Eine rassistisch motivierte „Zigeunerpolitik“ in Deutschland wird in der heutigen Forschung mehrheitlich mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten in Verbindung gebracht. 1 Einige Historiker 2 haben jedoch darauf hingewiesen, dass bereits das bayerische „Zigeuner- und Arbeitsscheuengesetz“ von 1926 eindeutig rassistische Züge aufwies, was Fragen nach der Vorgeschichte der NS-Verfolgungen aufwirft. Eben diese Fragen greift Marion Bonillo in ihrer nunmehr im Peter Lang Verlag veröffentlichten Dissertation „‘Zigeunerpolitik‘ im Deutschen Kaiserreich 1871-1918“ auf, indem sie in der Einleitung darauf verweist, dass „keineswegs alles, was die Nationalsozialisten gedacht oder getan haben, neu“ gewesen sei (S. 26).
Wurden die Sinti und Roma bereits im Deutschen Kaiserreich aus „rassischen“ Gründen diskriminiert? In den nicht allzu zahlreichen Arbeiten zu diesem Thema wurde dies bislang zumeist negiert. Wolfgang Günther etwa bestritt eine rassistische Motivation der repressiven preußischen Erlasse zwischen 1871 und 1918, weil sie auch „Nicht-Zigeuner“ betroffen hätten. 3 Rainer Hehemann wiederum entdeckte in der Wilhelminischen „Zigeunerpolitik“ vornehmlich kriminalpräventive und assimilatorische Intentionen. Darüber hinaus verteidigte er den Zwangscharakter der politischen und polizeilichen Maßnahmen mit der Behauptung, die „Zigeuner“ trügen durch ihre Weigerung zur Sesshaftigkeit eine gewisse Mitschuld. 4
In bewusster Abgrenzung und Opposition zu ihren Vorgängern versucht Bonillo nachzuweisen, dass der repressiven „Zigeunerpolitik“ im Kaiserreich sehr wohl eine rassistische Motivation zugrunde lag. Die Wurzeln derselben sieht sie in einem negativen „Zigeunerbild“ der zeitgenössischen Wissenschaft, das auf die staatliche und vor allem polizeiliche Einstellung gegenüber Sinti und Roma entscheidenden Einfluss gehabt habe. Aus dieser Grundannahme erklärt sich auch die Gliederung der Arbeit in zwei ideologiegeschichtliche Einführungskapitel und einen ereignisgeschichtlichen, quellenkritischen Hauptteil. Als Untersuchungsmaterial dienen dabei neben publizistischen Werken in erster Linie Akten der Innenministerien der einzelnen Länder sowie des Reichsamtes des Innern. Aufgesucht wurden dafür die Staatsarchive in Berlin, Dresden, Hannover und München sowie das Bundesarchiv. Ein umfassender Anhang mit großenteils unveröffentlichten Dokumenten macht die Argumente und Thesen nachprüfbar und erweitert die Veröffentlichung zu einem nützlichen Nachschlagewerk. Sehr zu bedauern (und kaum nachvollziehbar) ist insofern der Verzicht auf ein Personen- und Sachregister.
Nach einem kursorischen Überblick über das „Zigeunerbild“ der Frühen Neuzeit (Kap.1) beleuchtet Bonillo im zweiten Kapitel zunächst die Veränderungen, die der traditionelle Antiziganismus während der Aufklärung erfuhr. Die Wissenschaft im ausgehenden 18. Jahrhundert prägte das Bild der „Zigeuner“ im positiven wie im negativen Sinne. Auf der einen Seite brachte die sprachwissenschaftliche Entdeckung des Romanes die Anerkennung der Sinti und Roma als ein ursprünglich aus Indien stammendes Volk. Auf der anderen Seite förderte dieselbe Entdeckung ihre Stigmatisierung. Die „bürgerliche Verbesserung“, die Christian Wilhelm von Dohm noch für möglich hielt, wurde von H.M.G. Grellmann in Frage gestellt. 5 Für Grellmann waren die Sinti ein „orientalisches“ und damit „minderwertiges“ Volk, das schwerlich zu erziehen sei. In Anlehnung an Claudia Breger und Wolfgang Wippermann 6 erkennt Bonillo in Grellmanns Vorstellungen den Einfluss der „Rassenlehre“, die in der zeitgenössischen Naturwissenschaft Einzug hielt: „Auch wenn der Begriff ‚Rasse‘ bei Grellmann nicht auftaucht, war seine Darstellung doch eindeutig rassistisch geprägt.“ (S. 40)
Juristen und Kriminalisten ergänzten in den folgenden Jahrzehnten das rassistische „Zigeunerbild“ durch kriminalbiologische Studien. In beeindruckender Prägnanz fasst Bonillo zusammen, wie die Sinti und Roma im 19. Jahrhundert auf diese Art zu Opfern eines doppelten Rassismus wurden. Der rassenanthropologische Diskurs stempelte sie zu einem minderwertigen Volk mit „unverbesserlichen“ Charaktereigenschaften; der kriminalbiologische Diskurs unterstellte ihnen eine angeborene Kriminalität. Bonillo betont hierbei zurecht die herausragende Rolle des „Zigeunerexperten“ Richard Liebich, dessen „praxisbezogene“ Empfehlungen zur polizeilichen Repression 7 gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Teil wörtlich umgesetzt wurden (S. 56-59).
