Das Werk Peter Merseburgers ist die bisher umfassendste und gründlichste, auf soliden Recherchen beruhende und durchweg spannend zu lesende Biografie des ehemaligen deutschen Außenministers und Bundeskanzlers. Der Verfasser stützt sich in seiner eindrucksvollen Arbeit auf zahlreiche archivalische Quellen, eine umfangreiche Sekundärliteratur und wichtige Aussagen von Mitarbeitern und Zeitzeugen des Porträtierten. Er schildert die „sozialdemokratische Jahrhundertgestalt“ in all ihren Stärken und Schwächen, den Mann der „vielen Abschiede und Anfänge“, den Politiker mit einem besonderen Gespür für den Zeitgeist und dessen Wandlungen, den Erwartungshorizont, die Sehnsüchte und Wünsche der vielen AnhängerInnen und VerehrerInnen, denen er und seine Regierung nicht immer gerecht werden konnten.
Mit großer Genauigkeit kennzeichnet Merseburger die proletarische Herkunft des 1913 in Lübeck Geborenen, skizziert das damalige Arbeiter-Milieu, das seine Kindheit und Jugend prägte, seinen frühen Weg in die sozialdemokratischen Jugendorganisationen und seinen überraschenden Übertritt mit 18 Jahren zur Splittergruppe „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAP), die weitaus konsequentere Positionen als die SPD in der Gegnerschaft zur bestehenden Ordnung vertrat. Der Autor dokumentiert, dass Brandt im März 1933 keine Zweifel daran hatte, die Sozialdemokraten seien zu „Totengräbern der Sache des Proletariats“ geworden und hätten den Faschisten den Weg bereitet (S. 51). Merseburger beleuchtet das enge, bis in die dreißiger Jahre währende Verhältnis Brandts zu Jacob Walcher, dem führenden Kopf der SAP, der sein einflussreicher Mentor war.
Eine der hervorzuhebenden Besonderheiten dieser Vita ist – im Unterschied zu anderen Lebensabrissen – die Ausführlichkeit, mit der der Autor den Phasen der persönlichen und politischen Entwicklung Brandts vor seiner bereits vielfach geschilderten Berliner und Bonner Zeit nachspürt. Merseburger beschreibt, unter welchen Umständen Herbert Ernst Karl Frahm – nunmehr mit seinem Kampfnamen Willy Brandt – im April 1933 nach Dänemark und Norwegen emigrierte und sich dort bald sowohl eine politische als auch eine finanzielle Existenz als antifaschistischer Journalist aufbaute. Ein Verdienst des Biografen ist die sorgfältige und detaillierte Herausarbeitung des allmählichen Übergangs des Emigranten von radikalen linkssozialistischen Positionen zu traditionell sozialdemokratischen Bekenntnissen, seine schließliche Rückkehr in die Reihen der SPD im Jahre 1944. Der Biograf lässt den Leser das schrittweise Abrücken Brandts vom Marxismus während seiner norwegischen Jahre (S. 79), seine Wandlung „zum freiheitlichen Sozialisten oder sozialen Demokraten skandinavischer Prägung“ nachvollziehen (S. 163).
Informativ ist auch, mit welchen Einzelheiten Merseburger über die Tätigkeit Brandts während des Spanischen Bürgerkriegs in Katalonien (1937) berichtet und hierbei – entgegen den Behauptungen mancher Autoren - seinen Kampf mit ausschließlich politischen Waffen, mit denen der Publizistik und der Agitation gegen Franco und gegen Hitler dokumentiert.
Neue Fakten und Zusammenhänge bietet Merseburger über die Berliner Zeit des Remigranten, als dieser zunächst als Presseoffizier der Norwegischen Militärmission, später als Verbindungsmann der SPD-Zentrale in Hannover zu den alliierten Mächten in Berlin fungierte. Der Biograf erläutert, wie er – nach zähem sechsjährigen innerparteilichen Kampf – am 3. Oktober 1957 die „Stunde des Triumphes“ erlebte, als ihn das Abgeordnetenhaus mit erdrückender Mehrheit zum Regierenden Bürgermeister von Westberlin wählte. Obwohl er im Senat über keine Richtlinienkompetenz verfügte, habe er jene Plattform dennoch für seine weiterführenden politischen Ziele zu nutzen verstanden. In wenigen Jahren sei sein Stern zu dem eines „Nebenaußenministers der Bundesrepublik“, zu einer Art „Gegenkönig zu Adenauer“ aufgestiegen (S. 343). 1964 wurde er in der Nachfolge Erich Ollenhauers zum Vorsitzenden der SPD gewählt.
Was bisher in den Einzelheiten nicht allgemein bekannt war, schildert Merseburger detailliert, nämlich die Umstände, wie Willy Brandt bereits einige Tage vor dem 13. August 1961 von der bevorstehenden Abriegelung Westberlins durch die östliche Seite Kenntnis erhalten hatte (S. 394). Auch verweist der Autor auf die Informationen, die der frühere Hochkommissar der USA in Deutschland, John J. McCloy, von Nikita S. Chruschtschow auf der Krim über den bevorstehenden Mauerbau erhalten hatte. Aus diesen Hinweisen habe sich bereits vor dem 13. August ergeben, dass die USA etwaigen, auf Ostberlin begrenzten einseitigen Maßnahmen – außer Protesten – nichts entgegensetzen würden (S. 399).
Weite Passagen widmet Merseburger den Teilen der Brandtschen Politik, die als seine eigentliche historische Leistung gelten: der neuen Ostpolitik, die zu Beginn als „elastische Ostpolitik“ bezeichnet wurde. Diese habe mit Planspielen und Denkansätzen im engen Kreis von Beratern im Schöneberger Rathaus begonnen. In jenem Team, zu dem vor allem Egon Bahr, Klaus Schütz und Heinrich Albertz gehörten, seien die ersten Überlegungen erörtert worden, wie die Mauer in Berlin „transparent“ gemacht und der Personenverkehr zwischen West- und Ostberlin wieder in Gang gebracht werden könnte. Diese Anfänge seien 1963 zum Konzept eines „Wandels durch Annäherung“ ausgebaut worden, zu einer politischen Linie, die schließlich 1970 zu den Verträgen Bonn-Moskau und Bonn-Warschau und danach im Dezember 1972 zum Grundlagenvertrag Bonn-Ostberlin geführt hätten. Dieses Vertragswerk sei mit dem Wirken Brandts als Außenminister der Großen Koalition ab 1966 und als Bundeskanzler ab 1969 untrennbar verbunden gewesen.
Jener schwierige, mühsame Prozess in seinem Auf und Ab, begleitet von Attacken der damaligen Opposition, bedroht von der Gefahr des Scheiterns stellt naturgemäß einen Schwerpunkt in mehreren Kapiteln dar. Im Nachhinein seien die Ergebnisse der Brandtschen Anstrengungen in der Ostpolitik als notwendige Ergänzung der Adenauerschen Westpolitik in den fünfziger Jahren gewürdigt worden. Auch einstige innenpolitische Gegner hätten der außenpolitischen Leistung Brandts Bewunderung und Respekt gezollt. 1971 sei ihm als Anerkennung für herausragende Verdienste um die europäische Entspannung (als viertem Deutschen) der Friedensnobelpreis verliehen worden, den er in Oslo entgegennahm.
Merseburger verschweigt in keiner Weise die Irrtümer, Fehler und Umwege in Brandts politischer Laufbahn, auch nicht seine Schwächen und Eigenheiten bis hin zu den in der Öffentlichkeit aufgegriffenen Affären in der persönlichen Sphäre seines Lebens. Es spricht für den Wert des biografischen Werks, dass der Verfasser die herausragenden positiven Seiten des Charakters mit dem einen oder anderen problematischen Zug zu einem beeindruckenden Gesamtbild Brandts zusammengefügt und dem Leser nahe gebracht hat.
Schwierigkeiten nennt der Biograf auch in politisch-menschlicher Hinsicht bei der Zusammenarbeit mit Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger in der Großen Koalition 1966-1969. Zwar habe sich die Kooperation in den ersten Monaten des Regierungsbündnisses gut entwickelt, jedoch sei das persönliche Verhältnis zu Kiesinger, Mitglied der NSDAP von 1933 bis 1945, distanziert gewesen. Es habe einen inneren Abstand zwischen beiden wegen der diametralen Lebenswege und Lebensinhalte gegeben. Dieser Abstand sei im Verlauf der gemeinsamen Regierungszeit größer geworden. Brandt habe geäußert, dass er sich psychisch und physisch unwohl gefühlt habe, wenn er mit Kiesinger zusammengetroffen sei (S. 500f.).
Bemerkenswert sind die ausführlichen Passagen, die Merseburger dem stellvertretenden Parteivorsitzenden und „starken Mann“ der SPD der damaligen Zeit, Herbert Wehner, widmet. Danach war das Verhältnis Brandt-Wehner höchst ambivalent. Teils habe Wehner Brandts Ambitionen gefördert, teils ihn innerparteilich demontiert. Merseburger formuliert zwar äußerst scharf, aber nicht unzutreffend, wenn er meint, Wehner habe zwar mit dem Kommunismus gebrochen, jedoch sei vieles an seinem Habitus unverkennbar stalinistisch geblieben, so sein Verständnis von Disziplin, sein Hang zum Autoritären und zum Konspirativen, auch seine Hemmungslosigkeit, mit der er die Macht des Apparates gegen Abweichler eingesetzt habe, seine Neigung, Menschen wie Figuren auf dem Schachbrett seiner taktischen Überlegungen hin- und herzuschieben. In all diesen Punkten hätten Welten zwischen Brandt und Wehner gelegen (S. 708). Tatsache sei, bemerkt der Biograph, dass Wehner – anders als Brandt – „eben nicht ein Mann des Westens“ gewesen sei und ihm „jedes Verständnis für Amerika und dessen Politik“ gefehlt habe (S. 710).
Beachtenswert sind die Passagen, in denen der Biograph kompakt darstellt, wie politische Kreise der USA die neue Ostpolitik Brandts und Bahrs verdächtigten, den Zielen Moskaus Vorschub zu leisten. Als Brandt im Dezember 1971 Präsident Richard M. Nixon seinen Dank für die Unterstützung der Bonner Ostpolitik durch die NATO ausdrückte, sei er von Nixon „frostig zurechtgewiesen“ worden: Die Allianz erhebe lediglich keinen Einspruch gegen seine Politik, aber sie unterstütze diese auch nicht (S. 624). Selbst frühere Freunde aus Zeiten des Kalten Krieges hätten ihre Gegnerschaft zur Brandtschen Ostpolitik zum Ausdruck gebracht: Sowohl General Lucius D. Clay als auch der frühere Hochkommissar John J. McCloy und der ehemalige Außenminister Dean Acheson hätten Brandts Kurs für falsch gehalten und von einem „irren Wettlauf“ nach Moskau gesprochen; sogar die alte Freundschaft zu Eleanor Dulles habe Schaden an seiner Ostpolitik genommen. Kommentare in der Presse hätten Brandts Linie gelegentlich sogar als „anti-amerikanische Politik“ bezeichnet (S. 624f.).
Ebenso sei das Verhältnis Pompidou-Brandt kühl geblieben. Der französische Präsident habe Anstoß an dem öffentlichen Kniefall Willy Brandts in Warschau genommen und diesen als „public relation coup“ gewertet. Merseburger meint: „Pompidou, der zynische Realist, und Brandt, der moralische Realist, das will eben nicht nahtlos zusammenpassen“. Der Biograf resümiert, Brandt habe es in seiner Kanzlerzeit mit drei für die deutsche Politik entscheidenden Partnern zu tun gehabt: mit Nixon, Pompidou und Breschnew. Doch das einzige Verhältnis, in dem die „Chemie“ zwischen den Beteiligten gestimmt habe, scheine das mit Breschnew gewesen zu sein (S. 629).
Das hervorstechende Merkmal dieser Biografie liegt in der umfassenden Sicht aller Stationen, Lebensabschnitte und Lebensbereiche Willy Brandts, der Darstellung der Zusammenhänge seines persönlichen Lebensstils und Lebensgefühls mit seinen politischen Ambitionen, Siegen und Niederlagen, auch tragischen Verwicklungen. Alle diese Vorzüge – verbunden mit dem Quellenreichtum und der Vielzahl der Aussagen von Zeitzeugen – hat keine andere der bisher erschienenen Biografien aufzuweisen, auch nicht der essayistisch gehaltene Abriss von Gregor Schöllgen, der im Untertitel den Anspruch erhebt, „Die Biographie“ zu sein.1 Merseburger hat eine verdienstvolle Arbeit geleistet, die der geschichtlichen Rolle Willy Brandts im 20. Jahrhundert gerecht wird und nachfolgenden Generationen ein gültiges Lebensbild hinterlässt.
Anmerkung:
1 Vgl. Gregor Schöllgen: Willy Brandt. Die Biographie, Berlin 2001; Siehe hierzu die kritische Rezension von Siegfried Schwarz in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Berlin, H. 12/2001, S. 1121 ff.