Von einer „gegenwärtigen Aera der Entspannung“ in den internationalen Beziehungen sprach Emil Daniels, der politische Korrespondent der Preußischen Jahrbücher, im Frühjahr 1914. Nur wenige Wochen später fielen die Schüsse von Sarajewo, und bald darauf befanden sich die europäischen Mächte im Krieg. Eine gewaltige Fehleinschätzung also, eine völlige Verkennung der Realitäten, die dem deutschen Publizisten da in die Feder geflossen war? Kennzeichneten nicht Spannungen, Machtkonflikte, Krisen und eine scharfe Blockkonfrontation die internationale Politik am Vorabend des Ersten Weltkriegs? Die gleichen Fragen möchte man auch Friedrich Kießling stellen, dessen Studie über Entspannung in den internationalen Beziehungen in den letzten Jahren vor dem „Großen Krieg“ ein auf den ersten Blick abseitiges, in Anbetracht der Dynamik der Konflikt- und Kriseneskalation marginales Thema zu behandeln scheint, dem allenfalls der Reiz des Kontrafaktischen innewohnen könnte.
Doch dies ist mitnichten der Fall. Die aus einer Erlanger Dissertation hervorgegangene Untersuchung erklärt uns besser den Weg in den Krieg, jene höchst komplexe und in sich widersprüchliche Entwicklung der internationalen Politik in den letzten Jahren vor 1914, als es viele Bücher der letzten Jahre und Jahrzehnte mit ihrem Fokus auf den Spannungen, Antagonismen und Machtrivalitäten zu tun in der Lage waren. Die Beschäftigung mit Entspannungstendenzen, -bemühungen und -absichten ist methodisch ein probates Mittel, die Genese des Ersten Weltkriegs noch einmal in den Blick zu nehmen, sie aber gleichsam analytisch gegen den Strich zu bürsten. Von der Sache her betrachtet die Arbeit indes Entspannung oder Détente nicht als der internationalen Politik vor 1914 widersprechend, sondern als integralen Teil sowohl des internationalen Systems als auch einzelstaatlicher Außenpolitik. Damit löst sich Kießling vom mainstream der bisherigen Forschung, die nicht selten geradezu deterministisch auf den Kriegsbeginn 1914 zusteuerte und daher den Blick nur auf diejenigen Entwicklungen richtete, die direkt und zwingend in den Krieg führten. Das aber ist für den Vf. zu stark vom Nachkrieg her gedacht; es missachtet die Offenheit der Zukunft in den Vorstellungen und Wahrnehmungen gerade auch der außenpolitisch-diplomatischen Eliten Europas, für welche die Jahre vor 1914 eben nicht, in jedem Falle aber nicht nur Vorkrieg waren.
Klug konzentriert auf die Außenpolitik des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns und Großbritanniens - auf diese Weise berücksichtigt die Analyse dennoch alle denkbaren bilateralen Beziehungen zwischen den fünf Hauptmächten Europas - gelingt der Untersuchung der Nachweis, dass bis in Julikrise hinein, ja, bis unmittelbar vor Kriegsbeginn Entspannungsbemühungen mit konfrontativen, konfliktverschärfenden außen- und sicherheitspolitischer Maßnahmen einhergingen. Gezeigt hatte sich das schon nach der zweiten Marokkokrise, als die europäischen Regierungen die Risiken der verschärften Blockkonfrontation durch Entspannungsschritte zu mindern versuchten. Das begann auf der höchsten Ebene mit der bekannten Haldane-Mission von 1912 oder dem Treffen von Wilhelm II. und Zar Nikolaus II. in Baltisch Port im gleichen Jahr sowie anderen Monarchenkontakten, setzte sich fort in der Identifikation von Kooperationsfeldern an der Peripherie (Naher Osten, Afrika) und führte bis hin zur Abstimmung öffentlicher Reden beispielsweise zwischen Bethmann Hollweg und Edward Grey. Hinzu traten multilaterale Entspannungsansätze, vor allem im Umfeld der Balkankriege 1912/13. In diesem Zusammenhang spielte die Vorstellung des „Konzerts der Mächte“ oder des „europäischen Konzerts“, von Kießling auch konstruktivistisch präsentiert als „gedachte Ordnung“ oder „vorgestellte Gemeinschaft“, eine wichtige Rolle: die auf den Wiener Kongress zurückgehende Idee einer aus ihrer Präponderanz resultierenden Verantwortung der Großmächte für Europa, die europäische Ordnung, den europäischen Frieden.
