Ulbricht, Otto (Hrsg.): Die leidige Seuche. Pest-Fälle in der Frühen Neuzeit. Köln 2004 : Böhlau Verlag, ISBN 3-412-09402-1 345 S. € 27,90

Feuerstein-Herz, Petra (Hrsg.): Gotts verhengnis und seine straffe. Zur Geschichte der Seuchen in der Frühen Neuzeit. Wiesbaden 2005 : Harrassowitz Verlag, ISBN 3-447-05225-2 272 S., 112 Abb. € 39,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nikolai Kuhl, Mannheim

Die Pest- und Seuchenforschung hat mit einem Relevanzproblem zu kämpfen. Obwohl Historiker, die sich mit Pest, Cholera und anderen „Plagen“ beschäftigen, den Einfluss der epidemischen Krankheiten auf Alltag, Kultur, Wirtschaft und Politik nachzuweisen versuchen, finden die Ergebnisse ihrer Arbeit selten Eingang in die allgemeine Historiografie. Eine Ausnahme bildet die „Große Pest“ von 1348 bis 1350, deren erschütternde Wirkungen auf die demografische und wirtschaftliche Entwicklung und deren kulturelle Nachbeben inzwischen unumstritten sind. Doch gerade die Pestepidemien der Frühen Neuzeit befinden sich im langen Schatten des „Schwarzen Todes“ und kommen über ein historiografisches Spartendasein nicht hinaus.

Otto Ulbricht will die Pest in der Frühen Neuzeit mit dem von ihm herausgegebenen Sammelband „Die leidige Seuche“ in die allgemeine Geschichte oder doch zumindest in die Alltags- und Kulturgeschichte zurückholen. „Die Pest“, so Ulbricht in seiner Einleitung, „gehörte zur frühen Neuzeit wie das Amen in die Kirche“ (S. 10). Um diese etwas plakative Formulierung zu untermauern, führt Ulbricht die alltägliche Präsenz der Pest in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit vor. Ob im kulturellen Gedächtnis, das sich in Pestsäulen und Altarbildern manifestierte, im kommunikativen Gedächtnis, das sich mit den mündlich mitgeteilten Erinnerungen an die vergangenen Epidemien füllte, oder in den allgemein geteilten und kommunizierten Zukunftserwartungen und der aufmerksamen Beobachtung sich nähernder Epidemien: Die Pest war „eingewoben in den Alltag der Menschen“ (S. 5). Nur folgerichtig ist da Ulbrichts Forderung, „die Pest in eine Alltags- und Kulturgeschichte der Zeit zu integrieren und sie nicht als medizinhistorisches oder bevölkerungsgeschichtliches Phänomen beiseite zu schieben“ (S. 16).

Zurückhaltender formuliert, aber mit einer ähnlichen Stoßrichtung, wollen die Wolfenbütteler Ausstellung und der dazugehörige Katalog „Gotts verhengnis und seine straffe – Zur Geschichte der Seuchen in der Frühen Neuzeit“ Medizingeschichte und Kulturgeschichte zusammenführen, wie Petra Feuerstein-Herz in ihrer Einleitung ausführt. Die Ausstellung präsentiert eine Auswahl der etwa eintausend Schriften aus der Seuchenliteratur der Frühen Neuzeit, die in der Herzog August-Bibliothek zu finden sind. Der Katalog enthält, neben einer ausführlichen Beschreibung und Einordnung der Exponate auf über hundert Seiten, 13 Beiträge, die zumeist auf Basis der Bibliotheksbestände verschiedene Aspekte der Pest-, Ruhr- und Pockenepidemien der Frühen Neuzeit beleuchten. Behandelt werden die Reaktionen von Bevölkerung und Obrigkeiten, die medizinischen und theologischen Interpretationen von Seuchen, die Rolle der Pest in Leichenpredigten, Selbstzeugnissen und frühneuzeitlichen „Gesundheitsratgebern“. Der Ausstellungskatalog lässt sich denn auch als Ergänzung, Fortführung und Illustration des Sammelbandes „Die leidige Seuche“ lesen.

