I. Wenige geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzungen dürften in den letzten Jahren so weit in die Öffentlichkeit gedrungen sein, wie die Debatte um die Vergangenheit deutscher Historiker im „Dritten Reich“. Im Unterschied zu frühen Arbeiten der 1960er und 1970er-Jahre ging es dabei weniger um die Spitzenvertreter des Faches während der NS-Zeit und auch nicht nur um die Exegese anstößiger Fachveröffentlichungen, sondern um das Engagement einer jüngeren Generation von Historikern im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politikberatung und Politik. Die „Ostforschung“ stand angesichts ihrer besonderen Brisanz – erstens durch den unmittelbaren Zusammenhang der wissenschaftlichen Arbeiten und politisch motivierten Denkschriften zur Bevölkerungsverteilung, „völkischen“ Siedlungsgrenzen und Sprachräumen mit der Vernichtungspolitik im Osten, zweitens durch die Präsenz von Wissenschaftlern, die nach 1945 zu führenden Fachvertretern aufstiegen und Generationen deutscher Universitätshistorikerinnen und -historiker ausbildeten – zunächst im Mittelpunkt des Interesses. Von Anfang an war aber klar, dass sich diese Form der „Grenzlandforschung“ und der Vermischung wissenschaftlicher und politischer Interessen nicht auf den Osten beschränkte. 1 In jüngster Zeit ist die Kontroverse um die „Westforschung“ durch das umstrittene Buch des niederländischen Soziologen Hans Derks zu diesem Thema noch einmal angeheizt worden. 2
Mit dem von Burkhard Dietz, Helmut Gabel und Ulrich Tiedau herausgegebenen Sammelband „Griff nach dem Westen“ liegt nun ein Kompendium vor, das einen breiten Überblick über wichtige Wissenschaftler, Universitätsinstitute, außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, Themen und Methoden ermöglicht. Die beiden Teilbände mit über 1.200 Seiten Text versammeln 43 Beiträge deutscher, niederländischer und belgischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die teilweise auf frühere Buch- und Aufsatzveröffentlichungen zurückgehen. Zwar richtete sich die „Westforschung“ neben Luxemburg, Belgien und den Niederlanden auch auf Frankreich, aber in dem vorliegenden Sammelband steht zunächst der Nordwesten mit den Benelux-Staaten im Blickpunkt. Eine weitere Publikation zum Südwesten mit Frankreich als Schwerpunkt ist vorgesehen.
In vier Sektionen werden der theoretische, politische und ideologische Hintergrund der „Volkstums-“ und „Kulturraumforschung“ in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, inhaltliche und ideologische Grundlagen der „Westforschung“ und der an ihr beteiligten Fächer, sowie Organisationen, Institute und Initiativen und schließlich einzelne wichtige Personen vorgestellt. Ein einleitender Literaturüberblick der Herausgeber und ein Schlussbeitrag von Bernd-A. Rusinek über Kontinuitäten der Forschung im zwanzigsten Jahrhundert bilden den Rahmen der Beiträge, englische und französische Zusammenfassungen sowie ausführliche Register runden den Band ab.
II. Horst Lademacher erinnert im Eröffnungsaufsatz des ersten Teils an die Hintergründe der Verflechtung von Kulturraumforschung, geschichtlicher Landeskunde und Politik, wie sie sich in den 1920er-Jahren in Reaktion auf den Versailler Vertrag herausbildete. Das politische Engagement von Historikern und die Nutzung von Forschungsergebnissen zur Legitimierung politischer Ansprüche waren dabei nicht neu, sondern beides lässt sich bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Heimatgeschichtliches bzw. landeskundliches Engagement wiederum hing im Rheinland nicht nur mit der Grenznähe zusammen, sondern auch mit der Formierung einer eigenen Identität im föderal organisierten preußischen Herrschaftsbereich. Diese Dimension rheinischer und auch westfälischer Landeskunde lässt sich vom neunzehnten Jahrhundert an über die Blütezeit der 1920er-Jahre bis in die Anfangsjahre Nordrhein-Westfalens verfolgen.
Lademachers Postulat, dass die Kulturraumforschung – auch und gerade in ihrer grenzüberschreitenden Dimension – durch die als Missbrauch interpretierte Verwendung von Forschungsergebnissen im „Dritten Reich“ nicht diskreditiert sei, sondern im Rahmen heutiger europäischer Kooperation eine „ganz wesentliche Aufgabe“ (S. 18) mit europapolitischem Bezug übernehmen könne, enthält sicher den meisten wissenschaftspolitischen Sprengstoff des Bandes. Zwar setzt Lademacher einen erweiterten Kulturbegriff, der im Sinne Johan Huizingas materielle und geistige Aspekte umfasst, als Grundlage voraus und distanziert sich in vielem von der „klassischen“ Kulturraumforschung der Zwischenkriegszeit. Letztlich steht und fällt sein Programm einer Erforschung der „Geschichtslandschaft“ Nordwest-Kontinentaleuropa mit Blick auf kulturelle Gemeinsamkeiten und Besonderheiten aber mit der Frage, ob sich Forschungsthemen und Methoden der Kulturraumforschung tatsächlich von der politischen Instrumentalisierung vor allem ab den 1930er-Jahren trennen lassen. Ein großer Teil der Beiträge des Sammelbandes kreist um diese Frage, und die Antworten fallen durchaus unterschiedlich aus.