In ihrem Hauptteil (Kap. 3-9) versucht Bonillo zu beweisen, dass das rassistische“ Zigeunerbild“ entscheidende Auswirkung auf die „Zigeunerpolitik“ des Kaiserreiches hatte. Obwohl der Titel der Arbeit eine Darstellung der reichsweiten „Zigeunerpolitik“ verspricht, beschränkt sich die Quellenarbeit auf die Länder Bayern, Sachsen und Preußen. Bonillo begründet dies einerseits mit der „geographischen Lage dieser Grenzländer zu Ost- und Südosteuropa und ihrer Größe“, andererseits mit der dominierenden Stellung, die v.a. Bayern und Preußen bei der gesamten Entwicklung der „Zigeunerpolitik“ einnahmen (S. 29).
Kennzeichnend für die Politik des Kaiserreichs war die Unterscheidung zwischen „inländischen“ und „ausländischen Zigeunern“. Die Reichsgründung brachte zunächst eine erhebliche Einschränkung des Aufenthalts- und Arbeitsrechts fremdstaatlicher Roma im Rahmen einer allgemeinen negativen Zuwanderungspolitik mit sich. 1883 wurde „ausländischen Zigeunern“ die Ausübung eines Wandergewerbes und damit der Aufenthalt auf Reichsgebiet ganz verboten, so dass sie in der Folge jederzeit abgeschoben werden konnten.
Doch auch die „inländischen Zigeuner“, deren Vorfahren zum Teil bereits im 15. Jahrhundert in das deutschsprachige Gebiet eingewandert waren, wurden „allein wegen ihrer ethnischen Herkunft“ diskriminiert (S. 223). Bonillo verortet diese Diskriminierung in den Kontext der allgemeinen negativen Minderheitenpolitik 8, unterstreicht aber gleichzeitig die außergewöhnliche Härte des an sich verfassungswidrigen Sonderrechts, unter welches die Sinti und Roma seit 1886 gestellt wurden: „Zigeuner“ hatten ihre Staatsangehörigkeit (unter Androhung einer Abschiebung) selbst nachzuweisen; als einzige deutsche Staatsbürger wurden sie unter Passzwang gestellt; durch den Entzug von Wandergewerbescheinen wurden sie an bestimmten Berufsausübungen gehindert usw. Ein besonderer Schwerpunkt der staatlichen Maßnahmen lag in der „Bekämpfung“ der als „Unwesen“ postulierten nomadischen Lebensweise, und das, obwohl eine von Bismarck initiierte preußische „Zigeunererhebung“ von 1886 ergeben hatte, dass der größte Teil der Sinti und Roma sesshaft war.
Bonillo entlarvt also das behördliche Assimilierungsprogramm in Preußen, Sachsen und Bayern als bloße Chiffre. Ja, mehr noch: „Die Beamten versuchten eine Integration durch die Isolation der ansässigen Sinti zu verhindern.“ (S. 215) Auf diese Weise werden zwei Grundannahmen Rainer Hehemanns widerlegt: die repressive „Zigeunerpolitik“ im Kaiserreich entsprang Bonillo zufolge weder einer assimilatorischen Intention noch wurde sie durch die Weigerung der „Zigeuner“ zur Sesshaftigkeit hervorgerufen.