In der Seuchenhistoriografie, die mit Thukydides vor zweieinhalb Jahrtausenden begonnen hat, haben sich viele Motive, die Pest zu beschreiben, zu zählebigen Topoi verfestigt: die Panik der Bevölkerung, der Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung, das Zerbrechen der familiären Bindungen. „Schreiben über Seuchen“, so Martin Dinges im Ausstellungskatalog, „ist fast immer ‚moralische Kommunikation‘ gewesen, mit der die Autoren ihre Zeitgenossen verbessern wollten“ (S. 18). Die Auseinandersetzung mit diesen Topoi und der Versuch, das zum Klischee gewordene Bild der „Pest“ aufzuweichen, prägt sowohl die Beiträge zum Sammelband „Die leidige Seuche“ als auch die zum Ausstellungskatalog „Gotts verhengnis und seine straffe“.

Dass die öffentliche Ordnung in Pestzeiten zwar wanken konnte, aber nicht völlig in sich zusammenfiel, zeigen zwei Beiträge zum Band von Ulbricht, die Pestepidemien des frühen 18. Jahrhunderts – die letzten im deutschen Sprachraum – aus Sicht der Obrigkeiten untersuchen. Am Beispiel Hamburgs in den Pestjahren 1712-1714 führt Kathrin Boyens vor, wie eine Handelsstadt den Schutz der Bevölkerung mit den Interessen des Handels zu vereinbaren suchte. Dadurch ergibt sich ein vielschichtiges Bild der unterschiedlichen, nach wirtschaftlichen, politischen und medizinischen Kriterien gewählten Maßnahmen, die sich durchaus widersprechen oder in ihrer Wirkung aufheben konnten, insgesamt aber einen umfassenden Kontroll- und Regelungsanspruch der städtischen Obrigkeit erkennen lassen. Über die Maßnahmen, Bekanntmachungen, Verordnungen und Verbote möglichst breit zu informieren, stellte somit auch ein wichtiges Anliegen der Obrigkeiten dar. Volker Gaul widmet sich dieser Kommunikation zu Pestzeiten, die meist einseitig in Richtung der Bevölkerung ging. Der Informationsfluss kehrte sich um, wenn die Obrigkeit die inoffizielle Kommunikation in Form von Gerüchten anzapfte. Ob der Medieneinsatz – Strandreiter, Pastor oder Vogt als Vermittler, aber auch der Galgen als Mittel der Abschreckung – ein „perfekter“ (S. 293) war, ist allerdings zweifelhaft, zumal Gaul wenige Zeilen später fehlendes Vertrauen der Bevölkerung in den Staat und damit ein Misslingen der Kommunikation konstatiert. Die Mittlerfunktion von Vogt und Pastor weist außerdem darauf hin, dass die öffentliche Ordnung ohne die Zuarbeit diverser Gruppen wie auch der mittleren und unteren Ebenen der Verwaltung nicht aufrecht zu erhalten war.

In seinem Aufsatz über Pesthospitäler im deutschen Sprachraum geht Otto Ulbricht einem wiederkehrenden Motiv nach, das sich ebenfalls als Topos erweisen könnte: das Spital als Ort der erhöhten Lebensgefahr. Denn nach Ulbrichts Analyse der Angaben zu den eingelieferten Personen und deren Todesrate sowie der Vergleichszahlen der Gesamtbevölkerung und der Armenquartiere ist „zumindest für die Armen eine positive Wirkung dieser Institutionen wahrscheinlich“ (S. 120). Einen Kollaps der öffentlichen Ordnung kann auch Ulbricht nicht ausmachen. Vielmehr nimmt die Organisation und Zielstrebigkeit der Gegenmaßnahmen zu, jedenfalls was die Einrichtung von Spitälern betrifft. Eine hohe städtische Aktivität im Spitalwesen stellt Anette Boldt-Stülzebach im Ausstellungskatalog der Herzog August-Bibliothek bereits für das mittelalterliche Braunschweig fest. Der Rat reagierte mit der Einrichtung von speziellen Hospitälern auf Lepra (nach heutiger Definition keine Seuche), Pest und Pocken. Flauten die Epidemien ab, widmete der Rat die Spitäler für die Armen um. So dienten die Einrichtungen nicht nur der Seuchenbekämpfung, sondern auch der „sozialen Sicherung des Gemeinwesens“ (S. 84).

