W. Richter: Der Militärische Nachrichtendienst der Nationalen Volksarmee der DDR

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Titel
Der Militärische Nachrichtendienst der Nationalen Volksarmee der DDR und seine Kontrolle durch das Ministerium für Staatssicherheit. Die Geschichte eines deutschen Geheimdienstes


Autor(en)
Richter, Walter
Reihe
Europäische Hochschulschriften, Reihe 31, Politikwissenschaft 439
Erschienen
Frankfurt a.M. u.a. 2002: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
425 S.
Preis
€ 60,30
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Uhl, Institut für Zeitgeschichte, Außenstelle Berlin

Der Militärische Nachrichtendienst der NVA war der neben der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Ministeriums für Staatssicherheit der zweite Auslandsnachrichtendienst der DDR. Mit rund 1000 hauptamtlichen Mitarbeitern nur ein viertel so groß wie die HVA, stand der militärische Auslandsnachrichtendienst der DDR stets im Schatten der scheinbar übermächtigen MfS-Organisation. Während das Wirken der Auslandsspionage des MfS bereits gut dokumentiert ist, fehlt, wie Walter Richter in seiner Einleitung zutreffend schildert, bisher eine fundierte wissenschaftliche Untersuchung zur Geschichte der „Militäraufklärung“ der DDR. Doch der Autor, ehemaliger Abwehroffizier im Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr, will entsprechend dem Titel seines Werkes mehr: Neben der Geschichte des Auslandsnachrichtendienstes der NVA möchte er gleichzeitig auch noch dessen Kontrolle durch das Ministerium für Staatssicherheit darstellen.

Obwohl Richter nach eigenem Bekunden feststellt, „daß bisher über keinen Nachrichtendienst des 20. Jahrhunderts ausführlichere Quellen offen zugänglich sind“ (S. 335), gelingt ihm sein erstes Vorhaben, die historische Darstellung des Militärischen Nachrichtendienstes der DDR nur ungenügend. Auch die Beschreibung der Überwachung des Spionagedienstes der NVA durch den Konkurrenten MfS bleibt über weite Strecken unbefriedigend.

Die Ursachen hierfür liegen vor allem darin, dass sich Richter in seiner Arbeit nicht von den in der Einleitung aufgeworfenen und durchaus interessierenden Forschungsfragen wie nach der Entstehung des Militärischen Nachrichtendienstes, seiner Struktur und Arbeitsweise, nach seinem Führungspersonal und den von der politischen Führung gestellten Aufgaben und Zielen leiten lässt. Dadurch wirkt die gesamte Darstellung unsystematisch und zum Teil willkürlich aneinandergereiht. Verschärft wird dieses Problem durch das Bekunden des Autors „so nah wie möglich an den Quellen zu arbeiten“ (S. 17). Dieses sicherlich im Ansatz richtige Vorhaben darf jedoch nicht dazu führen, dass vor allem die zahlreich verwendeten MfS-Quellen über weite Strecken ohne ausreichende Quellenkritik paraphrasiert werden und vorhandene Literatur zum Thema zu wenig Beachtung findet. Zu sehr hängt der Autor an den Akten und vergisst darüber, dass es für den Leser auch ihrer historischen Einordnung und Wertung bedarf.

In insgesamt 15 Kapiteln, wovon allerdings 6 zum Einleitungsteil gehören, schildert Richter zunächst knapp Anfänge und erste Strukturen der 1952 geschaffenen Militäraufklärung der DDR, ohne jedoch dabei auf die geschichtlichen Hintergründe ihrer Entstehung zu verweisen. Es folgt ein längeres Kapitel über die insgesamt fünf Leiter dieser Spionageorganisation. Auch hier zeigt sich, dass in einigen Bereichen eine tiefergehende Kenntnis der Fachliteratur fehlt. Beim ersten Chef der damals als Verwaltung für Allgemeine Fragen getarnten Spionageorganisation, Karl Linke, glaubt Richter, dass dieser seinen Posten vor allem wegen seiner politischen Zuverlässigkeit und nicht auf Grund seiner fachlichen Fähigkeiten erhalten habe. Hier irrt der Autor. Linke galt eben nicht nur als zuverlässiger Parteikader. Er war im Zweiten Weltkrieg nicht nur Partisan, sondern zugleich auch seit 1941 Angehöriger der 4. Verwaltung des sowjetischen Staatssicherheitsdienstes NKWD (Kampf und Sabotage im Hinterland der Front) gewesen. Während seiner Ausbildung zum Geheimdienstoffizier in Moskau sowie durch zahlreiche Einsätze in Weißrußland und der Slowakei dürfte er das notwendige Handwerkszeug für Spionageoperationen mehr als nur notdürftig erlernt haben. Das Linkes intensive Verbindung zum sowjetischen Geheimdienst auch während seiner Tätigkeit als Chef der Militäraufklärung der DDR nicht abriss, zeigt auch der bei Richter dargestellte Fall „Martha“, der schließlich zur Entlassung Linkes führte. Das über diese von der CIA initiierte Spionageaffäre nicht nur Linke, sondern auch der damalige sowjetische KGB-Bevollmächtigte in der DDR Jewgenj Pitowranow stolperte, steht nicht in den von Richter gelesenen Akten, weshalb er es wohl unerwähnt lässt.

