M. Wildt: Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit

Cover
Titel
Nachrichtendienst, politische Elite und Mordeinheit. Der Sicherheitsdienst des Reichsführes SS


Herausgeber
Wildt, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
387 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabel Heinemann, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

In einem SS-internen Schulungsbrief aus dem Jahr 1935 beschrieb ein SS-Führer die Aufgabe des damaligen Sicherheitsdienst(SD)-Hauptamtes der SS als „Aufdeckung innerer Feinde“, man habe es sich als „Auge und Ohr der SS“ vorzustellen.1 Doch der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS agierte keineswegs ausschließlich als Nachrichtendienst, dies zeigen die Beiträge eines neuen Sammelbandes zu Geschichte und Struktur des SD. Herausgeber ist der Hamburger Historiker Michael Wildt, der bereits eine Dokumentation zur „Judenpolitik des SD 1935 bis 1938“ vorgelegt hat und unlängst mit einer umfassenden Studie zum Führungspersonal des RSHA hervorgetreten ist.2

Der Sammelband vereint insgesamt vierzehn Beiträge einer Konferenz zur Rolle und Politik des SD, die im Oktober 2001 am Hamburger Institut für Sozialforschung stattfand. Er folgt der klassischen Sammelband-Struktur, d.h. er kombiniert Beiträge, deren Kernthesen bereits durch Publikationen bekannt sind, mit Studien, die in Thema und Analyse Neuland betreten. Gerade letztere, entweder Dissertationsprojekte oder aus neu erschlossenen Quellen gearbeitete Aufsätze, machen das Buch lesenswert. Die Beiträge lassen sich – eine thematische Einteilung seitens des Herausgebers hätte die Benutzung des Bandes erleichtert – grob in drei Gruppen gliedern: erstens Untersuchungen zu Organisationsstruktur und Personal des SD, zweitens Analysen der nachrichtendienstlichen Arbeit insbesondere im Krieg, drittens Überlegungen zur Wissenschaftspolitik des SD. Das Spektrum der Beiträge zum ersten Themenkreis reicht von der Frühgeschichte des SD (George Browder) bis zu den Nachkriegskarrieren der SD-Angehörigen in der BRD (Lutz Hachmeister). Eine sozialstrukturelle Analyse liefert Carsten Schreiber. Ihm gelingt ein innovativer Blick auf das V-Leute-Netzwerk des SD in Sachsen, gewissermaßen eine Geschichte der nachrichtendienstlichen Aktivitäten vor Ort und „von unten“. Dazu kann er unter anderem auf SD-Personalakten und die Personalkartei des SD für Sachsen mit über 2700 Mitgliedern zurückgreifen. Der Wert dieses quantitativen und strukturellen Zugangs liegt darin, dass so erstmals plausibel wird, wie der SD sein Spitzelnetzwerk lokal verankerte und wer für ihn arbeitete.