Das internationale System von 1912 oder 1914 war indes nicht mehr das von 1815. Und das führt nun zu der Frage, die der Autor durchaus und in aller Klarheit stellt, warum Entspannung letztendlich scheiterte. Die Standardantwort auf diese Frage lautet, daß in der Julikrise diejenigen Mechanismen der Krisenbewältigung und Deeskalation, die zuvor stets funktioniert hatten, versagten. Doch diese Antwort ist Kießling - und nicht nur ihm - zu einfach, und die Studie sucht deshalb nach tieferen Gründen. Diese liegen auf mehreren Ebenen. Im Denken und Handeln der außenpolitisch-diplomatischen Akteure des Untersuchungszeitraums dominierten länderübergreifend bestimmte Vorstellungen von den Strukturen eines internationalen Systems sowie seinen Funktionsmechanismen und Steuerungsmöglichkeiten. Diese Vorstellungen und die aus ihnen sich ergebende außenpolitisch-diplomatische Praxis waren erstaunlich homogen; sie waren - trotz der massiven Nationalisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts - noch immer europäisch. Diplomaten verstanden sich nicht nur, sondern sie stimmten auch weitestgehend überein in ihren Zielsetzungen. Nur: In den 100 Jahren zwischen Wiener Kongress und Erstem Weltkrieg hatten sich die Bedingungen von Außenpolitik, nicht zuletzt die gesellschaftlichen, massiv verändert. Insbesondere der Aufstieg der öffentlichen Meinung ist hier zu nennen, die Entstehung nationaler und massengesellschaftlicher politischer Öffentlichkeiten. Das sahen die diplomatischen Eliten zwar, bezogen es aber in ihr Kalkül nicht ein, ja versuchten immer wieder traditionelle Außenpolitik, auch als Geheimdiplomatie, an der öffentlichen Meinung vorbei, wenn nicht gar gegen sie zu betreiben. Konnte aber eine Entspannungspolitik langfristig erfolgreich sein, die in den nationalen und nationalistischen Aufwallungen der öffentlichen Meinung, von Presse und Verbänden als weich, als zaghaft, als schwach gebrandmarkt wurde?
Eine andere Antwort auf die Frage, warum Détente 1914 scheiterte, liegt in der Frage, was denn die außenpolitischen Eliten unter Entspannung verstanden. Hier bietet die Studie nicht nur terminologisch bemerkenswerte Überlegungen. Im Verständnis der Akteure der Jahre vor 1914 wurde Entspannung gedacht und - wichtiger noch - wahrgenommen als ein erster Schritt in Richtung Überwindung der bestehenden Blöcke. Détente im frühen 20. Jahrhundert zielte nicht auf die Stabilisierung des Blockantagonismus. Die Formel des britischen Außenministers Grey von den „getrennten, aber nicht feindlichen Lagern“ konnte sich nicht durchsetzen. Sie war ihrer Zeit weit, zu weit voraus, sie weckt Assoziationen an die sechziger Jahre, an die Détente im Ost-West-Konflikt. Dessen Stabilisierung war freilich auch der Existenz nuklearer Waffen zu verdanken, der durch sie möglichen Koppelung von Entspannung und Abschreckung. Einen vergleichbaren Stabilisierungsfaktor gab es vor 1914 nicht. Wegen der Vorstellung von Détente als Blocküberwindung oder gar Blockauflösung wirkte Entspannung vor dem Ersten Weltkrieg tendenziell destabilisierend, nicht zuletzt weil insbesondere bilaterale Entspannungsschritte innerhalb des eigenen Lagers Misstrauen säten, Alliierte verunsicherten und die Blockkohäsion scheinbar in Frage stellten. Um diesen Effekten zu begegnen, sahen sich die Regierungen förmlich gezwungen, parallel zu ihrer Entspannungspolitik eine blockinterne Politik der Rückversicherung und Bündnisbestätigung zu betreiben, die ihrerseits wiederum zu einer Verschärfung des Blockgegensatzes führte - eine Dynamik, die in der Julikrise nicht mehr zu beherrschen war. Damit integriert der Vf. die Entspannungsbemühungen der Jahre vor 1914 in die Vorgeschichte und die Analyse der Gründe des Ersten Weltkriegs. Er kann überzeugend darlegen, warum und wie am Ende auch Détente konfliktverschärfend wirken konnte. Den Gegensatz von Spannung und Entspannung löst er damit höchst einleuchtend auf.
Die Studie weist weit über ihren Gegenstand hinaus. Sie demonstriert souverän die Möglichkeiten einer Geschichte der internationalen Beziehungen, und sie tut das auf einem Feld, das traditioneller kaum sein könnte. Kießling liest sogar diplomatische Akten. In einer Zeit, in der internationale Geschichte allenthalben auf die Analyse von Außenpolitik verzichten zu können glaubt, ist eine solche Themenwahl mutig. Dabei zeigt die Untersuchung exemplarisch eine Möglichkeit moderner Politikgeschichte. Sie verbindet indes nicht nur - in Methode und Gegenstand - fruchtbar Tradition und Innovation, sondern sie leistet auch einen Beitrag zur Beantwortung einer wichtigen Frage. Und an solchen Arbeiten besteht in der Geschichte der internationalen Beziehungen noch immer ganz erheblicher Bedarf.