. Es erscheint allerdings als fraglich, ob die beigebrachten Belege zu lokalen Konflikten um Besetzungen von Pfarrstellen, verprügelte Pfarrer und provokative katholische Prozessionen durch lutherische Ortschaften die Schlußthese, "daß der Dreißigjährige Krieg in diesen konfessionellen Erfahrungsräumen vor allem als Religionskrieg erfahren wurde" (211), wirklich stützen können. Als zentrales Deutungsmuster des Krieges in den von Kleinehagenbrock und Kohlmann untersuchten lutherischen "Erfahrungsräumen" stellen beide Autoren den Topos des Krieges als Gottes "wolverdiente Straff" (187) für begangene Sünden heraus. In diesem Zusammenhang gewinnt auch die Einführung eines offiziellen Bußtages an Bedeutung, der 1625 in Württemberg und 1620 in Hohenlohe gar wöchentlich und im Verlaufe des Krieges immer wieder verordnet wurde.
In scharfem Kontrast zu diesem Deutungsmuster scheint der Benediktinerabt Georg Gaisser zu stehen, den Christian Schulz als humanistisch gebildeten Melancholiker portraitiert, den die Erfahrung des Krieges von konfessioneller Polemik absehen läßt und der den Krieg als "die Folge umfassenden menschlichen Versagens begreift" (290). Gaisser favorisiert rechtliche Strategien der Konfliktbeilegung vor apokalyptischen Szenarien und nimmt damit weniger die Modelle des Westfälischen Friedens vorweg, als daß er vielmehr althergebrachte Rechte und Besitztümer schlicht wieder reklamiert, ohne die konfessionelle Wahrheitsfrage in den Mittelpunkt zu stellen. Schulz identifiziert bei Gaisser somit verschiedene Modelle der Kontingenzbewältigung: Zum einen tritt er der Erfahrung der Gewalt im Krieg mit Mustern humanistisch inspirierter Melancholie entgegen, zum anderen entwickelt er eine stark konservative, an Rechten und Organisationsstrukturen orientierte Praxis der konfessionellen Auseinandersetzung, welche sich keineswegs gegenseitig ausschlossen, sondern vielmehr "einander ausbalancierten, relativierten, neutralisierten." 5 Im ganzen bieten die Beiträge viele Detaileinsichten zum Krieg aus der Nähe, nutzen aber kaum einmal die neuen Perspektiven des erfahrungsgeschichtlichen Ansatzes, da es ihnen an einem tertium comparationis mangelt, das Räume, Gruppen und Deutungen aufeinander beziehen könnte.
Wie ein solches Verfahren aussehen könnte, demonstriert dagegen Matthias Ilg. In seiner überaus detaillierten Analyse (138 Seiten!) der Genese und Funktion des Kultes um den "neuen" Märtyrer Fidelis von Sigmaringen, der 1622 als Kapuzinermissionar den Bündner Wirren zum Opfer gefallen war, gelingt es ihm, brennpunktartig verschiedene Erfahrungsgruppen (Soldaten des Sulzschen Regiments, das Haus Hohenzollern sowie das Haus Habsburg) in ihrer Konkurrenz um die Memoria des Märtyrers zu präsentieren. Entsprechend der unterschiedenen Erfahrungen aller Erfahrungsgruppen identifiziert Ilg verschiedene Deutungsmuster des Krieges, die an den Fidelis-Kult anschließen. Während dieser für das Sulzsche Regiment als unauthorisierter Soldatenheiliger fungierte (wobei die Parallelisierung mit Motiven des Neostoizismus nicht wirklich überzeugt), der als Märtyrer erlittene und verübte Gewalt konfessionell zu legitimieren half, wurde sein Kult durch das Haus Habsburg, das seine Sanktifikation in Rom vorantrieb, in das entstehende Konzept der pietas austriaca integriert. Ebenso zeichnet er eine mental map des Märtyrerkultes entlang der spanischen Straße durch die Kultzentren Feldkirch, Chur, Luzern und Freiburg im Breisgau.
Ilg kann das Konzept der Erfahrungsgeschichte deshalb überzeugend anwenden, da er nicht von vornherein die untersuchten Erfahrungsgruppen und -räume definiert, sondern sie erst auf der Spur des Fidelis-Kultes entwirft und so auch zu einer komplexeren Analyse der virulenten Bedeutungsmuster in ihrer Abhängigkeit von verschiedenen Erfahrungsgruppen und -räumen gelangt. Erfahrungen des Krieges, so wird hier deutlich, sind sozial, topographisch, kulturell und politisch geformt. Dies unterscheidet sie von Erlebnissen des Krieges. Zugleich ist ihnen eine Zeitlichkeit eingeschrieben, die sie erst im Gedächtnis als Strategien der Bewältigung von Kontingenz entstehen läßt. In einem seiner letzten Texte hat Walter Benjamin diesen Zusammenhang aufgezeigt: "Wo Erfahrung im strikten Sinne obwaltet, treten im Gedächtnis gewisse Inhalte der individuellen Vergangenheit mit solchen der kollektiven in Konjunktion." 6 Es bleibt die Aufgabe einer projektierten Erfahrungsgeschichte, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, aber auch das Individuelle und das Kollektive aufeinander zu beziehen. Bisher ist die Geschichtswissenschaft, dies verdeutlicht der Sammelband, allenfalls auf dem Weg zu sich selbst.
Anmerkungen
1 Koselleck, Reinhart: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthrologogische Skizze (1988), in: ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von Hans-Georg Gadamer, Frankfurt/Main 2000, S.27-77, hier S.30.
2 Vgl. Münch, Paul (Hg.): "Erfahrung" als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte, München 2001 (HZ Beiheft 31).
3 Vgl. Scott, Joan Wallach: The Evidence of Experience, in: Terence J. MacDonald (ed.): The Historic Turn in the Human Sciences, Ann Arbor (Mich.) 1996, S. 379-406.
4 Sarasin, Philipp: Mapping the body. Körpergeschichte zwischen Konstruktivismus, Politik und "Erfahrung", in: Historische Anthropologie 7 (1999), S.437-451, hier S.450. Vgl. auch: Rüsen, Jörn: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln u.a. 2001, S.145-179.
5 Walther, Gerrit: Humanismus und Konfession, in: Notker Hammerstein / Gerrit Walther (Hgg.): Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche, Göttingen 2000, S.113-127, hier S.127.
6 Benjamin, Walter: Über einige Motive bei Baudelaire, in: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1, Frankfurt/Main 1977, S.185-229, hier S.189.