S. Lesemann u.a. (Hgg.): Stand und Repräsentation

Titel
Stand und Repräsentation. Kultur- und Sozialgeschichte des hannoverschen Adels vom 17. bis zum 19. Jahrhundert


Herausgeber
Lesemann, Silke; von Stieglitz, Annette
Reihe
Hannoversche Schriften zur Regional- und Lokalgeschichte 17
Erschienen
Anzahl Seiten
221 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Hirschbiegel, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität Kiel, Akademie der Wissenschaften Göttingen

„Den“ deutschen Adel habe es nicht gegeben, betonen die Herausgeberinnen Silke Lesemann und Annette von Stieglitz – vor Verallgemeinerungen warnend – einführend (Einleitung, S. 7-11). Die Selbstwahrnehmung des Adels und seine Konstituierung als Gruppe in Abhängigkeit von den jeweils historisch gewachsenen Bedingungen seien vielmehr bis zum Ende des Kaiserreiches von regionalen Unterschieden geprägt, das Verhältnis zum Herrscherhaus zudem von konfessionellen Einflüssen bestimmt gewesen. Aber diese Probleme seien bislang kaum erforscht worden, zumal das Interesse der Adelsforschung bis zum Beginn des letzten Jahrhunderts vornehmlich rechts- und verfassungsgeschichtlicher Natur gewesen sei oder sich genealogischen Fragen gewidmet habe. Vor diesem Hintergrund ist das erklärte Ziel des Bandes, der auf eine Vortragsreihe an der Universität Hannover zurückgeht, die benannten Forschungslücken in regionalgeschichtlicher Hinsicht mit Hilfe von kultur- und sozialgeschichtlichen Studien zu schließen. Zugrunde liegt ein Verständnis von Kulturgeschichte, das „die Lebenspraxis der Individuen, ihr Handeln und das ihm zugrunde liegende Denken als Teil des gesellschaftlichen Ganzen betrachtet“ (S. 8), denn: „Machtbeziehungen und Herrschaftsverhältnisse drücken sich immer auch in kulturellen Formen aus“ (ebd.), aufgefasst als „System symbolischer Herrschaft“ (S. 9), das seinen Ausdruck in einer spezifischen Formen- und Zeichensprache findet.1 Der regionalgeschichtliche Aspekt wird durch die besondere Entwicklung und die charakteristischen Merkmale insbesondere des hannoverschen Adels bedient, in den bürgerliche „staatspatrizischen“ Kreise trotz großer Bemühungen kaum aufsteigen konnten. In den solcherart abgeschlossenen Adelsfamilien habe sich zudem reicher Grundbesitz konzentriert. Begünstigt durch die dauerhafte Abwesenheit des Landesherrn – Hannover war seit 1744 in Personalunion mit England verbunden – hat sich so eine dominante „Adelskaste“ entwickeln können (S. 7). Der Rezensent, der sich mit der spätmittelalterlichen Sozial- und Kulturgeschichte des fürstlichen Adels in internationaler Perspektive auch in theoretischer Hinsicht beschäftigt, manifest in den Phänomenen Hof und Residenz, hat die insgesamt sieben Beiträge nach dieser inhaltsreichen und präzis formulierten Einleitung mit großem Interesse gelesen – und ist, dies sei vorweggenommen, keineswegs enttäuscht worden: Ein wichtiger Band für die Hofforschung, dessen Ergebnisse mitnichten nur von regionalgeschichtlicher Bedeutung sind.

Eingangs behandeln Bernd Adam unter dem Titel „Hannoversche Adelspalais des Barock und Rokoko“ (S. 13- 40) und Heike Palm mit „Der Fürst auf der Gartenbühne und die Arbeit hinter den Kulissen. Nutzung, Pflege und Unterhaltung des Großen Gartens in Hannover-Herrenhausen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts“ (S. 41-81) reich illustriert die „Gehäuse der Macht“.2 Vor allem sozialhistorisch aufschlussreich sind die beiden sich anschließenden Studien: Annette von Stieglitz widmet sich einer „Karriere im Ausland. Julius Jürgen von Wittorf als Minister am landgräflichen Hof in Kassel (1729-1802)“ (S. 83-135) und Anke Hufschmidt „Ilse von Saldern und ihre Schwestern. Zur Stellung von Frauen in den adligen Familien im Weserraum um 1600“ (S. 137-158). „Der Kobold auf Schloß Hudemühlen. Sagenbildung im Spannungsfeld zwischen Herrschaft und Gesinde“ von Brage bei der Wieden (S. 159-176) ist von auch volkskundlichem Interesse, konzentriert sich aber auf die diskursive Funktion dieser Figur. Die Untersuchung von Gotthardt Frühsorge „Der Intendant der höfischen Welt. Unico Ernst von Malortie am königlichen Hof in Hannover“ (S. 177-190) bietet auf biografischer Grundlage wertvolle Erkenntnisse über die Funktion des höfischen Zeremoniells. Cornelia Roolfs schließlich plädiert mit ihrem Beitrag über „Arbeit und Alltag am königlichen Hof in Hannover im 19. Jahrhundert“ (S. 191-213) erfolgreich für einen alltagsgeschichtlichen Zugang bei der Erforschung von Eliten.