Im zweiten Themenkomplex, der sich mit der praktischen Arbeit des SD während des Krieges befasst, finden sich insgesamt fünf Beiträge: Die Bandbreite der Aufsätze erstreckt sich von der „archivarischen und bibliothekarischen Praxis des SD“ im Amt VII des RSHA (Jörg Rudolph) bis zum eindrucksvollen Scheitern des Auslands SD in Italien (Katrin Paehler) und zur Integration einheimischer Hilfstruppen in die Verbände der Sicherheitspolizei in Osteuropa (Ruth Bettina Birn). Andrej Angrick beschäftigt sich in einem aufschlussreichen Beitrag mit der Frage, ob überhaupt von einer genuin SD-mäßigen Arbeit bei den Einsatzgruppen der Sipo und des SD in der besetzten Sowjetunion gesprochen werden kann, die diese gewissermaßen „komplementär“ zum Massenmord an den Juden durchführten. Er überprüft dies am Beispiel der Einsatzgruppe D unter Otto Ohlendorf (Chef des Inlands-SD, Amt III) in der Ukraine. Angrick kann zeigen, dass diese Einsatzgruppe sich auch der Informationssammlung über die Volksdeutschen vor Ort und deren NS-mäßiger Ausrichtung widmete und ferner erfolgreich Krim-Tartaren für die Wehrmacht und als eigene Hilfstruppen anwarb. Damit entwickelte Ohlendorfs Formation zumindest kurzfristig ein über die Umsetzung des Genozids hinausgehendes volkstumspolitisches Profil. Der Beitrag von Klaus Mallmann beleuchtet anhand von neuem Quellenmaterial die Spionage- und Sabotageaktivitäten des Auslands-SD (Amt VI) in der besetzten Sowjetunion. Das „Unternehmen Zeppelin“ rekrutierte russische Kriegsgefangene, die nach entsprechender Schulung hinter der Front als Agenten und Saboteure eingesetzt wurden. Dass eine maßgebliche Schwächung der Roten Armee trotz hohem personellen Aufwands nicht gelang, resultierte nach Mallmann aus zwei Faktoren: Der Kriegsverlauf und die einhergehende Verknappung von Material und Transportkapazitäten vereitelten die angestrebten Ferneinsätze, so dass nur eine Politik der „Nadelstiche“ möglich war. Der Einsatz der Zeppelin-Truppen gegen die sowjetische Zivilbevölkerung und die Mordaktionen unter vermeintlich abtrünnigen Agenten unterminierten die Loyalität der antikommunistischen Aktivisten. Hier scheiterte man also an kriegsbedingter Praxis und an der eigenen rassistischen Ideologie.

Unter einem letzten Themenkomplex „ideologische Prägung und wissenschaftspolitische Aktivitäten des SD“ lassen sich insgesamt vier Beiträge rubrizieren: Jürgen Matthäus analysiert das „Judenbild des SD“ in der Vorkriegszeit und Wolfgang Dierker bearbeitet die Religionspolitik des SD bis 1941. Gerd Simon und Joachim Lerchenmüller untersuchen die Einflüsse der SD-Wissenschaftler auf Germanistik und Geschichtswissenschaft, ihre Überlegungen bewegen sich in den bereits bekannten Bahnen der Debatte über die NS-Vergangenheit der deutschen Geisteswissenschaften: Es gab Germanisten auch im SD und Historiker, die sich zu willigen Zuträgern des SD machten bzw. die erst in der SS und an den ideologischen „Brückenköpfen“ im besetzten Gebiet, den Reichsuniversitäten Straßburg, Prag und Posen, Karriere machten. Die Autoren zeigen plausibel, wie den beiden „deutschen“ Wissenschaften bei der Ausrichtung der Geisteswissenschaften auf eine rassenideologisch fundierte Volkstumsforschung und Volksgeschichte eine Schlüsselrolle zufiel. Doch eine umfassende wissenschaftspolitische Neuordnung sollte erst in der Nachkriegszeit realisiert werden – einzige Ausnahme waren die neu gegründeten Reichsuniversitäten –, folglich blieben auch die Pläne des SD hierzu reine Theorie.

Schließlich fällt die Arbeit von Christian Ingrao zur nationalsozialistischen Militanz deutscher Studenten thematisch aus dem engeren Fokus auf den SD heraus. Seine Ausführungen zur Radikalisierung von Werner Best, Otto Ohlendorf und anderen durch Kriegsniederlage und völkische Studentenbünde bieten – verglichen mit den bereits existierenden Arbeiten zur Führungsriege des RSHA – wenig neues.

Insgesamt liefert der Band eine nützliche Zusammenschau der derzeitigen Forschungsergebnisse zur ideologischen Fundierung und politischen Arbeit des SD. Zwei Beobachtungen treten deutlich hervor, Wolfgang Dierker bringt sie exemplarisch auf den Punkt: Erstens war die weltanschauliche Prägung der SD-Angehörigen unmittelbar handlungsleitend. Die Vorstellung an der Etablierung einer rassisch und ideologisch homogenen „Volksgemeinschaft“ mitzuwirken, erlaubte ihnen, die Gegnerforschung und -bekämpfung als unerlässlichen Bestandteil einer angestrebten „positiven Neuordnung“ zu rationalisieren. So wurde schließlich sogar Völkermord zum unhinterfragten Teil einer volkstumspolitischen Sicherungsaufgabe. Zweitens reagierten die SD-Aktivisten auf interne und externe Faktoren wie die interne Konkurrenz zur staatsfinanzierten Gestapo oder aber die Ausweitung der deutschen Einflusssphäre im Krieg. Theorie und Praxis verstärkten sich gegenseitig, was auch daran lag, dass die SD-Intellektuellen selbst ehrgeizig nach Umsetzung ihrer Konzepte trachteten. Damit ist klar, dass die SD-Tätigkeit sich insbesondere während des Krieges, aber auch bereits zuvor, keineswegs darin erschöpfte, „Auge und Ohr“ der SS zu sein.