Die Pest als Strafe Gottes für die Sünden der Menschen – herrschte diese Interpretation auch in der Frühen Neuzeit noch vor? Oder handelt es sich dabei ebenfalls um einen Topos, wie Matthias Lang im anderen Sammelband vermutet? Wie vertrug sich diese theologische Interpretation mit den medizinischen Theorien zur Entstehung der Pest, und wie verhielt sie sich zu den frühneuzeitlichen gedruckten Seuchen-„Ratgebern“ für die breite Bevölkerung? Lang nimmt den Konflikt zwischen theologischer und medizinischer Erklärung der Pest unter die Lupe. Die theologische Interpretation definierte Gott als Erstursache, während die medizinischen Theorien Ursachen identifizierten, die als zweitrangig galten. Das Aufkommen der Contagionstheorie, der Theorie der Ansteckung durch Krankheitskeime, ließ der göttlichen Erstursache allerdings immer weniger Raum. „Es zeigt sich der Ansatz zum modernen „Lückenbüßergott“, dessen Wirken lediglich für ansonsten innerweltlich unerklärliche Vorgänge gebraucht wird.“ (S. 177) Dass die Contagionstheorie Annahmen formulierte, die erst über 300 Jahre später von der Bakteriologie wissenschaftlich nachgewiesen werden konnten, zeigt Gerhard F. Strasser im Ausstellungskatalog.

Gerade die Protestanten übten jedoch in einer Vielzahl theologischer Pestschriften Kritik an den kausalen Erklärungen der Medizin. Für Johannes Bacmeister, Professor der Medizin in Rostock seit 1593, ist Gottes Allmacht noch unbestritten. Die wesentliche Ursache der Pest sieht er in Gottes Zorn über menschliche Verfehlungen, wie Axinia Schluchtmann in ihrer Untersuchung von Bacmeisters Schrift de peste von 1623 im Band von Otto Ulbricht darlegt. Die religiöse Deutung bot „vielfältige Möglichkeiten der Moralisierung von ,oben‘ und ‚unten‘“, so Martin Dinges im Ausstellungskatalog (S. 20). Moralisierend wirkten auch Erzählmotive in Meisterliedern, denen Dieter Merzbacher nachgeht. Seuchen konnten diesen literarischen Schöpfungen zufolge „den wahren Charakter von Menschen, ihre heldenhafte oder ihre verruchte Natur“ offenbaren (S. 121).

Ausgehend von den von Strasser und Schluchtmann untersuchten Schriften Fracastoros, Kirchers und Bacmeister wäre es aufschlussreich zu verfolgen, in welcher Weise und wann die Rede von der Pest als Sündenstrafe Gottes in den medizinischen Seuchenschriften der Frühen Neuzeit zur Floskel erstarrte. Vereinzelte Hinweise auf die Sünden der Menschen als Ursache für eine Seuche finden sich noch in den Anleitungen zur Selbstmedikation bei Ruhrerkrankungen, die Andrea Jessen in ihrem Beitrag für den Ausstellungskatalog untersucht. Es überwiegen jedoch weltliche Ursachen wie der Verzehr von unreifem Obst. Nicht mehr Mediziner, sondern breite Bevölkerungsschichten waren die Adressaten dieser frühen „Ratgeber“, die Empfehlungen zur Vorbeugung und Therapie gaben. In deutscher Sprache verfasst, um die Zielgruppe auch zu erreichen, kündigten sie den Beginn einer „populärwissenschaftlichen Medizinliteratur“ (S. 92) an. Gegen die Pockenimpfung im 18. Jahrhundert, die Peter Albrecht und Heiko Pollmeier in ihren Beiträgen untersuchen, gab es zwar noch religiöse Vorbehalte, doch technische Einwände gegen die Inokulation überwogen bei weitem.