Bernd Adam behandelt mit Blick auf eine bislang fehlende Darstellung der im 17. und 18. Jahrhundert in Hannover von Adeligen erbauten Wohnhäuser exemplarisch den Reden-Hof, das von Werpupsche Haus, das Haus der Gräfin Yarmouth, das von Steinbergsche Haus, das Palais von dem Bussche und das von Hardenbergsche Haus am Markt als herausragende, aber verlorene Bauten, deren Ursprungszustand jeweils anhand von Baurechnungen, Inventaren, Volkszählungen, Steuerlisten und Bestandsplänen rekonstruiert wird. Die Palais befanden sich bevorzugt in guten Wohnlagen der hannoverschen Altstadt. Dabei blieb die „Wohnkultur der in Hannover ansässigen Adeligen [...] keineswegs hinter der anderer vergleichbarer Städte in Deutschland zurück“ (S. 39). Der Reden-Hof kann nach Adam als prägnantestes Beispiel für einen älteren Palaistyp mit symmetrischem Grundriss und mittigem Saal im ersten Obergeschoss gelten. Dieser Typ sei nach 1735 unter französischem Einfluss von einer Bauform mit unregelmäßigem und nutzungsorientiertem Grundriss bei gleichwohl regelmäßiger Fassadengliederung abgelöst worden, deren Entwicklung ihren Höhepunkt Mitte des 18. Jahrhunderts erreicht habe. Bedeutende Vertreter seien das Palais von dem Bussche sowie das von Steinbergsche und das von Hardenbergsche Haus gewesen. Adam hebt die besondere Bedeutung der Säle hervor, die von vorbildhafter Wirkung für das hannoversche Umland gewesen seien, zumal die Besitzer der städtischen Adelspalais gleichzeitig Herrenhäuser auf ihren Gutshöfen und Dienstwohnungen oder Gartenhäuser vor der Stadt bessessen haben.

Heike Palm fragt am Beispiel von Herrenhausen vor allem danach, wie die Arbeit in einem Barockgarten bewältigt worden ist, dessen durch Ausdehnung, Komposition, Bepflanzung, Ausstattung mit Kleinarchitekturen, Skulpturen und Wasserkünsten erreichbare repräsentative Wirkung, als „fürstliche Gartenbühne“ für Veranstaltungen mit großer Außenwirkung, nur bei einem optimalen Pflegezustand zur vollen Entfaltung habe kommen können. Nach der Vorstellung des Gartens und der dazugehörigen Sommerresidenz als höfischem Erholungs- und Repräsentationsraum nimmt Palm die „Arbeit hinter den Kulissen“ in den Blick. Diese Arbeit sei in erster Linie von Saisonkräften erledigt worden, was in Anbetracht des Arbeitsaufwandes und der dazu notwendigen Fachkenntnis erstaunt. Besonderes Augenmerk habe der Reinhaltung der Anlagen, der Pflege raumbildender Gehölze und des kostbaren Kübelpflanzenbestandes gegolten. Erstaunlich ist auch, dass die Ausgaben zur Unterhaltung der ausgedehnten Herrenhäuser Gärten weniger als ein Prozent der Gesamtausgaben der Kammerkasse ausgemacht haben.