Daraus ergibt sich die Frage nach der Abgrenzung der SD-Tätigkeit gegenüber der Sipo, mit der der SD seit 1939 in der Polizeizentrale der SS, dem RSHA, vereint war. Nach dem Geschäftsverteilungsplan des RSHA vom 1.3.19413 widmeten sich folgende Ämter spezifischen SD-Aufgaben: Amt III „Deutsche Lebensgebiete“ (Inlands-SD, Herausgabe der „Meldungen aus dem Reich“), Amt VI (Auslands-SD) und im Amt VII „Weltanschauliche Forschung und Auswertung“. Wie der Band veranschaulicht, betrieben ferner junge SD-Intellektuelle Wissenschaft im Sinne der SS oder beteiligten sich während des Krieges in den Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD an der Vernichtungs- und „Umvolkungspolitik“ in den besetzten Gebieten. Damit ist die Abgrenzung zur Tätigkeit der Sipo (insbesondere der Gestapo) problematisch, denn der SD beließ es ja nicht bei reiner Spionage- und Ermittlungsarbeit. Ebenso wenig lässt sich die Sipo ausschließlich auf das operative Geschäft der politischen Polizei und Kriminalpolizei festlegen. Die Tatsache, dass in den besetzten Gebieten die gesamte SS- und Polizeiverwaltung auf einer gemeinsamen Führung von Sipo und SD basierte – von der Leitung der lokalen Stapo- und SD-Stellen bis hin zu den Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des SD (BdS) gesamter Regionen – weist in dieselbe Richtung.

Ab 1939 bestand die Kernaufgabe von Sipo und SD in der Koordination der „Endlösung der Judenfrage“, um die sich alle nachrichtendienstlichen („Ermittlung von Juden und Judenverdächtigen“) und wissenschaftspolitischen (Konstruktion einer „deutschen Wissenschaft“) Aktivitäten gleichsam herumgruppierten. Dabei vereinte, so der Herausgeber in seiner Einleitung, das überwiegend aus jungen Intellektuellen zusammengesetzte Führungspersonal des SD weltanschauliche Konsistenz und nachrichtendienstlichen Ehrgeiz mit dem Anspruch politischer Praxis und äußerster Radikalität. Damit unterscheiden sich die SD-Aktivisten wenig von anderen Protagonisten der SS, zum Beispiel in den volkstumspolitischen Apparaten der SS, auch bleibt die Abgrenzung von ihren Sipo-Kollegen unklar. Hier hätte man sich detailliertere Hinweise gewünscht, ebenso einen eigenen Beitrag zum Verhältnis von Sipo und SD ab 1939. Wer – über den nützlichen Überblickscharakter des Sammelbandes hinaus – mehr und Detaillierteres zu Ideologie und Praxis des SD und des RSHA erfahren will, sei auf die zum Teil ausgezeichneten Einzelstudien der Autoren verwiesen.

Anmerkungen:
1 Der Rassenreferent des SS-Oberabschnittes Ost, SS-Untersturmführer von Lettow, an die Schulungsleiter seines SS-Oberabschnitts vom 1.3.1935. Bundesarchiv Berlin NS 2/74, Bl. 30-33.
2 Wildt, Michael (Hg.), Die Judenpolitik des SD 1935 bis 1938. Eine Dokumentation, München 1995; Ders., Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002.
3 Rürup, Reinhard (Hg.), Topographie des Terrors. Gestapo, SS und Reichssicherheitshauptamt auf dem „Prinz-Albrecht-Gelände“. Eine Dokumentation, Berlin 1995, S. 76-80.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension