Im Zentrum der Hamburger Dissertationsschrift steht die Stadtgeschichtsschreibung der Frühen Neuzeit, der Einfluß konfessionellen Denkens auf die Chroniken dieser Zeit und ihre Funktion in den vielfältigen Konflikten und Wandlungsprozessen. Susanne Rau will darüber hinaus durch die Annäherung an zeitgenössische Deutungssysteme das geschichtliche Denken und den Umgang mit Geschichte in der Frühen Neuzeit eingehender bestimmen. Mit dieser Fragestellung betritt sie Neuland, denn die Konfessionalisierungsforschung hat zwar die Bedeutung historiographischer Quellen erkannt, sich aber bisher nicht eingehender damit beschäftigt. Ausgehend von der These, daß nicht nur die Reformation, sondern auch die Konfessionalisierung ein „urban event“ (Arthur G. Dickens) sei und sich durch die konfessionelle Konkurrenzsituation konfessionsspezifische Geschichtskulturen ausgeprägt haben, konzentriert sich die Untersuchung auf die vier Städte Hamburg (lutherisch), Bremen (reformiert), Köln (katholisch) und Breslau (seit 1648 freie Religionsausübung). Bewußt wird damit eine Konzentration auf die gut erforschten Reichsstädte vermieden, wobei die Auswahl der Städte vor allem mit pragmatischen Gründen gerechtfertigt wird.
Methodisch ist die Arbeit in den Kontext erfahrungsgeschichtlicher Ansätze zu verorten, was sich auch in einem sehr ausführlichen theoretischen Einleitungsteil niederschlägt. Susanne Rau baut im wesentlichen auf zwei Modellen auf. Zum einen arbeitet sie mit dem von Maurice Halbwachs entwickelten Begriff des kollektiven Gedächtnisses, wobei sie die Stadt als relativ begrenzten Erfahrungsraum begreift, der von Chronisten und Rezipienten gedanklich umfaßt werden kann. Zum andern orientiert sie sich an Hayden Whites strukturalistischer Erzähltheorie und dessen Konzept der Narrativität. Eine rhetorische Textanalyse der meist handschriftlichen Chroniken, welche rhetorische Figuren, direkte Rede, Lesereinbezug, Quellenzitate sowie Pathoselemente in den Blick nimmt, soll Prozesse der Historisierung und die Selbstthematisierung im konfessionellen Zeitalter offenlegen. Eingebettet wird die Textanalyse in einen kurzen Abriß der konfessionellen Situation der Städte und eine Rezeptionsanalyse sowie Kurzbiographien der Chronisten.
Während der methodische Teil etwas überfrachtet wirkt - der Arbeit insgesamt hätte eine Straffung gut getan -, liegt das eigentliche Verdienst von Susanne Rau bei der Zusammenstellung der Chroniken, der Erforschung ihrer Verfasser und der Textanalyse. Hier leistet sie Grundlagenarbeit, zeigt sie doch die Vielfalt der Gattung und ihre Entstehungsbedingungen sowie die Inhalte auf. Die bisherige Annahme der Forschung, daß der Ursprung der Chronistik in den konfessionellen Auseinandersetzungen selbst zu suchen sei, wird von ihr bestätigt. Diese spezielle Konstellation sei darüber hinaus die Ursache für die Einführung eines Wahrheitsdispositivs, welches in der Regel von einer Unparteilichkeitsforderung begleitet wurde. Die frühneuzeitlichen Geschichtsschreiber betrachteten es als ihre Pflicht, die Ereignisse für ihre Mit- und Nachwelt aufzuzeichnen, wobei Geschichte weit mehr als eine Exempelsammlung sein sollte. Vor allem Melanchthon bemühte sich um eine systematischere Aneignung sowie Verarbeitung der Vergangenheit und regte andere zu einer entsprechenden Auseinandersetzung mit Geschichte an.
Susanne Rau kann keinen homogenen Autorentyp festmachen. In der Regel handelte es sich bei Verfassern von Stadtchroniken um Amtsträger der Stadt oder der Kirche. Unmittelbar nach der Reformation traten geschichtsschreibende Pfarrer besonders häufig auf, was die Verfasserin mit dem Einfluß von Melanchthon in Zusammenhang bringt. Der überwiegende Teil der Chronisten besaß eine Universitätsausbildung. Es finden sich nur wenige Schreiber ohne höhere Bildung, Frauen traten beispielsweise als Verfasser überhaupt nicht in Erscheinung.
