Der hier anzuzeigende Band ist nach den Monografien über Augsburg, Dortmund, Frankfurt am Main, Köln, München, Münster, Wiesbaden und Wetzlar die mittlerweile neunte der vergleichenden Einzelstudien des Forschungsprojektes „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert“, das unter Lothar Galls Leitung an der Universität Frankfurt am Main durchgeführt wird. Das Projektziel besteht in der Darstellung der Rolle der Stadt und des städtischen Bürgertums, seine rechtliche, politische, wirtschaftliche und soziale Konstituierung eingeschlossen, im säkularen Modernisierungsprozess von Wirtschaft, Gesellschaft und Staat seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert anhand einer repräsentativen Auswahl 16 deutscher Städte aus einem Schema von sechs Städtetypen. Der kleinste gemeinsame Nenner der Fallstudien ist die liberale Utopie der „klassenlosen Bürgergesellschaft“, d.h. die innere, politisch-sozial und kulturell manifestierte Einheit des Bürgertums in seinem gemeinsamen städtischen Rechts-, Kommunikations- und Sozialraum. 1 In diesem Rahmen untersucht Andreas Schulz am Beispiel der traditionellen Handels- und Gewerbestadt Bremen insbesondere das vormundschaftliche Handeln der bürgerlichen Eliten gegenüber bzw. zugunsten der protegierten Bürgergemeinde, wie der Titel ausweist.
Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile: „Die Generation der Hausväter (1750-1830). Ständisches Bürgertum und Reichsstädtisches Selbstbewußtsein“, „Die Generation der Patriarchen (1814-1848). Bürgerliche Eliten und ihre städtische Gefolgschaft“, „Die Generation der Potentaten (1848-1880). Weltbürgertum und Nationalstaat“. Bereits der schnelle Blick auf die überlappende Periodisierung der beiden ersten Teile (oder auch weiterhin auf den ersten Abschnitt des dritten Teils „Welthandel statt Industrialisierung: Die wirtschaftliche Entwicklung Bremens im 19. Jahrhundert“, der ausweislich der weiteren Untergliederung den Zeitraum von 1783 bis 1870 umfasst) verdeutlicht, dass die Gliederung nur vordergründig chronologisch angelegt sein kann. Der Rückgriff auf die Chronologie ermöglicht drei vom Umfang her nahezu gleichwertige Teile, lässt aber die Attribuierung der „Generationen“ bei näherem Hinsehen sehr plakativ und vor allem für die ersten beiden Teile nicht sonderlich überzeugend wirken. Darauf wird im übernächsten Abschnitt zurückzukommen sein.
Der Rückgriff erweist sich letztlich jedoch als Kunstgriff, da einerseits die wechselseitige Überlagerung in der Periodisierung schon dem oberflächlichen Betrachter gewisse Kontinuitätsmomente bewusst macht. Andererseits können die inhaltlichen Akzente besser als bei einer jeweils den gesamten Untersuchungszeitraum übergreifenden thematischen Gliederung „Recht“, „Wirtschaft“, „Kultur“ usw. gesetzt werden. Die für die jeweilige Periode charakteristischen Entwicklungen erfahren so eine entsprechende Schwerpunktsetzungen, so dass die Ungleichzeitigkeit von Bewegung respektive Beharrung in den verschiedenen Untersuchungsfeldern wesentlich besser zum Tragen kommt. Im ersten Teil sind dies vor allem die politische Verfassung der Stadt inklusive des Bürgerrechts, der sozialpolitische und ökonomische Status der einzelnen Stände (erfreulicherweise wurde das gesamte Spektrum von den elitären Kaufleuten bis zu den unterbürgerlichen Schichten berücksichtigt und so „Einheit des Bürgertums“ offenbar im Sinne von „Gesamtheit des Bürgertums“ aufgefasst) sowie die Wirkung der Aufklärung in Bremen. Im zweiten Teil dominieren die Themen (Schul-)Bildung, Presse- und Vereinswesen, kulturelle Entwicklungen sowie die Ausformung politischer Parteiungen mit ihren unterschiedlichen Zielsetzungen im Umfeld und während der Revolution von 1848/49. Im dritten Teil sind es die wirtschaftliche Entwicklung im gesamten Untersuchungszeitraum, der in engem Zusammenhang mit sozialtopografischen Veränderungen stehende Wandel der Sozialverhältnisse sowie die allgemein und unter dem Einfluss der Nationalbewegung zunehmende Politisierung. Die vier Seiten (Recht, Gesellschaft, Politik, Wirtschaft), die den Projektrahmen bilden, wurden demnach – wie nicht anders zu erwarten – gründlich mit Inhalten gefüllt.
