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Titel
Hoffnung - Hilfe - Heuchelei. Geschichte des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte in Betrieben des DDR-Grenzbezirks Frankfurt/Oder 1966-1991


Autor(en)
Röhr, Rita
Anzahl Seiten
283 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Hübner, Zentrum für Zeithistorische Forschung

Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte europäischer Länder kennt zahlreiche Beispiele grenzüberschreitender Arbeitskräftewanderung. Eines der wichtigsten Herkunftsländer war Polen, wobei zunächst die zirkuläre Landarbeitermigration nach Deutschland eine besondere Rolle spielte. Bereits 1894 hatte sich Max Weber diesem Thema in seiner Studie über die „Lage der ostelbischen Landarbeiter“ zugewandt. Der zweite große Wanderungsstrom fand in der Hochindustrialisierungsperiode vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg statt. In dieser Zeit suchten und fanden rund 750.000 zumeist aus dem preußischen Teilungsgebiet stammende Polen in den industriellen Ballungszentren des Kaiserreichs Lohn und Brot. Berlin, Bremen, Hamburg und vor allem das Ruhrgebiet waren wichtige Zielorte. Alles dies vollzog sich relativ unspektakulär. Man folgte im allgemeinen ökonomischen Rationalitätskriterien.

Erst der Nationalsozialismus fügte im Zweiten Weltkrieg mit dem massenhaften Einsatz polnischer Zwangsarbeiter ein düsteres Kapitel hinzu. Vor diesem historischen Hintergrund untersucht Rita Röhr in ihrem Buch, der bearbeiteten Fassung einer 1998 an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt/Oder verteidigten Dissertation, die Beschäftigung polnischer Arbeitskräfte in DDR-Betrieben. Das ist allein schon deshalb verdienstvoll, weil die Geschichte dieser Erwerbstätigengruppe bislang in der Forschungsliteratur zu den deutsch-polnischen Beziehungen und zu den sozialistischen Arbeitsgesellschaften der DDR und der Volksrepublik Polen allenfalls marginal behandelt wurde. Zum Forschungsstand gibt Röhr einen knappen, aber recht instruktiven Überblick.

Ihre eigene Arbeit basiert im wesentlichen auf archivalischen Quellen aus der DDR. Sie dokumentieren vor allem die Handlungsebenen der SED, des FDGB, der Regierung, der Bezirksverwaltungen und in wenigen Fällen auch der Betriebe. Bedauerlicherweise ist die relevante polnische Überlieferung nach 1993 zum großen Teil der Kassation anheimgefallen. Nur wenige Einzeldokumente aus den Archiven der Arbeitsämter Zielona Góra (Grünberg) und Gorzów Wielkopolski (Landsberg) konnte die Autorin auswerten. Dieses Defizit ist vor allem deshalb bedauerlich, weil Intentionen und Praktiken der Rekrutierung und Entsendung polnischer Arbeitskräfte in die DDR nur unzureichend aus der Warschauer Perspektive zu beleuchten sind.

Allerdings wird die Einseitigkeit der Quellenbasis durch die Auswertung von Interviews und Fragebögen etwas gemildert. In ihnen hat Rita Röhr nach den Erfahrungen gefragt, die deutsche und polnische Beschäftigte im Betrieb und im Umgang miteinander sammelten. Angesichts der begrenzten Anzahl von Antworten war die Autorin gut beraten, bei der Interpretation Zurückhaltung zu üben und sich vor allem an die schriftlich überlieferten Quellen zu halten. Anders als der Titel erkennen lässt, beschränkt sich die Darstellung in räumlicher Hinsicht keineswegs nur auf den Bezirk Frankfurt/Oder. Dieser steht zwar im Zentrum der Aufmerksamkeit, doch behandelt Röhr das Thema durchaus im Hinblick auf die gesamte DDR.