Der Geheime Staatsminister, Oberkammerherr und Oberstallmeister am landgräflichen Hof zu Kassel Julius Jürgen von Wittorf (1714-1804) steht im Mittelpunkt der Ausführungen von Annette von Stieglitz. An ihm werde sowohl die überregionale Aktivität und familiäre Verflechtung des Adels im Alten Reich deutlich als auch „geradezu exemplarisch Aufstieg und Fall eines Höflings, der sich allein auf dem dünnen Eis fürstlicher Gunst bewegte“ (S. 84).3 Grundlage der Untersuchung ist der handschriftlich überlieferte Lebenslauf von Wittorfs, den Stieglitz im Anhang ihres Beitrags ediert (S. 106-131). In diesem Lebenslauf spiegeln sich alle Tätigkeitsfelder eines leitenden Hofbeamten des 18. Jahrhunderts. In der Person von Wittorfs haben sich alle für eine höfische Karriere wesentlichen Aspekte vereint: persönlicher Kontakt und persönliche Nähe zum Herrscher, das Gespür für die jeweils richtige Situation und eine hohe Anpassungsfähigkeit an Personen und Umstände. Dies habe seinen Ausdruck auch in der Errichtung eines stattlichen Anwesens in der Nähe des Schlosses gefunden, dem Juliusstein, dessen Bau von von Wittorf erst im Alter von neunundsechzig Jahren begonnen worden sei. „So nahe am Herrscher befand sich kein anderer hochrangiger Hofbeamter“ (S. 101), und das habe Neid erzeugt, der letztlich auch zur Absetzung von Wittorfs geführt habe, der kurz darauf verstarb. Mit von Wittorf sei eine Ära untergegangen, so Stieglitz, denn der höfische Rahmen, der Persönlichkeiten wie von Wittorf den Aufstieg ermöglichte, sei danach nicht mehr vorhanden gewesen, wiewohl der Hof selbst als „soziale Konfiguration“ den Wandel des 19. Jahrhunderts überlebt habe und „bis 1918 eine prägende politische und gesellschaftliche Institution blieb“ (S. 105).

Am Beispiel Ilse von Salderns und ihrer Schwestern Jutta, Oeleke, Katharina, Anna, Margarethe und Sophia untersucht Anke Hufschmidt „Rahmenbedingungen und soziale Praxis adligen Frauenlebens zwischen 1525 und 1630“ (S. 137) und stellt die Frage danach, „welche Bedeutung Frauen für die Stellung des Adels in der frühneuzeitlichen Gesellschaft hatten“ (ebd.). Nach der Beleuchtung des familiären Hintergrundes und des Einflusses der Erziehung der Schwestern von Saldern sowie allgemeineren Ausführungen über die adlige Lebens- und Haushaltsführung „christlicher Hausmütter“ konzentriert sich Hufschmidt auf die Rolle der Schwestern als Bauherrinnen und Prozessführerinnen und auf die sich im Testament der Ilse von Saldern und der von ihr errichteten Stiftungen zeigenden engen familiären Bindungen. Eindrucksvoll kann Hufschmidt die Diskrepanz zwischen den „normativen Zuschreibungen, mit denen Frauenleben in der Frühen Neuzeit strukturiert werden sollten“ (S. 156) und der sozialen Praxis deutlich machen: Vor allem Ilse und Sophia von Saldern haben im Bewusstsein ihres Standes und der sicheren Unterstützung durch ihre Herkunftsfamilie versucht, ihre und die Interessen ihrer Familie konsequent durchzusetzen, ohne Rücksicht auf ihr Ansehen zu nehmen. Sie haben Aufsichts-, Verwaltungs- und Herrschaftsfunktionen im adligen Haushalt wahrgenommen und als Mehrerinnen des Vermögens, als Garanten für den Fortbestand des Geschlechtes und als Trägerinnen praktizierter Frömmigkeit eine bedeutende Rolle für das Ansehen ihrer Familie gespielt.

Brage Bei der Wiedens Quelle für seine Studie über den Kobold auf Schloss Hudemühlen ist die Familienchronik des Marquard von Hohenberg aus dem 17. Jahrhundert. Dabei sei es von Hohenberg als wissenschaftlich geschultem Mann um das Phänomen, nicht um den Effekt gegangen, wie Bei der Wieden betont (S. 161). Er nutzt diese einzigartige Quelle, um die diskursive Funktion des Kobolds als „Medium der Beziehungen zwischen Herrschaft und Gesinde“ darzustellen und die Verwissenschaftlichung von Erfahrung zu beschreiben. Der Kobold Hintzelmann sei noch um die Mitte des 16. Jahrhunderts ein Haus- und Familiengeist gewesen, den das Gesinde genutzt habe, um durch ihn nicht nur Kargheit, Geiz, Habgier oder Knauserigkeit der Herrschaft anzuprangern, sondern ihren Anspruch auf Achtung und Anerkennung der eigenen Standesehre zu formulieren. Die spätere Diabolisierung dieses Hausgeistes gilt Bei der Wieden als Merkmal von Modernisierung und Rationalisierung im Weberschen Sinn. Gleichzeitig zeige sich der Wandel von einer ständisch geprägten Ehrauffassung hin zu einem personenbezogenen, individuell verstandenen Ehrbegriff. Etwas lapidar erscheint freilich Bei der Wiedens nur knapp begründeter Schluss, dass die Dichotomie Volkskultur-Elitenkultur nur wenig zur Analyse des Phänomens beitrage.

