Das Fach der Ur- und Frühgeschichte in Deutschland befindet sich seit den 70er Jahren in einem stetig anwachsenden Prozess einer differenzierten Auseinandersetzung mit seiner eigenen Geschichte. Die, nach dem Ende der NS-Herrschaft, als Handlager des Regimes bloßgestellte Wissenschaft vermied nach 1945 jede Form einer Aufarbeitung, wobei zaghafte Ansätze konsequent ignoriert wurden. Erst nach der Wende 1989 entstand eine qualifizierte Diskussion um die Spurensuche nach den Anfängen der eigenen Disziplin. Ein beredtes Zeugnis dieser Entwicklung gab die erst vor wenigen Tagen an der Humboldt-Universität Berlin durchgeführte Tagung „Die Anfänge der ur- und frühgeschichtlichen Archäologie als akademisches Fach (1890-1930) im europäischen Vergleich“ und der im letzten Jahr von Achim Leube herausgegebene Tagungsband „Prähistorie und Nationalsozialismus“, in dem sich auch bereits ein Artikel Heinz Grünerts über Gustaf Kossinnas Einbindung in die völkische Bewegung fand. Nun hat Grünert, der von 1975 selbst an der Humboldt-Universität zu Berlin Ur- und Frühgeschichte lehrte, eine Biografie Kossinnas vorgelegt. Gustaf Kossinna kann als exemplarisches Beispiel für einen Protagonisten des Faches angesehen werden, der einer, sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, neu zu formieren suchenden Wissenschaft monolithisch den Blick verstellte, und einer regelrechten „damnatio memoriae“ (S. 343) unterworfen war. Nicht ohne Grund schrieb Günter Smolla 1980 von einem „Felsblock im Wege der Forschung“.
Für Kossinna wurde 1902 ein Extraordinariat für Deutsche Archäologie an der Berliner Universität eingerichtet und die um ihn, Zeit seines Lebens und darüber hinaus wogenden Debatten polarisierten sich zumeist in kultischer Verehrung oder kategorischer Ablehnung. Dass sich die Verspannungen in vielerlei Hinsicht gelöst haben, zeigt sich nun auch an Heinz Grünerts Studie. Aus seiner jahrelangen Beschäftigung mit Kossinna und der offenen Diskussion innerhalb des Faches ist eine entspannte, souverän argumentierende und angenehm unverkrampfte Biografie entstanden. Sachlich, die ehemals vorherrschenden gefühlsbetonten Wertungen hinter sich lassend, vermag es der Autor, Kossinna seiner erdrückend dramatischen Außenwirkung zu entkleiden und Leben und Werk, aber auch dessen Theorien, Methoden und Konzeptionen angemessen zu relativieren und zu bewerten. Die vermeintliche Schwere des Themas kommt angesichts der ausgewogenen und sicheren Darstellung Grünerts in keinem Moment zur Geltung. Heinz Grünerts Arbeit basiert, neben der umfangreichen Bibliografie der Kossinna-Rezeption vor allem auf einer breiten Auswertung des weitgestreuten und in neuester Zeit in der Humboldt-Universität Berlin zu großen Teilen zusammengetragenen Nachlasses Gustaf Kossinnas. Getragen vom Rahmen der Biografie Kossinnas gelingt es Grünert anhand einer bemerkenswerten Detailfülle dessen wissenschaftlichen Werdegang nachzuzeichnen und dabei die bereits früh angelegten Strategien der Selbstinszenierung zu illustrieren.
Grünert beschreibt einen Kossinna, der, von seiner Zeit geprägt und seinen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Trugbildern geleitet, bereits früh das Wesen eines kompromisslosen Forschers und Kritikers annahm. Überzeugend zeichnet der Autor dabei Kossinnas Entwicklung von einem nationalkonservativen Wissenschaftler zum einem, sich in die völkische Bewegung fest integrierenden Prähistoriker nach, der seine Wissenschaft einer rassistischen Agitation und Ideologisierung unterwarf und somit auch die von ihm hervorgebrachten ernstzunehmenden und für das Fach wichtigen Erkenntnisse bis in die jüngste Zeit zu weiten Teilen entwertete. Grünert gelingt es dabei aufzuzeigen, dass die unverhohlene Härte, die Kossinna zumeist gegen seine Kollegen in einer Fülle von Debatten an den Tag legte und die damit verbundene stetig anwachsende Isolierung seiner Person innerhalb der Fachschaft mit der Radikalisierung seines Denkens nach Rechts korrespondierte. In der fehlenden Anerkennung durch die fachlichen Kollegen, erkennt der Autor Kossinnas Motivation für die immer stärker werdende persönliche Anlehnung und Einbettung seiner Wissenschaft in die völkische Bewegung des Kaiserreiches und der Weimarer Republik, wobei Kossinas Person und Werk letzten Endes in der propagandistischen Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten endeten.