Die vorstehend wiedergegebenen Schwerpunkte dürfen allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieselben mehr oder weniger in jedem Teil zum Tragen kommen und insofern toposartig verknüpft sind. Insgesamt ist Andreas Schulz eine überzeugende und trotz des Umfanges gut lesbare Darstellung der Entwicklung des Bürgertums in seinem städtischen Lebensraum Bremen gelungen. Von Vorteil war dabei ohne Zweifel die breite, d.h. nicht auf die stadtbürgerlichen Eliten konzentrierte Fächerung der analysierten Aspekte, die Veränderungen beispielsweise in der städtischen Kultur nicht auf das Vereinswesen reduzierte bzw. umgekehrt Kunst, Schule, Wissenschaft, Religion, Wohnkultur usw. einbezog. Als erwähnenswerter Makel ist allerdings festzuhalten, dass Stellung, Rolle und Bedeutung der Frauen innerhalb des Bremer Bürgertums so gut wie vollständig ausgeblendet blieben. Ebenso unschön wie unnötig erscheint die willkürliche, dem Inhalt nicht entsprechende Zäsur „1750“ – „1770“ oder auch „1780“ wäre den Tatsachen gerecht geworden und hätte der Studie in keinerlei Hinsicht einen Abbruch getan: Während so ein 1750 beginnender Untersuchungszeitraum suggeriert wird, motivieren tatsächlich nur die Geburtsjahre der zwischen 1750 und 1770 auf die Welt gekommenen „Generation der Hausväter“ (S. 701) diese untere zeitliche Begrenzung. Nicht unerwähnt bleiben sollen schließlich die bisweilen im Literaturverzeichnis nicht oder ganz anders wiederzufindenden Literaturangaben aus den Anmerkungen – beispielsweise „Wätjen, Südseefischerei“ (S. 478 Anm. 74) oder die Angabe für einen Aufsatz von Hermann Entholt (S. 416 Anm. 2) – und die kein System erkennen lassende Gestaltung der Anmerkungen – bereits zitierte Literatur erscheint später immer wieder einmal mit vollständigen bibliografischen Angaben.
Letzten Endes handelt es sich dabei allerdings um Marginalien, mehr als formale zählen inhaltliche Aspekte. Diesbezüglich ist die Arbeit unter drei Kriterien zu betrachten: a) gilt es den Wert für die Bremer Lokalhistorie zu bemessen, b) ist die Frage nach der Repräsentativität des Beispiels Bremen für den Typus der Handels- und Gewerbestadt älterer Tradition aufzuwerfen 2 und c) soll das vieldiskutierte Theorem von der „lokalen Einheit des Bürgertums“ nicht unbeleuchtet bleiben. Im Gegensatz zu den beiden letztgenannten Kriterien bedarf erstgenanntes nicht vieler Worte: Die Geschichte der Stadt Bremen im bürgerlichen Zeitalter ist ohne Zweifel bereits Gegenstand historischer Analysen gewesen, ohne dass das Bürgertum selbst allzu häufig den Untersuchungsgegenstand darstellte – insofern schließt Andreas Schulz in wie bereits gesagt überzeugender Weise eine Lücke.
