R. Büttner: Sowjetisierung oder Selbständigkeit?

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Titel
Sowjetisierung oder Selbständigkeit?. Die sowjetische Finnlandpolitik 1943-1948


Autor(en)
Büttner, Ruth
Reihe
Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa 8
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 89,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beate Ihme-Tuchel, FU Berlin, Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften

Diese stark diplomatiegeschichtlich angelegte Dissertation untersucht, warum Finnland, anders als die mittel- und südosteuropäischen Länder sowie die SBZ, in den vierziger Jahren nicht sowjetisiert worden ist. Dies geschieht äußerst akribisch, historisch kenntnisreich und umfassend, im Ton sowie auch in der Auseinandersetzung mit älteren Forschungspositionen angenehm abwägend und darüber hinaus stilistisch elegant.

Als Grundlage ihrer Arbeit hat Büttner die derzeit zugänglichen sowjetischen und finnischen Quellen im Russischen Staatsarchiv der sozialpolitischen Geschichte, im Russischen Staatsarchiv der neuesten Geschichte, im Archiv der Außenpolitik der Russischen Föderation, im Staatsarchiv der Russischen Föderation, im Russischen Staatlichen Wirtschaftsarchiv, im Archiv des finnischen Außenministeriums, im Archiv des finnischen Staatspräsidenten Urho Kekkonen und im Finnischen Nationalarchiv ausgewertet; daneben hat sie die relevante sowjetische/russische, finnische, deutsche, englische und auch französische Literatur herangezogen. Schon allein die beachtliche Fremdsprachenkompetenz der Autorin lässt uns auf weitere Arbeiten zu den finnisch-sowjetischen oder den finnisch-russischen Beziehungen hoffen, was diese selbst für eine Dissertation ungewöhnlich umfangreichen „Investitionen“ auch unter stärker betriebswirtschaftlichen Aspekten „rentabler“ machen würde.

Berücksichtigt ist hier zudem die seit Jahren in der Osteuropa- und DDR-Forschung erhobene Forderung nach einer größeren Zahl komparativ angelegter Studien, die jedoch - trotz der seit den Umbrüchen des Jahres 1989/90 vielfach erweiterten Zugangsmöglichkeiten zu den dortigen Archiven - in der Praxis allzu oft an der fehlenden Sprachkompetenz der ForscherInnen scheitert. Ruth Büttner hat so mit ihrer Arbeit über die sowjetische Finnlandpolitik der vierziger Jahre nicht nur eine wichtige Forschungslücke geschlossen, sondern zudem einen gewichtigen Beitrag auf dem bisher nur unzureichend beackerten Feld der Komparatistik in der Osteuropaforschung geleistet. Daneben hat sie zu der großen Forschungsfrage, ob zum Ende des Zweiten Weltkrieges eine umfassende Sowjetisierungsabsicht gegenüber den sich im sowjetischen Einflussbereich befindenden Ländern vorlag, einen länderspezifischen Beitrag geleistet.

Die Frage, warum Finnland zum Erstaunen vieler nicht sowjetisiert wurde, untersucht Büttner anhand einer Analyse der sowjetischen Außenpolitik gegenüber Finnland am Ende des Zweiten Weltkrieges und der inneren Ausgangsbedingungen in Finnland. Zwei Arbeitshypothesen, die sich letztlich auch als zutreffend erweisen, liegen dieser Arbeit zugrunde: Am Ausgang des Zweiten Weltkrieges hätten zwar durchaus „definierbare Ziele“ der sowjetischen Außenpolitik vorgelegen; diese hätten jedoch die politischen Realitäten in Finnland berücksichtigen müssen. Daraus ergibt sich als zweite Hypothese, dass die „finnischen nationalen Ausgangsbedingungen eine wichtige Rolle bei der Formulierung und spätestens bei der Implementierung der sowjetischen Außenpolitik spielten“ (S. 10).