Dem eigentlichen Untersuchungsgegenstand nähert sie sich jedoch auf Umwegen, über deren Sinn man streiten kann. Da werden zuerst die innerpolnischen Konflikte während des Zweiten Weltkrieges und in den ersten Nachkriegsjahren, die Vertreibungs- und Umsiedlungsproblematik wie auch die Oder-Neiße-Grenzfrage ins Blickfeld gerückt. Nicht zuletzt im Streben nach einer knappen Darstellung dieser komplizierten Materie holpert die Argumentation streckenweise. Auch im thematischen Kernbereich ihres Buches finden sich Exkurse, die das Thema zwar tangieren, oft aber sehr weit ins historische Umfeld führen. So gibt es auf der Grundlage von Sekundärliteratur Ausführungen zur Wirtschaftspolitik, zur Ära Gierek und ihren Problemen, zur Gewerkschaft „Solidarność“ usw. Zum Verständnis des Kontextes sind sie sicher alle wichtig, doch in ihrer nicht selten apodiktischen Verknappung im Detail durchaus anfechtbar. Vielleicht wäre eine Beschränkung auf die Hauptkonturen günstiger gewesen. Wer solche Bücher liest, folgt unschwer auch Hinweisen auf weiterführende Literatur.

Bevor Rita Röhr zum engeren Themenkreis vordringt, breitet sie Fakten und Überlegungen zur wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung im deutsch-polnischen Grenzgebiet aus. Man liest das mit Gewinn, werden doch hier einige wesentliche Faktoren sichtbar, die seit Beginn der fünfziger Jahre eine allmähliche Ausweitung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen beförderten und letztlich auch die Anwerbung polnischer Arbeitskräfte für DDR-Betriebe nahe legten. Den entscheidenden Ausgangspunkt hierfür bildete die simple Tatsache, dass der DDR in den späten fünfziger Jahren durch eine anhaltende Fluchtbewegung vor allem junger und qualifizierter Menschen die Arbeitskräfte knapp wurden. Auf der anderen Seite hatte es die Volksrepublik Polen, unter anderem aufgrund hoher Geburtenraten nach dem Zweiten Weltkrieg, mit einem gegenteiligen Problem zu tun: Es fehlten Arbeitsplätze. Hier trafen sich wirtschaftliche Interessen, die bereits vor dem sogenannten Pendlerabkommen von 1966 zur Beschäftigung von Polen in Betrieben der DDR führten.

Eines der prominenteren Beispiele war das Chemiefaserwerk in Guben, wo 100 Frauen aus dem polnischen Gubin seit 1965 arbeiteten. Richtig bemerkt Röhr, dass dies alles noch Experimentalcharakter trug. Die späteren zwischenstaatlichen Abkommen über Pendler und Vertragsarbeiter knüpften daran an. Detailliert werden die Leser über die einzelnen Stufen und Inhalte dieser Vertragsbeziehungen informiert. Es ist zu erfahren, aus welchen Interessenlagen heraus und mit welchen taktischen Finessen die beiden Seiten das Problem behandelten und ihren Vorteil suchten. An solchen Stellen verfällt die Autorin mitunter in eine räsonierende Tonlage, so wenn sie zeigt, wie „die DDR genau ihren Vorteil beim Einsatz von Grenzpendlern in ihren grenznahen Betrieben (kalkulierte)“ (S. 77). Man fragt sich, was sie sonst hätte tun sollen.

Was Röhr über die Beschäftigung polnischer Arbeitskräfte in DDR-Betrieben sagt, lässt sich als eine Win-win-Situation beschreiben. Immerhin konnte die deutsche Seite ihre prekäre Arbeitskräftebilanz verbessern, während die Warschauer Regierung nicht nur eine Reduzierung des Arbeitskräfteüberangebots im eigenen Land, sondern durch den Zufluss von Waren und Geld aus der DDR auch eine Entlastung der ständig angespannten Versorgungssituation verbuchte. Gleichwohl haftete dem ganzen Vorgang von den Anfängen Mitte der sechziger Jahre bis zum Ende der Volksrepublik Polen und der DDR 1989/90 eine gewisse Peinlichkeit an, entsprach er doch nicht gerade dem Ideal zentralgeleiteter sozialistischer Volkswirtschaften. Auf der DDR-Seite suchte man Vorbehalte zu entkräften, indem relativ weitgehende Zugeständnisse bei der beruflichen Aus- und Weiterbildung gemacht wurden. Auch räumte sie den polnischen Pendlern und Vertragsarbeitern die gleichen betrieblichen Sozialleistungen ein wie ihren deutschen Kollegen.