Die Handels- und Gewerbestädte älterer Tradition machen mit Bremen, Frankfurt am Main, Köln, Leipzig und Mannheim fast ein Drittel der Untersuchungsobjekte des Frankfurter Projektes aus. Bremen steht dabei zunächst als Beispiel für die drei Hansestädte mit ihrer „lang andauernden (Eliten-) Kontinuität“ 3 und schließlich auch als „Labor“ zur Beobachtung des „Bürgertum[s] als souveränen Entscheidungsträger im staatsfreien Raum“ (S. 15). Letzteres trifft bis 1866 auch auf Frankfurt am Main zu, für dessen Bürgertum bereits eine monografische Untersuchung vorliegt.4 Schon um nicht nur einen weiteren „Sonderfall“ darzustellen sollte die Fallstudie zu Bremen durchaus den Anspruch auf Repräsentativität für diejenigen Handels- und Gewerbestädte älterer Tradition erheben, die mit ihrer charakteristischen Hafenlage mit Bremen und Hamburg an der Nordseeküste beginnen und sich an der Ostseeküste über Lübeck, Rostock, Stralsund, Stettin und Danzig bis nach Königsberg fortsetzen. Dieser Anspruch verdient aufgrund der – mehr oder weniger – verblüffenden Parallelen bzw. Analogien hervorgehoben zu werden, die der Rezensent zwischen Bremen und der aus eigenen Untersuchungen heraus bestens bekannten Stadt Rostock 5 feststellen zu können glaubt – sei es bezogen auf die Struktur des Senats (S. 47), auf die tatsächlichen Partizipierenden an politischer Macht und bürgerlicher Selbstverwaltung (S.44), auf das Fehlen eines Patriziats bzw. die Aufstiegsmöglichkeiten für Zuwanderer (S. 49), auf die einzelnen Stände in ihrem Verhältnis zueinander oder auch in der Verteilung des Grundbesitzes auf sie (S. 130-133), auf die Erscheinungsformen von Armut und deren kommunale Verwaltung (S. 163-169), auf Ursachen und Formen sozialen Protests um 1800 (S. 182-185) oder auch auf Einzelschicksale wie das Bankrotteurs Arnold Delius und seiner wiederum einflussreich und wohlhabend gewordenen Söhne Everhard und Friedrich Adolph in Bremen (S. 102) bzw. des Bankrotteurs Peter Wilhelm Christoph Burchard und seiner Söhne Ludwig und Peter in Rostock. Dabei ist freilich zu berücksichtigen, dass Rostock innerhalb des mecklenburgischen Ständestaates als „Stand für sich“ gleichsam die Rolle einer autonomen Stadtrepublik spielen konnte bzw. dass umgekehrt die genannten preußischen Ostseehäfen ungleich stärker staatlicher Einflussnahme unterlagen. Vielleicht wäre es deshalb für Erkenntnisse über die Formierung des modernen städtischen Bürgertums sinnvoller gewesen, statt Bremen, eine Stadt wie das bis 1815 von „loser schwedischer Hand“ regierte und dann an Preußen gefallene Stralsund zu untersuchen, wobei einem solchen Gedanken die bei der Konzipierung des Frankfurter Projektes im Jahre 1988 herrschenden Gegebenheiten des Quellenzugangs durchaus im Wege standen. 6
Hinsichtlich des nicht ohne Kritik gebliebenen Einheitstheorems lässt die Einleitung offen, in welchem Maße Andreas Schulz es sich zu eigen macht. Zunächst konstatiert er eine offenbar der Vergangenheit angehörende Kontroverse – „Heftig umstritten war lange das Konzept der inneren Einheit des städtischen Bürgertums“ (S. 4) – mit lediglich bedingter Reichweite: „Die Diskussion kreiste vor allem um die These einer z u m i n d e s t im Vormärz noch gegebenen sozialen und politischen Einheit des Stadtbürgertums.“ (S. 7, Hervorhebung MM). Schließlich wird das Konzept zum Analyse-Instrumentarium stilisiert, (S. 5) mit dem durchaus gewisse Unwägbarkeiten verbunden sein können: „In der Tat besteht die Gefahr, sich von der Forschungshypothese einer einheitlichen Sozialformation Bürgertum dazu verleiten zu lassen, die Bindekräfte über die inneren Differenzen zu stellen.