Hier folgt die Autorin in Anlehnung an Eva Schmidt-Hartmann und Eugen Lemberg der politischen Kulturforschung, die auf die Osteuropaforschung bezogen im Kern besagt, dass eine Sowjetisierung nur dort erfolgte, „wo keine gefestigten demokratischen Ordnungen und wohlverankerte demokratische Orientierungen vorhanden waren.“ Die jeweiligen autochthonen Bedingungen und die „nationalen Prägungen“ hätten daher eine wichtige Rolle bei der Annahme oder Nichtannahme des sowjetischen Modells gespielt (S. 14). Anders als etwa Vladislav Zubok, der von einer strikten Sowjetisierungsabsicht Stalins und seiner engsten Umgebung gegenüber den Ländern in ihrem Einflussbereich ausgeht, spricht Büttner für den finnischen Fall daher lieber von einem „vorsichtigen Expansionismus“ der sowjetischen Außenpolitik (S. 11). Nichts in den derzeitig zugänglichen Quellen deute darauf hin, dass die sowjetische Wirtschaftspolitik darauf abzielte, eine revolutionäre Atmosphäre in Finnland zu schaffen. Durchaus im Rahmen sowjetischer Vorstellungen aber habe die Absicht gelegen, Finnland „latent ökonomisch von sich abhängig zu machen, um sich damit politische Einflußmöglichkeiten zu sichern.“ In dieser Frage habe sich die sowjetische Außenpolitik gegenüber Finnland „in nichts“ von der gegenüber den osteuropäischen Ländern unterschieden. (S. 290)

Die Fragestellung wird auf drei zentralen Feldern untersucht: 1. den militärischen, 2. den politischen und 3. schließlich den wirtschaftlichen Aspekten der sowjetischen Außenpolitik. Alle Hauptkapitel schließen mit einer knappen Zusammenfassung ihrer wesentlichen Untersuchungsergebnisse, was angesichts der Komplexität und Kleinteiligkeit der Materie und angesichts der Tatsache, dass diese Problematik, weil bisher „weitgehend außerhalb des westlichen Forschungsinteresses“ liegend (S. 9) und somit vielen LeserInnen weniger vertraut, nur begrüßt werden kann.

Der erste Teil der Studie umfasst den „langen Weg“ zum Frieden. Hier stehen die sowjetischen Europaplanungen während des Krieges und die Entwicklung der sowjetischen Kriegsziele in Finnland 1943/44 im Mittelpunkt. Oberstes sowjetisches Kriegsziel sei ein Separatfrieden gewesen, um die „Front der angreifenden Staaten um immerhin tausend Kilometer zu verkürzen“. Daneben seien alle anderen Ziele verblasst. (S. 52) Aus finnischer Sicht habe es sich bei diesem Krieg um eine Fortsetzung des Winterkriegs von 1939/40 gehandelt, weshalb er in ihrer Historiografie auch als „Fortsetzungskrieg“ bezeichnet werde. Erst das Ausbleiben militärischer Erfolge der deutschen Wehrmacht habe zur Bildung einer „Friedensopposition“ geführt. Büttner analysiert hier akribisch die wechselvolle Entwicklung bis zum Abschluss des Waffenstillstandsvertrages im September 1944, der auch als „Vorfriedensvertrag“ bezeichnet wurde.

Auch fragt sie, warum Finnland nicht besetzt wurde, obwohl die UdSSR doch bemüht war, dieses Land als „rein sowjetisches Einflußgebiet“ zu definieren (S. 227). Sie kann zeigen, dass es in dieser Frage bei den beteiligten sowjetischen Institutionen verschiedene Positionen gab. Die sowjetische Politik sei hier widersprüchlich gewesen, weil eine Besetzung Finnlands zwar nie ganz ausgeschlossen worden sei, konkrete Maßnahmen jedoch unterblieben. Büttner verweist zudem mehrmals auf das nur begrenzte strategische Interesse der UdSSR an diesem Land (v.a. S. 348). Möglicherweise gab sich die UdSSR deswegen mit der Errichtung militärischer Stützpunkte zur Sicherung ihrer nordwestlichen Flanke zufrieden. Auch habe eine Legitimation für eine Besetzung Finnlands gefehlt. Dieses Kapitel analysiert auch ausführlich den Einfluss der Westalliierten und des neutralen Schweden auf die sowjetische Finnlandpolitik. Erst die schwedische Neutralitätspolitik, wiewohl vielfach gebrochen, habe den sowjetischen Verzicht auf eine Besetzung Finnlands möglich gemacht. (S. 344)