Entsprechend unterzieht Grünert Kossinna auch einer ausgewogenen forschungsgeschichtlichen Analyse, wobei neben Kossinnas Anteil an der Mitbegründung der akademischen Ausbildung in prähistorischer Archäologie, vor allem seine Leistungen bei der Formierung der heimischen Archäologie als eigenständige Wissenschaft, wenn auch ambivalent, anerkannt werden müssen. Auch Kossinnas Beiträge zur Kategorisierung archäologisch-historischer Funde, also zur Fundklassifizierung und –chronologie werden nach Aussage des Autors von bleibendem Wert sein.
Grünerts Studie ist ein opulent geschriebenes Werk und überzeugt insgesamt durch seine gute Lesbarkeit. Der Autor beschreibt das Leben und Arbeiten Kossinnas mit einer durchweg verschwenderisch anmutenden Dichte von Einzelheiten. Wo es die Quellen hergeben, arbeitet er minutiös Ereignisse und Lebensabschnitte nach, wobei er nicht mit Anekdoten und eigenen Beobachtungen geizt. Bisweilen blitzt auch ein unterschwelliger Humor für einen tragisch-komisch wirkenden Kossinna auf, wenn der Autor über dessen gesellschaftliches Leben während seiner Zeit in Halle an der Saale lediglich zu berichten weiss, dass ein solches wohl existiert habe, da aus dieser Zeit zwei Einladungen für Feierlichkeiten überliefert seien, deren unbeschriebene Rückseiten, dem unter Papiermangel leidendende Kossinna, als Manuskriptseiten gedient hätten.
Wenn trotz allem auf den cirka 360 A4 Seiten mit der kleinen und eng gesetzten Schrift Längen aufkommen, so wird dieses durch die gebotene Fülle des Materials und die plastische Erzählweise des Autors kompensiert. Grünerts Beschreibungen fußen vor allem auf der breiten Quellengrundlage von 66 genutzten Archiven und seiner profunden Kenntnis und Analyse der Rezeptionsgeschichte, wodurch es dem Autor gelingt, sich der Person und dem Werk Kossinnas sehr weit anzunähern und der wuchernden Legendebildung um Kossinnas Person zudem Einhalt zu gebieten. Er unterschlägt dabei auch nicht Kossinnas menschlich positiven Seiten, die, wenngleich nur für wenige Mitmenschen vorbehalten, den Charakter spannungsreicher erscheinen lassen. Auch die schlaglichtartigen Betrachtungen zu einzelnen engen Vertrauten und Schülern Kossinnas, vermitteln ein authentisches Bild von Kossinnas gesellschaftlichen Bedürfnissen, aber auch seinem übersteigerten Selbstwertgefühl.
Neben der Biografie sind die am Ende befindlichen Kapitel über den Umgang des Nationalsozialismus mit Kossinna nach dessen Tod hervorzuheben, sowie die Betrachtungen der wichtigsten Strömungen in der Wertung Kossinnas nach 1945 im internationalen Vergleich. Wenngleich diese letztgenannten Beobachtungen nach Aussage des Autors nicht auf intensiven Studien beruhen, so ist doch die Vielfalt der Umgangsmöglichkeiten mit dem Erbe Kossinnas in den letzten 50 Jahren mehr als erstaunlich. Eine Aufwertung besonderer Art erfährt das Buch schließlich darin, dass der Autor es sich nicht nehmen ließ, den Werdegang des Nachlasses Gustaf Kossinnas soweit als möglich nachzuzeichnen und den Inhalt einer grundsätzlichen Bewertung zu unterziehen. Auch ein Personenregister zum Nachlass ist der Studie beigefügt, was einen gezielten Zugriff innerhalb des Nachlasses in Zukunft deutlich erleichtern dürfte. Zudem befindet sich im Anhang eine annotierte Bibliografie Gustaf Kossinnas, sowie eine Liste mit dessen Mitgliedschaften in wissenschaftlichen Gesellschaften und wissenschaftsorganisatorischen Vereinigungen. Heinz Grünerts Studie geht somit weit über des gängige Niveau einer Biografie hinaus, denn neben dem dargebotenen Material steht sie nicht nur für einen Teil der Geschichte, der auf die prähistorische Archäologie gestützten wissenschaftlichen Disziplin der Ur- und Frühgeschichte, sondern auch als Studie für die allgemeine Wissenschafts- und Sozialgeschichte des deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Auch wenn Grünerts Arbeit ein Grundlagenwerk zu Kossinna und dem Fach zu diese Zeit darstellt, scheint die Forschung damit nicht zum Ende gekommen zu sein, denn, wie der Autor betont, sei der Aussagewert von Kossinnas Nachlass bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Man darf also weiterhin gespannt bleiben.