Nationalismus gewinnt in modernen Kriegen immer an Bedeutung. Die Abgrenzung gegenüber dem „Feind“ auf der anderen Seite des Schützengrabens geht auf der eigenen Seite mit einer Überhöhung des Gefühls der Zusammengehörigkeit einher. Im Krieg wird alles ein wenig „nationaler“. Industrielle Arbeitsbeziehungen werden ebenso den Interessen der Nation unterworfen wie die Produktion von Schulbüchern oder Spielzeug. Schließlich präsentieren sogar die Fabrikanten von Toilettenpapier ihre Tätigkeit als „nationale Tat“.1 Das „nationale Interesse“ wird zum zentralen Argumentationsmuster, die Nation zu dem Wert, um den alle Diskurse kreisen.
Die Nationalismusforschung hat deshalb lange die integrativen Elemente nationalistischer Vorstellungen betont. Gerade im Krieg hätten die Nationen sich nicht nur nach außen abgegrenzt, sondern auch im Innern zusammengeschlossen. Soziale und kulturelle Gegensätze seien eingeebnet worden. Kriegen, und insbesondere dem Ersten Weltkrieg, wird damit auch eine systemstabilisierende Funktion zugeschrieben. Durch Ablenken von den inneren Konflikten habe der Nationalismus bestehende Herrschaftsverhältnisse abgestützt. Das sei vor allem der politischen Rechten zugute gekommen, die sich die nationalistische Ideologie besonders zu eigen machte.2
In seiner Studie zum Nationalismus in Deutschland und Großbritannien während des Ersten Weltkriegs widerspricht Sven Oliver Müller solchen Interpretationen vehement. Völlig zu Recht hebt er hervor, dass sie weitgehend der zeitgenössischen Rhetorik „nationaler Einheit“ aufsitzen. Die Nation, betont er in Anlehnung an Karl Deutsch, ist keine integrationsstiftende „Wertegemeinschaft“, sondern ein „Allzweck-Kommunikationsnetz“.3 Wie vor ihm bereits Dieter Langewiesche 4 und Jakob Vogel 5, aber deutlich entschiedener, unterstreicht Müller die Vielseitigkeit der nationalistischen Ideologie. Nicht nur regierende Eliten in Regierungen, Verwaltung oder Militär machten sie sich zu eigen. Auch oppositionelle Kräfte wie Arbeiterbewegungen, politisch unterprivilegierte Gruppen wie die Frauen oder nationale und religiöse Minderheiten konnten nationale Argumente benutzen, damit emanzipatorische Forderungen geltend machen und im nationalen Diskurs ihre Vorstellungen von gesellschaftlicher Ordnung einbringen. Denn im Gegensatz zu Heinrich August Winklers weitverbreiteter These war der Nationalismus selbst im deutschen Kaiserreich 1914 nicht rein konservativ und exklusiv geprägt 6, sondern vielmehr gekennzeichnet durch „die permanente, strukturelle Gleichzeitigkeit partizipationsverheißender und ausgrenzender Elemente“ (S. 18).
Nun ist der Mythos, dass Krieg und der im Krieg verstärkte Nationalismus systemstabilisierend und als Integrationsideologie wirken, schon von Jürgen Kocka vor längerer Zeit demontiert worden.7 Gegen die zeitgenössische Mythologisierung der nationalen Einheit betonte Kocka bereits die vielfältigen Spaltungstendenzen, die durch den Ersten Weltkrieg in der deutschen Gesellschaft verstärkt oder ausgelöst wurden. Während Kocka jedoch noch von einer rein sozialgeschichtlichen Sicht ausging, erweitert Müller diese Perspektive durch ihre Verbindung mit kulturhistorischen Ansätzen. Die in den nationalen Diskurs eingebrachten Argumente der verschiedenen sozialen Gruppen deutet er nicht als notdürftig verhüllten Ausdruck von Interessenstandpunkten. Besonders positiv ist hervorzuheben, dass dabei – im Gegensatz zu vielen anderen Produkten der neueren Kulturgeschichtsschreibung – keine auf Eliten fixierte Ideengeschichte das Resultat ist, sondern die gesamte Breite kultureller und gesellschaftlicher Äußerungen in den Blick kommt.
Weil im Krieg alles zur Angelegenheit von „nationalem Interesse“ wird, avanciert bei Müller auch alles zum Thema. Die Geschichte des Nationalismus im Ersten Weltkrieg ist zwangsläufig eine Totalgeschichte. Und daraus erwachsen zwangsläufig Probleme – erst recht für eine Studie, die gleich zwei Nationen vergleichend untersucht. Müller muss weit ausholen, um dem selbst gesetzten hohen Anspruch gerecht zu werden. Die meisten der Themen, die in der schier uferlosen Geschichtsschreibung über den Weltkrieg behandelt worden sind, tauchen auch hier wieder auf: Das gilt für den Topos der „Flucht in den Krieg“ wie für den des „Augusterlebnisses“. Es gilt für die Untersuchungen über Feindbilder, über die Verbindungen zwischen Nationalismus und Rassismus, über die Behandlung nationaler Minderheiten und die Kriegszielpolitik. Die Probleme der Kriegswirtschaft in beiden Ländern werden ebenso behandelt wie die Debatten um Wahlrechtsreformen.