Die eigentliche Zielsetzung der repressiven „Zigeunerpolitik“ sieht Bonillo in der totalen Erfassung und Kontrolle der Sinti und Roma (S. 151). Einen ersten Schritt in diese Richtung bedeutete die Gründung einer „Zigeunerzentrale“ innerhalb der Münchener Polizeidirektion im Jahre 1899, deren Leiter wenig später eine Sammlung mit 3350 Namen von „Zigeunern“ und „nach Zigeunerart umherziehenden Personen“ in Umlauf bringen konnte. 9 Dillmanns Unterscheidung nach „rassischen“ und soziologischen Kriterien setzte sich in der Amtssprache schließlich durch. Auf Initiative führender Kriminalisten intensivierte sich die systematische Erfassung der Sinti und Roma, welche auf diese Weise „im polizeilichen Alltag Serientätern gleichgestellt“ wurden. Verantwortlich hierfür, so Bonillo, war ein kriminalbiologischer Rassismus der Beamten: „Nur so ist es zu erklären, warum Sinti und Roma unter diskriminierenden Umständen bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland gemessen und photographiert wurden. Schließlich nahmen die Beamten von allen Sinti und Roma Fingerabdrücke, ungeachtet dessen, ob diese etwas Ungesetzliches getan hatten.“ (S. 151)
Eine weitere Enthemmung des innenpolitischen „Zigeunerdiskurses“ beleuchtet Bonillo am Beispiel der Münchener „Zigeunerkonferenz“ von 1911. Neben dem Ausschluss der Sinti und Roma aus dem Eisenbahn- und Schifffahrtsverkehr wurde unter den Ländervertretern auch erstmals die Deportation „heimatloser Zigeuner“ in die deutschen Kolonien ins Gespräch gebracht, um die angebliche „Zigeunerplage“ zu beseitigen. Bonillo ist zuzustimmen, wenn sie in derlei Erwägungen eine „Grundlage für die spätere ‚Zigeunerpolitik‘“ der Nationalsozialisten ausmacht.
Das gilt ebenso für die radikalen Pläne, die in Militärkreisen gegen Ende des Ersten Weltkrieges entworfen, wenn auch nicht realisiert wurden: „umherziehende Zigeuner“ sollten in Internierungslagern Zwangsarbeit leisten (S. 221).
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es Marion Bonillo gelungen ist, ihre zentrale These einer rassistisch motivierten „Zigeunerpolitik“ im Kaiserreich argumentativ zu untermauern. Ihre Quellenkritik zeichnet sich durch ein stetiges Misstrauen gegenüber dem offiziellen Wortlaut der ministeriellen und polizeilichen Verlautbarungen aus. Durch insistierendes Nachfragen entschlüsselt sie verborgene Absichten und ordnet diese in einen ideologiegeschichtlichen Kontext ein. „‘Zigeunerpolitik‘ im Deutschen Kaiserreich 1871-1918“ wirft damit ein neues Licht auf scheinbar vertraute Sinnzusammenhänge deutscher Geschichte und leistet einen anregenden Beitrag zum wissenschaftlichen Antiziganismus-Diskurs.
Anmerkungen:
1 U.a. Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid. Die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996.
2 Zum Beispiel Burleigh, Michael; Wippermann, Wolfgang: The Racial State. Germany 1933-1945, Cambridge 1991.
3 Günther, Wolfgang: Die preußische Zigeunerpolitik seit 1871 im Widerspruch zwischen zentraler Planung und lokaler Durchführung. Eine Untersuchung am Beispiel des Landkreises Neustadt am Rübenberge und der Hauptstadt Hannover, Hannover 1985.
4 Hehemann, Rainer: Die „Bekämpfung des Zigeunerunwesens“ im Wilhelminischen Deutschland und in der Weimarer Republik 1871-1933, Frankfurt a.M. 1987.
5 Grellmann, Heinrich Moritz Gottlieb: Die Zigeuner. Ein historischer Versuch über die Lebensart, Verfassung und Schicksale dieses Volkes in Europa, nebst ihrem Ursprung, Dessau 1783.
6 Breger, Claudia: Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann – Überlegungen zu Entstehung und Funktion rassistischer Deutungsmuster im Diskurs der Aufklärung, in: Danckwortt, Barbara u.a. (Hgg.): Historische Rassismusforschung. Ideologen – Täter – Opfer, Berlin 1995, S.34-69; Wippermann, Wolfgang: „Wie die Zigeuner“. Antisemitismus und Antiziganismus im Vergleich, Berlin 1997.
7 Liebich, Richard: Die Zigeuner in ihrem Wesen und ihrer Sprache. Nach eigenen Beobachtungen dargestellt, Leipzig 1863.
8 Damit folgt sie nach eigenen Angaben der These von Wolfgang Wippermann, der die Ursachen für eine rassistisch motivierte Ausgrenzung nationaler und ethnischer Minderheiten im preußischen Abstammungsrecht von 1842 verankert sieht. Vgl. Wippermann, Wolfgang: Das „ius sanguinis“ und die Minderheiten im Deutschen Kaiserreich. in: Hahn, Hans Henning (Hgg.): Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999, S.133-143.
9 Dillmann, Alfred: Zigeuner-Buch, München 1905.