Auch die Textanalyse bringt neben einer Fülle stadtgeschichtlicher Informationen interessante Einsichten. Obwohl die frühneuzeitlichen Chroniken einem annalistischen Grundmuster folgen und keine geschlossene Erzählung darstellen, bilden sie offenbar ein Verweissystem, das die disparaten Ereignisse aufeinander bezieht und sie in eine zeitliche Ordnung bringt. „Ein Ergebnis der narrativen Analyse ist zum Beispiel, daß auch die reformatorischen Ereignisse erst nachträglich, nämlich durch die erzählerische Formung zu dem wurden, was erst Jahrzehnte später als „Reformation“ bezeichnet wurde.“ (S. 523) Nicht die Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern bereits die des konfessionellen Zeitalters verlieh den reformatorischen Ereignissen Kohärenz. Frühneuzeitliche Chroniken legen somit die Reformation als Epochenkonstruktion offen, eine Erkenntnis, die sich auch auf andere historische „Großereignisse“ übertragen läßt.
Dabei interpretierten reformatorisch gesinnte Chronisten die Reformation als Wendepunkt sowohl in der Geschichte der Kirche als auch der Stadt (Nullpunktmuster), während katholische eher von der Wiederherstellung alter und geordneter Verhältnisse ausgingen. Beide Seiten verdrängten oder vernachlässigten keineswegs die Vorgeschichte. Anders gingen die Chronisten jedoch mit den konfessionellen Gegnern um. Die konfessionell geprägte Stadtgeschichtsschreibung kennt keine anderen Glaubensgemeinschaften, auch wenn diese in der Realität für die Entwicklung der Stadt eine wichtige Rolle gespielt haben. „Die chronikalische Ausgrenzung ist dabei mehr eine symbolische als eine tätliche, doch sie prägte den zeitgenössischen Diskurs – trotz aller irenischen Tendenzen – und trug damit zur Festigung der eigenen Identität bei.“ (S. 522)
Susanne Rau verweist in diesem Zusammenhang auf die Rezeption, die sie aufgrund mangelnder Quellen nur ansatzweise umreißen kann. An den Gebrauchsspuren, der frühneuzeitlichen „kollektiven“ Lesepraxis, dem Aufbewahrungsort der Chroniken und ihrer Einbeziehung in den Unterricht glaubt sie allerdings, eine größere Anzahl von Rezipienten als lediglich einen ratsnahen Kreis ausmachen zu können. Wichtig erscheinen ihr in diesem Zusammenhang vor allem die Feste, insbesondere die Reformationsfeste, die sie als multimediale Rezeptionsform städtischer Geschichte sieht, bei der emotional-sinnliche Elemente eingesetzt und die gesamte Bewohnerschaft einbezogen wurde. Unklar bleibt aber, inwiefern Reformationsfeste in den ausgewählten Städten wirklich zur Rezeption der städtischen Geschichte und Stärkung der eigenen Identität beigetragen haben. Für das gut untersuchte, gemischtkonfessionelle Augsburg trifft das sicherlich zu, aber für Hamburg, Bremen oder gar Breslau wirken die Belege nicht völlig überzeugend, zumal man wohl kaum davon sprechen kann, daß Reformationsfeiern vor allem städtische Feiern gewesen seien. (S. 482)
Susanne Rau deutet an, daß die städtische Chronistik nicht ausschließlich im konfessionellen Kontext zu sehen ist. Eine alternative Interpretation schneidet sie selbst an, ohne jedoch näher darauf einzugehen. Denn die Verwendung frühneuzeitlicher Stadtchroniken als Beweismittel vor Gericht weist nicht nur auf die Rezeptionsproblematik hin, sondern geht wohl weit darüber hinaus. So könnten auch besitz- und eigentumsrechtliche Konflikte, die zum Beispiel im Zuge der Reformation bei der Enteignung von Kloster- und Kirchengut auftraten, ein Anlaß gewesen sein, Chroniken zu verfassen. Schließlich wurden auf diese Weise städtische Besitzansprüche legitimiert. Hier wünscht man sich weitergehendere Überlegungen.
Insgesamt macht Susanne Rau in ihrer Dissertation auf ein wichtiges Feld aufmerksam, das in der künftigen Konfessionalisierungsforschung stärker berücksichtigt werden sollte. Es gilt, die Bedeutung der Historiographie für die konfessionelle Identität an weiteren Beispielen herauszuarbeiten.