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Title
Verraten in Gorki. Die Tragödie der ausländischen Arbeiter in den sowjetischen Autowerken in Gorki. Mit einer Einleitung und Anmerkungen von Paul T. Christensen


Author(s)
Reuther, Victor G.
Published
Extent
256 S.
Price
€ 14,80
Reviewed for H-Soz-Kult by
Wladislaw Hedeler, Berlin

Victor G. Reuther (geb. 1912), Bildungsexperte der amerikanischen Automobilarbeiter-Gewerkschaft und Vorstandsmitglied des Dachverbandes AFL/CIO, hat das Buch über den Fabrikalltag amerikanischer und westeuropäischer Facharbeiter während der Industrialisierungskampagne des 1. Fünfjahrplanes in Gorki (heute Nishnij Nowgorod) auf der Grundlage eigenen Erlebens, persönlicher Informationen und weiterer Forschung geschrieben. In seinen Recherchen stützte sich der 82jährige Autor insbesondere auf die private Korrespondenz der Amerikanerin Jean Singer, deren Vater 1938 umgebracht wurde, und auf das Tagebuch des Italieners Leonardo Damiano, der lange Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Besserungsarbeitslagern inhaftiert war.

Mit der vorliegenden Studie - „teils Erinnerung, teils Biographie“ - wird die Reihe von Publikationen über den Arbeitsalltag und das Alltagsleben ausländischer Facharbeiter in der Sowjetunion um einen gewichtigen Beitrag erweitert. Victor G. Reuther erzählt in 17 Kapiteln (S. 39-252), wie es den ausgewanderten Arbeitern im „Vaterland der Werktätigen“ erging. Prof. Paul T. Christensen vom Departement of Politics der Princeton University verspricht in der Einleitung (S. 9-38), die Studie in den historischen Kontext einzuordnen. Er skizziert das sich ständig ändernde sowjetische Betriebsverfassungssystem, die Säuberungen als Mittel zur Zentralisierung der Macht, die Modelung der Komintern zu einem außenpolitischen Instrument der UdSSR und stellt die beiden Hauptpersonen, von denen im Buch die Rede ist, Reuther und Damiano, vor.

Bis auf den biografischen Teil erfüllen die Einleitung und die den Kapiteln vorangestellten Kommentare leider nicht, was sie versprechen. Die Begrifflichkeit ist verschwommen, die ausgewertete Literatur spiegelt den Erkenntnisstand von Mitte der 60er bis zum Anfang der 90er Jahre wider. Neuere russischsprachige Publikationen, wie z.B. die Bücher von Jelena Osokina (1996), Sergej Shurawljow (2000) oder Oleg Dehl (1997), sind nicht ausgewertet. Das trifft auch auf die 32 Anmerkungen zu den Erinnerungen (S. 253-256) zu. Dem interessierten Leser seien deshalb die einschlägigen Rezensionsrubriken in den Fachzeitschriften bzw. im Jahrbuch für historische Kommunismusforschung empfohlen.

Victor Reuther brach 1933 in die Sowjetunion auf. In Europa angekommen, hatte er zunächst kein Visum für das Zielland. Am 15. November 1933 konnte er schließlich Deutschland verlassen und weiterreisen. Die zerlumpten Menschen auf den Bahnhöfen in Moskau und Gorki machten auf die Ankommenden einen verheerenden Eindruck. Reuthers erste Station waren die Baracken des amerikanischen Dorfes in der Nähe des Automobilwerkes. Es begann das Leben in Gemeinschaftsräumen, in denen sich der multinationale Charakter der ausländischen Belegschaft widerspiegelte. Neben ernsthaften politischen Debatten erinnert sich Reuther an „endlose Diskussionen über Probleme, rationierte Lebensmittel, fehlende Bürgersteige und Familienstreitigkeiten“ (S. 52).

Der amerikanische Gewerkschafter führt in den thematisch und chronologisch strukturierten Kapiteln Erinnerungen an, die sich weitgehend mit den überlieferten, von Shurawljow ausgewerteten Eindrücken der deutschen Facharbeiter decken, die Anfang der 30er Jahre mit Zeitverträgen ins Moskauer Elektrokombinat gekommen waren. Erwähnt sei die Aussetzung der Entlohnung in Valuta, die Einführung der Akkordarbeit, die Konflikte mit den russischen Arbeitskollegen, die Proteste gegen willkürliche Normsetzungen (S. 55).

Leider hat der Verlag darauf verzichtet, die vielen Passagen, in denen allgemein von den „Deutschen in Rußland“ die Rede ist, wenigstens mit einem Kurzkommentar zu versehen. Unklar bleibt, ob von den Russlanddeutschen, den der KPD angehörenden oder ihr nahe stehenden Politemigranten und/oder den Facharbeitern, unter denen viele Parteilose oder Mitglieder anderer Parteien waren, die Rede ist. Carola Tischler (1995) und Reinhard Müller (1998) haben mit ihren Veröffentlichungen sehr viel zur Klärung der Strukturierung dieser Opfergruppe, die von den „Säuberungen“ und dem „Großen Terror“ besonders betroffen war, beigetragen. Auch die Dokumente (S. 57), die im Buch zitiert, aber nicht belegt werden, liegen in zugänglichen deutschsprachigen Veröffentlichungen vor. Die unterschiedliche Übersetzung oder Auflösung von Abkürzungen in den Kommentaren und im Haupttext erleichtert die Lektüre ebenfalls nicht.

Besonders aufschlussreich sind die von Reuther eingeflochtenen Familiengeschichten. Auf diese Weise erschließt sich dem Leser ein Bild der amerikanischen, finnischen, österreichischen, spanischen und italienischen Lebenswelten in der Sowjetunion der 30er Jahre. Hier ist nicht nur von Ernüchterung und Desillusionierung die Rede, sondern auch von den Versuchen der einstigen Kollegen, in den Jahren der Perestroika wieder zueinanderzufinden, abgerissene Kontakte zu knüpfen.

Dem „Großen Terror“, dem Gulag und den Kriegsjahren sind einzelne Erinnerungskapitel gewidmet. Mit dem Erzählen, stellt Reuther fest, geht eine Heilung einher. „Und wir sollten nicht vergessen, dass diese Geschichte eine große Lehre für die heutige Gesellschaft in sich trägt. Während ich dies schreibe, gibt es in großen Teilen Osteuropas eine Welle von Antisemitismus und ausländerfeindlichem Wahn, die auch umliegende Gebiete ansteckt. Ironischerweise werben dieselben Länder nun eine neue Generation von Facharbeitern und technischen Beratern aus dem Westen an. [...] Jetzt ist der Zeitpunkt, internationale Garantien festzulegen, damit sich die Geschichte nicht wiederholt“ (S.101).

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