Auch die individuellen Reaktionen auf Seuchen in der Frühen Neuzeit unterscheiden sich von der in Literatur und Geschichtswissenschaft tradierten Vorstellung, Angst und Panik seien die bestimmenden Verhaltensweisen gewesen. Vier Beiträge für den Ausstellungskatalog beleuchten die Verhaltensweisen der Menschen im Angesicht der Seuche. Otto Ulbricht legt überzeugend dar, dass die Menschen „gelernt [hatten], mit der Pest umzugehen“ (S. 104). Hinzu traten weitere Faktoren, wie der Trost aus der „himlischen Apotheken“ (S. 105), den eine Pestschrift von 1612 empfahl, die Maßnahmen zur Vorbeugung, die von Ärzten empfohlen wurden, oder auch die kollektive Solidarität. Die Konfrontation mit der Seuche und die Bewältigung der Angst verliefen somit auf bereits abgesteckten und vertrauten Wegen, das Neuartige und deswegen so Erschreckende des „Schwarzen Todes“ im Spätmittelalter wich einem routinierten Umgang mit Pest und Angst in der Frühen Neuzeit. Andreas Herz vermutet in seiner Analyse von Selbstzeugnissen aus dem Dreißigjährigen Krieg sogar eine andere Qualität der frühneuzeitlichen Angst, die ihren Grund in der noch ungebrochenen Bindung an Gott hatte, denn „die moderne Angst vor dem Tod in seiner Konkretion als Nichts, als pure Negation des Seins“ (S. 56) suche man in den Quellen vergeblich.

Dass familiäre und freundschaftliche Bindungen den Belastungen durch die Seuche standhielten, lässt sich auch den Aufsätzen von Marina Arnold und Harald Bollbuck entnehmen. Arnold hat als Quellenbasis Leichenpredigten aus dem frühen 17. Jahrhundert gewählt. Es zeigt sich, dass trotz der bekannten Ansteckungsgefahr häufig Familienmitglieder die Pflege von Pestkranken übernahmen. Von einer Auflösung der Familie ist hier keine Spur. Auch wenn Arnold den Quellenwert der Leichenpredigten zurückhaltend bewertet, scheinen sich hier viele wertvolle Hinweise für eine Alltagsgeschichte in Pestzeiten zu finden. Martin Opitz, der berühmte Barockdichter, der sich in Danzig auf seinen Tod vorbereitete, starb ebenfalls nicht in gesellschaftlicher Isolation. Mit Bollbuck kann man die Sterbebegleitung für den Dichter, von Sündenbekenntnis über Buße bis zur letzten Kommunion, nachverfolgen.

Frauen liefen angesichts ihrer spezifischen sozialen Stellung größere Gefahr, an der Pest zu erkranken, wie Esther Härtel im Band von Otto Ulbricht behauptet. Allerdings gibt es wenige Untersuchungen, die es erlauben, eine geschlechterspezifische Mortalität zu errechnen. 1 Die unterschiedliche Gefährdung durch die Pest „ganz im Sinne des Begriffes ‚gender‘“ S. (95) erklären zu wollen, erweist sich damit als sehr wacklige Konstruktion.

Auf das Buchwesen hatten die Pest- und Seuchenschriften merklichen Einfluss, wie Petra Feuerstein-Herz für den Wolfenbütteler Katalog darlegt. In manchen Städten begann der Buchdruck sogar mit einer Pest- oder Seuchenschrift. Dabei hob die ausgeprägt religiöse und moralische Konnotation die Pest von anderen Seuchen ab. Obwohl sie „nicht verheerender als etwa der Typhus oder später die Cholera“ (S. 17) war, ist sie doch das Urbild der Seuche schlechthin.

Beide Werke erfreuen durch ihre Ausstattung. Der Sammelband von Otto Ulbricht bietet drei Register, die sogar dem hohen angelsächsischen Standard genügen. Sowohl der Sammelband „Die leidige Seuche“ als auch der Katalog zur Ausstellung „Gotts verhengnis und seine straffe“ dürften mit ihrer Vielzahl hervorragender Beiträge dem Anspruch, die Pest als „Erinnerungsort“ (so Ulbricht in seiner Einleitung, S. 11) zu etablieren, einen wichtigen Schritt näher gekommen sein.

Anmerkung:
1 Zudem widersprechen sich die Zahlen, denn Härtel erwähnt in einer Fußnote eine englische Untersuchung, die eine höhere Mortalität von Männern zeigt.

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