Der Begriff der „Internationalen Beziehungen“ hat in der deutschen Historiographie immer noch den Beiklang des Traditionellen. Das liegt wohl daran, dass die Geschichte der „Internationalen Beziehungen“ von den methodischen und thematischen Innovationen der letzten Jahre eher zögerlich erfasst wurde. Mit dem Slogan vom „Primat der Innenpolitik“, in den 1960er Jahren neu aufgegriffen, suchte man das Augenmerk vom Geschehen der „Hohen Politik“ der Staaten, vorwiegend durch „große Männer“ betrieben, auf soziale und ökonomische Strukturveränderungen zu lenken. Der Blick auf den „deutschen Staat“ wurde abgelöst durch den Blick auf die „deutsche Gesellschaft“. Das ist wohl der Hauptgrund dafür, dass auch heute noch die Geschichtswissenschaft in Deutschland erstaunlich stark deutsch-, immerhin aber auch Europa-zentriert ist. 1
Ganz anders dagegen die Tradition im angloamerikanischen Raum, die von alters her den globalen Blick auf die Geschichte pflegt. Zwar hat es auch einige Jahrzehnte gebraucht, um sich von der affirmativen „Geschichte des britischen Empire“ zu lösen. Doch hat „britische Expansion“ seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Verengung des historiographischen Blicks auf die Nation wie in Kontinentaleuropa zweifellos verhindert. Als einer der interessantesten Aspekte erweist sich die lange und wechselhafte Geschichte europäisch-ostasiatischer Beziehungen, auch wenn man sich diesen zunächst auf der „nationalen“ Ebene nähert. Der hier anzuzeigende Band ist Teil einer insgesamt 5 Bände umfassenden Geschichte der Anglo-Japanischen Beziehungen im Zeitraum von etwa 1600 bis 2000. Neben politisch-diplomatischer, militärischer und soziokultureller Dimension, die in den weiteren 4 Bänden behandelt werden, wird in dem nun von Janet Hunter und Shinya Sugiyama herausgegebenen Band insbesondere die Ebene der wirtschaftlichen und unternehmerischen Beziehungen beleuchtet.
Der Band umfasst 8 Beiträge, die sich zeitlich auf das späte 19. und das 20. Jahrhundert konzentrieren. Das liegt für Japan nahe, das sich (zumindest in der offiziellen Diktion) zwischen 1638 und 1854 von der Außenwelt abgeschottet hatte (sakoku) und erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts in das internationale Staatensystem zurückkehrte. Großbritannien oder vielmehr britische Unternehmer, Missionare, Abenteurer und Diplomaten machten sich schon seit dem späten 18. Jahrhundert auf den Weg nach Ostasien. Japan blieb aber lange Zeit außerhalb des britischen Blicks, der sich erst sehr stark auf das Inselreich richtete, als die USA als erste westliche Macht Freundschaftsverträge mit Japan abgeschlossen hatten. Danach wurden die Beziehungen, auch auf wirtschaftlicher Ebene, so eng, dass Henry Dyer bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von Japan als dem „Britain of the East“ sprach.2
Die Beiträge machen auf viele unterschiedliche, bisher unbekannte Beziehungen zwischen britischen und japanischen Unternehmen und Unternehmern aufmerksam. Man wird daher sicherlich sowohl als Wirtschafts-, wie auch als Politik- oder Sozialhistoriker hier neue und interessante Aspekte entdecken. Dennoch sollte man vor allem vier Aspekten besondere Aufmerksamkeit schenken, die in den bisweilen aufeinander bezogenen Aufsätzen hindurchscheinen, wenngleich sie auch in der von Janet Hunter und Shinya Sugiyama überaus ausführlichen Einleitung (110 Seiten!) nicht explizit angesprochen werden.
Die erste Erkenntnis der Aufsätze liegt in der zäsurensetzenden Bedeutung europäischer bzw. westlicher politischer Entwicklungen für Ostasien und insbesondere Japan. In allen Aufsätzen, ob sie Handel, Banken, Regierungsanleihen oder Technologietransfer zum Thema haben, wird darauf hingewiesen, dass sowohl der Erste als auch der Zweite Weltkrieg für die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Großbritannien und Japan einen gravierenden Einschnitt darstellten. Der Erste Weltkrieg bedeutete für Großbritannien einen relativen Bedeutungsverlust auf wirtschaftlichem Gebiet, in Ostasien gegenüber Japan und im Westen gegenüber den USA. Die Veränderungen der politischen Struktur Europas schon während des Ersten Weltkrieges gingen einher mit dem Aufstieg Japans zur ernst zu nehmenden Handelsmacht in Asien. Sowohl im Handel als auch im Bankengeschäft (Beiträge von Kanji Ishii und John Sharkey) konkurrierten britische und japanische Unternehmen um Märkte und Geschäftspartner. Der Aufstieg Japans zur Hegemonialmacht im ostasiatischen Raum vor dem Zweiten Weltkrieg ging dabei einher mit der Veränderung des Verhältnisses zur westlichen Hegemonialmacht Großbritannien. Das Vorbild Großbritannien veränderte sich für Japan langsam und keineswegs notwendig vom Kooperationspartner zum Konkurrenten und schließlich Kriegsgegner. Daraus erwuchsen Vorurteile, die die Wiederaufnahme wirtschaftlicher Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg erheblich hemmen sollten (Beiträge von John Weste und Marie Conte-Helm)
Ein zweiter bemerkenswerter Aspekt dieses Sammelbandes liegt darin, dass die Beiträge die Mechanismen der wirtschaftlichen Beziehungen untersuchen und dabei die Epoche von 1860 bis 1970 als eine besondere kennzeichnen. Bereits seit den 1860er Jahren orientierten sich japanische Unternehmer und Bankiers an dem Vorbild britischer Unternehmen und Banken. Sowohl im Handel (Beispiel Mitsui Bussan) als auch im Finanzgeschäft (Beispiel Yokohama Specie Bank, Finanzplatz London) oder in der Unternehmenskooperation (Beispiel Automobil-Industrie, Rüstungsindustrie) kam es seit den 1870er Jahren zu überaus engen Kontakten, die vor allem die wirtschaftliche Entwicklung Japans prägen sollte. Selbst nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich manche Kooperationen fort (Beispiel: die Automobilhersteller Isuzu und Rootes, deren Joint Venture auf eine Vorkriegskooperation von Tochterfirmen zurückgeht) und nahmen erst seit den 1970er Jahren mit dem Niedergang der britischen Industrie und dem Aufstieg japanischer Unternehmen (Matsushita, Sony, Honda, Nissan, Toyota u.a.) als Investor in Großbritannien neue Formen an.