Gotthardt Frühsorge hebt die exemplarische Bedeutung des hannoverschen Hofes nach 1837, dem Regierungsantritt König Ernst Augusts, für die politische Geschichte und die Mentalitätsgeschichte der höfischen Welt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland hervor, die mit dem Berliner Hof Wilhelms II. zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr bekanntes Ende fand. Grundlage seiner Ausführungen ist das zweibändige Werk „Der Hofmarschall“ aus der Feder Unico Ernst von Malorties, einem Handbuch zur Einrichtung einer Hofhaltung. Malortie, unter anderem ab 1850 selbst Oberhofmarschall in Hannover, habe als der beste Kenner des Hofrechts seiner Zeit zu gelten. Das höfische Zeremoniell, „Festlegung der Ordnung im Raum“ (S. 187), sei nach Malortie die „Theorie des Vorrechts des Ehrenplatzes im Gehen, Stehen oder Sitzen“ (ebd.) gewesen, die „Zuweisung auf einen einmal festgelegten Platz, geradezu die Statik im Raum“ (ebd.). Ebenjene Statik eines durchrationalisierten Hofes habe nach Frühsorge aber auch dessen Überlebensfähigkeit verhindert: „Die Inhalte der politischen Macht waren schon lange auf dem Weg, in ein anderes Lager zu wandern“ (S. 188), denn: „Die Zeit als Bewegungselement hat gesellschaftliche Ordnungen, deren Sinnbild räumliche Organisation war, als politischer Faktor abgelöst“ (ebd.) 4.

Die den Band beschließende Studie von Cornelia Roolfs nimmt die Arbeit der Hofbediensteten in den Blick. Ihr Ziel ist allerdings die Gewinnung neuer Erkenntnisse zur Beurteilung und Charakterisierung der Könige Ernst August (1837-51) und vor allem Georg V. (1851-66). Roolfs fragt zu diesem Zweck nach der Organisation des höfischen Lebens. Ihre Grundlage sind die Akten des Oberhofmarschallamtes. Tatsächlich gelingt Roolfs auf diese Weise ein individualisierter Zugang zum Verständnis der beiden Herrscherpersönlichkeiten, indem sie „die Bedeutung und die Rolle des Hofes in den Kontext der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen im Verlauf des 19. Jahrhunderts“ (S. 210) stellt. Industrialisierung und Bürokratisierung, der wirtschaftliche und soziale Aufstieg von Bürgerlichen und auch die nationale Bewegung in Deutschland habe einen hohen Druck auf den Hof ausgeübt, der sich letztlich auch in der Regierungsweise von vor allem Georg V. niedergeschlagen habe.

Abgeschlossen wird der Band von einem Abbildungsverzeichnis (S. 215f.) sowie einem Orts- (S. 217f.) und Personenindex (S. 221). Dass der Leser gern auch etwas über die AutorInnen erfahren hätte, sei nur am Rand vermerkt.

Anmerkungen
1 Vgl. hierzu Peter-Michael Hahn und Ulrich Schütte: Thesen zur Rekonstruktion höfischer Zeichensysteme in der Frühen Neuzeit, in: Mitteilungen der Residenzen-Kommission 13,2 (2003) S. 19-47.
2 Siehe künftig: Werner Paravicini: Vom sozialen zum realen Raum. Hof und Residenz in Alteuropa, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2003 (in Vorbereitung zum Druck).
3 Vgl. demnächst: Der Fall des Günstlings. Hofparteien in Europa vom 13. bis zum 17. Jahrhundert. 8. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Neuburg an der Donau, 21.-24. September 2002, hg. von Jan Hirschbiegel und Werner Paravicini, Stuttgart 2004 (Residenzenforschung, 17).
4 Zur Theorie des Hofes demnächst auch die Beiträge in: Hof und Theorie. Annäherungen an ein historisches Phänomen, hg. von Reinhardt Butz, Jan Hirschbiegel und Dietmar Willoweit, Köln 2004 (Norm und Struktur, 22).

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