Die politischen Aspekte sind unter dem Oberbegriff „Folgen des Krieges“ subsumiert. Hier steht insbesondere das Schicksal der Kriegsgefangenen im Vordergrund, also vor allem die Rückführung der Sowjetbürger aus Finnland sowie der finnischen Kriegsgefangenen aus der UdSSR. Breiten Raum nehmen daneben die sowjetischen und finnischen Ermittlungen zur „Suche nach den Kriegsverbrechern“ und die Kriegsschuldfrage ein. Auch die Sonderstellung Mannerheims, der sich nach sowjetischer Auffassung beim finnischen Kriegsaustritt derart große Verdienste erworben habe, dass er aus den Prozessen gänzlich herausgehalten werden sollte, wird thematisiert. Büttner verweist auf die Zugeständnisse, die die sowjetische Seite machen musste, um einen Prozess gegen die finnischen Kriegspolitiker überhaupt zustande zu bringen. Der finnische Handlungsspielraum sei daher wohl größer gewesen, als die damaligen Politiker annahmen.

Unter dem Obertitel „wirtschaftliche Einflussnahme der sowjetischen Behörden“ geht Büttner der Aushandlung sowie der Verwendung der finnischen Reparationen, den dabei auftretenden Problemen und auch den finnischen Reparationsansprüchen nach. Auch fragt sie nach den Zielen der Sowjetunion in der Reparationsfrage und nach etwaigen westlichen Einflüssen auf diese. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Sowjetunion ihre Reparationspolitik von vornherein im Alleingang geplant habe und allenfalls „mäßig“ Rücksichten auf englische Interessen nehmen musste, das sehr an finnischem Holz für den eigenen Wiederaufbau interessiert war (S. 288). Zudem sei der Zweck der Reparationen, nämlich der Wiederaufbau des zerstörten Landes, kaum zu trennen vom Wiederaufbau seiner Industrie. Die Bestrafung der Kriegsverbrecher und die Erhebung von Reparationen sei für die UdSSR vor allem eine Frage der politischen Gerechtigkeit gewesen. Zuletzt aber habe die „Furcht“ eines „repressiven Regimes vor Offenlegung der eigenen Schwächen“ überwogen, „die mit einer gründlichen Erkundung der Kriegsverbrechen auf sowjetischem Boden und der wirtschaftlichen Schäden verbunden gewesen wäre.“ (S. 289) Daher unterblieben umfangreichere Nachforschungen auf diesem Gebiet. Ein weiterer Punkt ist den sowjetischen Firmenbeteiligungen in Finnland gewidmet, die sich von den in den osteuropäischen Ländern eingerichteten „Gemischten Gesellschaften“ in mancherlei Hinsicht unterschieden.

Als Fazit wird festgehalten, dass die sowjetische Außenpolitik weder politisch noch wirtschaftspolitisch einen wesentlichen Unterschied zwischen den osteuropäischen Ländern und Finnland machte. Allerdings entfielen für die Sowjetunion wegen der Nichtbesetzung Finnlands wichtige Einflussmöglichkeiten. Insgesamt zeichnet Büttner die Geschichte der „Nichtsowjetisierung“ Finnlands in einer fundierten und quellengesättigten Studie nach, ohne dabei den faktisch starken Einfluss der UdSSR auf Finnland in den vierziger Jahren zu vernachlässigen. Die sehr lesenswerte Arbeit kommt damit zu erheblich differenzierteren Schlüssen, als es der - verständlicherweise - antagonistisch formulierte Titel vermuten lässt.

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