Das macht einen dritten Aspekt der ökonomischen Beziehungsgeschichte zwischen Großbritannien und Japan deutlich. Obwohl die Interpretationsfigur von „Lehrer“ und „Schüler“ oder „Vorbild“ und „Imitation“ bisher sehr oft in der Analyse der Geschichte des modernen Japans verwendet wurde, erscheint dieses Interpretament nicht immer plausibel. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Regierungen, Unternehmen und Unternehmern waren durchaus reziprok und eingebunden in internationale Kontexte. Der Historiker sollte dieser Reziprozität und Internationalität von Beziehungen ein erhebliches Maß an Aufmerksamkeit schenken. Zum Beispiel lässt sich an der britischen Wahrnehmung japanischer Textilindustrie der 1920er Jahre ablesen, wie schwierig es für britische Fabrikanten und Händler war, eigene Produktivitätsdefizite und technologische Rückständigkeit zu erkennen. Stattdessen dominierte die Überzeugung, dass die japanische Baumwollindustrie lediglich durch ein niedrigeres Lohnniveau die Preise drücken könne - ein Vorurteil, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder stark ausbreiten sollte. Zum anderen waren die Beziehungen zwischen Großbritannien und Japan immer eingebunden in einen internationalen Kontext, der die Handlungsoptionen einschränkte, kanalisierte und sogar zur Aufgabe von Vorurteilen zwang. So war Großbritannien nach 1945 an einem wirtschaftlichen starken Südostasien als Teil des britischen Einflussgebietes interessiert, musste jedoch den Wiederaufstieg Japans als regionale Wirtschaftsmacht zulassen, da Großbritannien selber zu einer intensiven Entwicklungshilfe nicht in der Lage war. Andererseits war Japans Engagement im Bereich Export/Import dadurch gehemmt, dass Südostasien der britischen Sterling-Zone angehörte. Exporte in die Sterling-Zone waren aber für japanische Unternehmen unattraktiver als Exporte in den Dollar-Raum, aus dem der Großteil japanischer Importe stammte. Die Beziehungsgeschichte fördert hier ein dichtes Geflecht von Interdependenzen zutage.
Schließlich ist die persönliche Dimension der britisch-japanischen Beziehungen überaus bemerkenswert. Sie führt vom „nationalen“ Rahmen weg und hin zur konkreten Kontakt-, Kooperations- und Konfliktsituation menschlicher Interaktion. Von „transnationaler“ Vergesellschaftung zu sprechen wäre sicherlich übertrieben. Gleichwohl lässt sich hier ein Aktionsfeld erkennen, das nicht mehr nur mit „nationalen“ oder „internationalen“ Kategorien zu beschreiben ist, und das zur Modifikation bestehender Erkenntnisse dient. So wird etwa die Bedeutung des „Aufklärungs“-Philosophen Fukuzawa Yukichi als Unternehmer (im Verlag Maruzen, dessen Großaktionär und Kreditgeber Fukuzawa war) und Japans erster „Management“-Guru hervorgehoben (Beitrag von Norio Tamaki), es wird auf die entscheidende Rolle von Mori Kengo, dem Finanzbeauftragten der Japanischen Regierung, in der Ausgabe von japanischen Regierungsanleihen in London (statt dem bisweilen günstigeren New York) hingewiesen oder auf die Europa-Strategie des Sony-Chefs Morita Akio, der Anfang der 1970er Jahre vom Prince of Wales persönlich dazu gedrängt wurde, in der strukturschwachen Region zu investieren.
Der hier angezeigte Band bietet eine Vielfalt neuer Einsichten und Aspekte der Beziehungsgeschichte. Er trägt damit zur Modifikation unseres Wissens über Großbritannien und Japan bei und fördert zweifellos die Innovation der Forschung. Der Band erscheint demnächst auch auf japanisch, was die Internationalität des Forschungsfeldes fördert. Sicher erscheint die Darstellung eines Themas in einem Sammelband mit 8 Beiträge nicht „aus einem Guß“. Dennoch bleibt zu hoffen, dass solche Art der Beziehungsgeschichte beachtet wird, an Zahl zunimmt und demnächst auch in eine „multilaterale“ Beziehungsgeschichte mündet.
Anmerkungen:
1 Aber auch in der deutschen Geschichtswissenschaft werden zunehmend neue Wege beschritten; das zeigt Kießling, Friedrich, Der „Dialog der Taubstummen“ ist vorbei. Neue Ansätze in der Geschichte der internationalen Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts, in: HZ 275 (2002), S. 651-680.
2 Dyer, Henry, Dai Nippon. The Britain of the East, London 1904.