Viele Fragen lassen sich bei einem solchen Vorgehen nur antippen. Neue Quellen werden kaum erschlossen. Statt auf Archivalien beruht die Arbeit vor allem auf systematisch erschlossenen Zeitungen und Zeitschriften, sowie auf einer gewaltigen Masse erschöpfend ausgewerteter Literatur. Auf dieser Quellenbasis hat Müller jedoch einige kleine Juwelen ans Licht gebracht, wie etwa eine das Verhältnis von Nationalismus und Sexismus beleuchtende Affäre aus dem „Intimbereich der britischen Nation“ (S. 148-154). Die vergleichende Methode rückt zudem einige aus national isolierter Betrachtung erwachsende, weitverbreitete Fehleinschätzungen zurecht, so etwa zur Bedeutung des Ersten Weltkriegs für die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland. Der auf die Frage nach der Relevanz „nationaler“ Argumentationsmuster zugespitzte Galopp durch die einzelnen Themen der Forschung zum Weltkrieg belegt schließlich immer wieder treffend die zentrale These prinzipieller Offenheit der nationalistischen Ideologie, mit der sich die Notwendigkeit zur Reform politischer Systeme, gesellschaftlicher Ordnungen und kultureller Werthorizonte ebenso rechtfertigen ließ wie deren Stabilisierung.
Um das zu belegen, hätte freilich eine Studie zu einem der beiden untersuchten Länder allein ausgereicht. Der Sinn des Vergleiches erschließt sich kaum. Auch seine Ergebnisse bleiben eher dürftig. Der Befund, dass der Krieg die deutsche Gesellschaft mehr polarisierte als die britische, ist ebenso wenig überraschend wie der erklärende Verweis auf das Fehlen eines entwickelten Parlamentarismus als Arena für Integrationsversuche im Grunde banal ist. Ob die relative Schwäche des Nationalismus als Integrationsfaktor in Deutschland durch den schleichenden Kriegsverlust zu erklären ist, erscheint fraglich: Bis zum Scheitern der Frühjahrsoffensive 1918 war die Wahrnehmung des Kriegsverlaufs angesichts des Vorrückens deutscher Truppen an allen Fronten kaum eine pessimistische. Die Stärke des integrativen Nationalismus in Großbritannien mag mit der auf das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bauenden britischen Kriegszielpolitik zusammengehangen haben. Dabei darf freilich nicht unterschlagen werden, dass dieses Prinzip nur auf dem europäischen Kontinent gelten sollte, nicht dagegen für die Länder des Empire. Ob schließlich Brutalisierung und Militarisierung anders als in Großbritannien spezifische Charakteristika der deutschen Nachkriegsgesellschaft wurden, ist umstritten.8
Doch das sind kritische Vorbehalte gegenüber Details. Sie ändern nichts an dem Befund, dass Sven Oliver Müller eine solide Studie vorgelegt hat, die sich auf der Höhe des Forschungsstands bewegt, methodisch innovativ ist und vor allem einen bedeutenden Schritt auf dem Weg zur Entmythologisierung des Nationalismus geht.
Anmerkungen:
1 Siehe z.B. Rudolph, Harriet, Kultureller Wandel und Krieg: Die Reaktion der Werbesprache auf die Erfahrung des Ersten Weltkriegs am Beispiel von Zeitungsanzeigen, in: Gerhard Hirschfeld (Hg.), Kriegserfahrungen, Essen 1997, S. 283-301.
2 Vgl. etwa die einflussreichen Interpretationen von Mosse, George, Die Nationalisierung der Massen, Frankfurt am Main 1976, und Dann, Otto, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770-1990, München 1993.
3 Deutsch, Karl W., Nationalism and Social Communication, Cambridge, Mass. 1962.
4 Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Neue Politische Literatur 40 (1995), S. 190-236.
5 Nationen im Gleichschritt. Der Kult der „Nation in Waffen“ in Deutschland und Frankreich 1871-1914, Göttingen 1997.
6 Winkler, Heinrich August, Vom linken zum rechten Nationalismus, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 5-28; Ders. (Hg.), Nationalismus, Königstein 1978.
7 Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914-1918, Göttingen 1978.
8 Vgl. die Einwände von Ziemann, Benjamin, Front und Heimat, Essen 1997, gegen Mosse, George, Gefallen für das Vaterland, Stuttgart 1993.