Andererseits mag der „Export“ von Arbeitskräften in die DDR gerade in Polen Ressentiments geweckt haben. Noch war die Erinnerung an die Zwangsarbeitspraktiken der deutschen Okkupationsmacht im Zweiten Weltkrieg relativ frisch. Hierin könnte die polnische Forderung an Ostberlin ihren Ausgangspunkt gehabt haben, nicht öffentlich über die Beschäftigung polnischer Arbeitskräfte in der DDR zu berichten. Ein zweites Argument dürfte aus dem Bestreben resultieren, in Polen selbst eine kritische Diskussion der eigenen Beschäftigungspolitik zu vermeiden.

Unterm Strich, so scheint es, hat die DDR mit der Arbeitsaufnahme polnischer Pendler in Betrieben des grenznahen Raumes und von Vertragsarbeitern, die auch in anderen Bezirken tätig wurden und dort in Wohnheimen lebten, kein sehr vorteilhaftes Geschäft gemacht. Oftmals fielen Qualifizierungskosten an, vor allem aber waren Lohnsteuern, Versicherungsbeiträge und Werbekostenpauschalen an den polnischen Staat abzuführen sowie die Wohnunterkünfte und die soziale Betreuung zu finanzieren. Unter Berufung auf die Staatliche Plankommission der DDR sieht Röhr zwar den Hauptvorteil für die DDR in größerer Planungssicherheit und erweiterten Produktionsmöglichkeiten, doch fragt man sich, ob diese Kosten nicht besser in eine konsequentere Rationalisierung hätten investiert werden sollen.

Einiges spricht dafür, dass die DDR in der Ära Honecker die Beschäftigung von Polen auch aus politischen Erwägungen forcierte, um die Gierek-Equipe und danach das Jaruzelski-Regime zu stützen. Beide sahen sich mit den politischen Risiken wachsender Arbeitslosigkeit konfrontiert. Allerdings blieb die Zahl der in der DDR arbeitenden Polen relativ gering: Zu Beginn der achtziger Jahre erreichte sie mit über 8.000 Vertragsarbeitern und rund 4.000 Pendlern Spitzenwerte. Das war deutlich weniger als jene der aus ähnlichen Gründen beschäftigten Vietnamesen, Kubaner und Mosambikaner.

Rita Röhr konstatiert einerseits einen wirtschaftlichen Erfolg dieser Beschäftigungspolitik, auch hält sie die Integration polnischer Beschäftigter in deutsche Betriebsbelegschaften im großen und ganzen für gelungen, doch registriert sie nicht zuletzt anhand ihrer Befragungsergebnisse auch Spannungen und eine unzureichende Akzeptanz zwischen den einzelnen Gruppen. Sie erblickt hierin ein Manko, aus dem sich übrigens auch der Begriff „Heuchelei“ im Titel des Buches erklärt. Da schwingt etwas von moralisierender Kritik mit. Man muss dem nicht folgen. Auch so bietet das Buch, wenngleich in einem streckenweise etwas trockenen Stil, viele Sachinformationen zur Beschäftigungspolitik der DDR. Allerdings hätten deren Argumente, wie auch die damit verbundenen wirtschaftlichen Gesichtspunkte, eine kritischere Problematisierung verdient.

Im Schlussteil des Buches dokumentiert Röhr die zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen geschlossenen Abkommen über Pendler und Vertragsarbeiter. Der Anhang enthält statistische Übersichten, eine Inhaltswiedergabe der Fragebögen, ein Quellen- und Literaturverzeichnis sowie eine Karte des Gebietes beiderseits von Oder und Neiße. Für die Geschichte der Erwerbsarbeit in der DDR ist das Buch ein wichtiger Beitrag.

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