Bei der nachfolgenden Untersuchung des Falls „Dombrowski“ deutet Richter zumindest an, welches Potential in seiner Arbeit hätte liegen können. Am Beispiel des 1958 in die Bundesrepublik geflohenen stellvertretenden Chefs der NVA-Militäraufklärung Siegfried Dombrowski zeigt er auf, wie das MfS vor allem über seine Hauptabteilung I versuchte, nicht nur die Tätigkeit des vermeintlichen Konkurrenten mit allen Mitteln zu überwachen, sondern letztlich unter seine Kontrolle zu zwingen. An dieser Stelle wäre es jedoch wünschenswert gewesen, dass Richter auch die historischen und systeminternen Ursachen der Konkurrenz zwischen Staatssicherheitsdienst und Militäraufklärung dargestellt hätte.

Den umfangreichsten und sehr informativen Teil seines Buches widmet Walter Richter dem vierten Amtschef des NVA-Nachrichtendienstes, Generalleutnant Theo Georgi. Dieser baute, wie der Autor an Hand zahlreicher Quellen aus dem MfS belegt, ein umfangreiches System von Günstlingswirtschaft, Korruption, Unterschlagung und massiver persönlicher Bereicherung auf. Da Georgi Teile der NVA-Generalität und selbst Verteidigungsminister Heinz Hoffmann daran beteiligte und seine nachrichtendienstlichen Kanäle nutzte, um ihnen exklusiven Zugang zu begehrten westlichen Konsumgütern zu verschaffen, war die NVA-Führung zur Tolerierung der Machenschaften ihres Geheimdienstchefs bereit. Währenddessen versuchte das MfS, durch die Plazierung zahlreicher informeller Mitarbeiter im unmittelbaren Umfeld Georgis, kompromittierendes Material für dessen Ablösung in die Hand zu bekommen.

Obwohl Georgis engster und wichtigster Mitarbeiter Oberstleutnant Hans Pfotenhauer (er nahm sich kurz nach der Verhaftung Georgis 1982 unter nicht völlig geklärten Umständen das Leben) dem MfS, für das er seit 1964 als Informant arbeitete, ständig über dessen Verfehlungen berichtete, brauchte der Staatssicherheitdienst mehrere Jahre, bis ihm endlich die gewünschte Ablösung Georgis gelang. Mit der Entlassung Georgis, der trotz der Veruntreuung von 283.000 DM straffrei ausging, und der nachfolgenden Umstrukturierung der Militäraufklärung erreichte das MfS letztlich die immer wieder angestrebte nahezu vollständige Kontrolle über den militärischen Auslandsnachrichtendienst der DDR.

In den folgenden Kapiteln seines Buches widmet sich Richter zunächst den baulichen „Objekten des Militärischen Nachrichtendienstes der NVA“, die er auf 11 Seiten mit Liebe zum Detail aufführt. Es folgt die Beschreibung dreier Spionagefälle innerhalb von Bundeswehr und Auswärtigem Amt. Hier versucht der Autor zumindest exemplarisch die Methoden, Arbeitsweisen sowie Resultate der Militäraufklärung der DDR darzustellen. Dem gleichen Zweck dienen kurzgefasste Erläuterungen über die Militärattachés der NVA und zur sogenannten Agenturaufklärung. Ein knappes Kapitel über die Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten des Warschauer Vertrages sowie über die Auflösung der Militäraufklärung im Jahr 1990 schließen neben einem Dokumentenanhang das Buch ab.

Beeinträchtigt wird die Lektüre insgesamt durch enges Entlangerzählen an den ausgewählten Akten, zumeist wenig ergiebige Exkurse und zahlreiche Redundanzen. Zu oft bleibt das Buch beliebig und wird damit nicht zu der vom Autor angestrebten und von der Forschung auch benötigten wissenschaftlichen Untersuchung des zweiten Auslandsnachrichtendienstes der DDR.

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