“ (S. 7) Dieses scheinbare „Lavieren“ findet späterhin seine ebenso scheinbare Fortsetzung, indem es durch sehr treffende zeitgenössische Aussagen (S. 4, 29, 265, 365) belegt vorerst heißt: „Zumindest war jedenfalls der Einheitsgedanke im Bürgertum stets äußerst präsent.“ (S. 4) Andererseits findet sich eine Fülle von gegen die Einheitsthese sprechenden Arbeitsergebnissen, sei es in sozialer – „Der Berufsstand, der wirtschaftliche Erfolg und die individuelle Lebensführung bedingten das soziale Ansehen des Bürgers“ (S. 156) –, rechtlicher – „Die Stufung des Bürgerrechts diente der Aufrechterhaltung einer sozialen Hierarchie, an deren Spitze die leistungsstärksten Mitglieder des altstädtischen Bürgertums stehen sollten“ (S. 268) –, außenpolitischer – „Daß die Begeisterung des Bremer Staatsmannes [...] von der Bevölkerung seiner Vaterstadt nicht uneingeschränkt geteilt wurde, zeigte sich in der ablehnenden Reaktion auf Smidts Vorschlag, den Tag der Eröffnung der deutschen Bundesversammlung durch einen Festakt zu begehen“ (S. 249) – oder sonstiger Hinsicht. Schließlich erfolgen jedoch eindeutige, keinesfalls auf die Zeit nach dem Vormärz reduzierte Distanzierungen: „Eine Mittelstandsperspektive, eine soziale Zukunftsvision, die einen allgemeinen Bürgerstand herbeiträumen wollte, wie sie für viele, vielleicht die meisten Durchschnittsstädte typisch gewesen ist, ließ die politische Klasse in Bremen gänzlich vermissen“ (S. 356) und vor allem: „Die im Rahmen der städtischen Wirtschafts- und Sozialverfassung p a r t i e l l durchaus vorhandene lokale Einheit des Stadtbürgertums wird seit den 1830er Jahren durch eine bipolare Konstellation abgelöst, existiert schließlich nur noch als eine nostalgische Beschwörungsformel ohne politische Bindungskraft.“ (S. 379, Hervorhebung MM) Folglich lässt sich Andreas Schulz, der sich das Einheitstheorem nicht vollständig zu eigen gemacht bzw. in erster Linie als Analyse-Instrument verwendet hat, mit seinem Fazit für das Untersuchungsobjekt Bremen auch nicht in ein projektbedingtes (Zwangs-)-Korsett 7 bringen: Im Vormärz wurden stadtbürgerliche Gesellschaft und die Einheit des Bürgertums neu- und umdefiniert („Die Gemeinschaft der Hausväter wich der Selbstdefinition einer hierarchisch gegliederten, durch Leistung und Reputation bestimmten bürgerlichen Sozialordnung“), im Gefolge der Revolution von 1848/49 fand eine retrospektive Konstruktion (!) der ideellen Einheit des Bürgertums statt und nach 1860 begann die „Einheit des Stadtbürgertums“ als „Sozialkonfiguration zu verblassen“ (S. 706f).
Anmerkungen:
1 Lothar Gall: Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, in: ders. (Hg.): Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, (Historische Zeitschrift, Beiheft N.F., 16), München 1993, S. 1-12, hier S. 3f.
2 Ebd., S. 4.
3 Ebd., S. 9.
4 Ralf Roth: Stadt und Bürgertum in Frankfurt am Main. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft 1760-1914, München 1996.
5 Matthias Manke: Rostock zwischen Revolution und Biedermeier – Alltag und Sozialstruktur, (Rostocker Studien zur Regionalgeschichte, 1), Rostock 2000; ders.: „Daß den Armen geholfen, und die Betteley eingestellet werde“. Inhalt, Aufgaben und Probleme der Armengesetzgebung in Rostock (1803-1822), in: Peter Johanek (Hg.): Städtisches Gesundheits- und Fürsorgewesen vor 1800, (Städteforschung A/50), Köln 2000, S. 243-274. – Tilo Propp: Der Rostocker „Butterkrieg“. Kollektives Handeln im Tumult vom 29./30. Oktober 1800, (Rostocker Studien zur Regionalgeschichte, 2), Rostock 2000.
6 Gall, wie Anm. 5, S. 4
7 Karl Heinrich Pohl: Rezension, in: Archiv für Sozialgeschichte 40, 2000 (Onlinefassung unter http://www.fes.de/fulltext/afs/htmrez/80043.htm).