Die restlichen Beiträge des ersten Teils beleuchten den historischen Werdegang einiger Schlüsselbegriffe im Umfeld der „Westforschung“. Stefan Haas macht dabei in seinem Beitrag über „Transdisziplinarität“ in den kulturgeschichtlichen Forschungen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts deutlich, wie die theoretischen Lücken und Probleme, die mit diesem Begriff von Anfang an verbunden waren, den Boden für die irrationalen Ansätze der 1920er-Jahre und ihre politische Instrumentalisierung bereiteten. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Thomas Kleinknecht mit Blick auf die Begriffe „Kulturraum“ und „Volksboden“.
Dirk van Laak widmet sich dem Aufstieg der „Planung“ als politischer Leitkategorie und technokratischen Vorstellungen der Organisation von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Vorstellung einer wissenschaftlich begründeten, aber praxisorientierten Planung erlebte in den 1920er und 1930er-Jahren einen ersten Höhepunkt und spielte dann in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er-Jahre erneut eine wesentliche Rolle. Peter Heil konkretisiert diese Überlegungen am Beispiel der Raumplanung und ihrer offen eingeräumten inhaltlichen und personellen Kontinuitäten zwischen dem Nationalsozialismus und den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik. Der erste Teil lotet damit ein breites Spektrum von Rahmenbedingungen aus, in denen sich die „Westforschung“ vollzog. Seine Artikel beleuchten die spannungsgeladene Beziehung zwischen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, bei der Wissenschaftler einerseits allgemeinen gesellschaftlichen Kräften und Tendenzen unterlagen, andererseits durch ihre Tätigkeit diese Kräfte und Tendenzen aktiv mitgestalten und verändern wollten.
III. Im zweiten Teil geht es um inhaltliche und ideologische Grundlagen der „Westforschung“, wobei es bereits vielfache Überschneidungen zu Personen und Institutionen des dritten und vierten Teils gibt. Winfried Dolderer macht in seinem Beitrag über den flämischen Nationalismus der Zwischenkriegszeit deutlich, dass die Verbindung von publizistisch-wissenschaftlich gefördertem Regionalbewusstsein, „Volkstum“ und weitgehenden politischen Forderungen kein rein deutsches Phänomen war. Er beleuchtet das Geflecht von Personen, Institutionen und Zeitschriften, das sich nach dem Ersten Weltkrieg zwischen Belgien, exilierten Flandernaktivisten und deutschen Sympathisanten herausbildete. Obwohl sich das Auswärtige Amt nach dem Ersten Weltkrieg in der „Flamenfrage“ offiziell nicht mehr engagierte, spielten deutsche Aktivisten wie der Historiker und Archivar Robert Paul Oszwald und der Jurist Konrad Beyerle und weitere deutsche Professoren eine wichtige Rolle bei der ideologischen und praktischen Unterstützung der Flandernbewegung. Stephan Laux führt dies in einem biografischen Artikel über Oszwald weiter aus. Oszwald muss als einer der engagiertesten, zugleich aber auch eigenwilligen und politisch schwer zu kontrollierenden Aktivisten der deutschen Flandern-Bewegung gelten. Er war weniger Forscher als Organisator und „Politikberater“ in Deutschland und während beider Weltkriege vor Ort in Belgien und den Niederlanden.
Ein dritter Beitrag über die „großgermanische“ Kulturpolitik in Flandern ab 1934 von Björn Rzoska und Barbara Henkes greift vor allem die Aktivitäten der Rheinischen Forschungsgemeinschaft, namentlich die Bemühungen um eine Ausweitung des Projektes eines Volkskunde-Atlas’ auf das Nachbarland, und der belgischen Commissie voor Folklore auf. Für die Kriegszeit stehen dann die Aktivitäten des SS-„Ahnenerbes“ und ihres Mitarbeiters Hans Ernst Schneider in Belgien im Mittelpunkt. Ein zweiter biografischer Beitrag der beiden Autoren zu Schneider, der es nach 1945 als „Hans Schwerte“ zum Rektor der RWTH Aachen brachte, behandelt seinen Einsatz in den Niederlanden. In beiden Ländern engagierte er sich in der Förderung großgermanischer Volkstums-Forschungen und konnte dabei an deutsch-niederländische Kooperationsprojekte aus der Vorkriegszeit anknüpfen. Bereits ab 1933 waren solche Projekte den Zugriffen der Nationalsozialisten ausgesetzt, nach Kriegsbeginn gerieten sie ganz in den Bann der NS-Kulturpolitik. Die Bemühungen um eine Popularisierung dieser Ideen fanden ihren Höhepunkt in der aufwendig gemachten Zeitschrift „Hamer“, deren Publikation Schneider ab 1940 betrieb.
Heribert Müller, Johannes Arndt und Stefan Ehrenpreis gehen in ihren Beiträgen auf inhaltliche Dimensionen der „Westforschung“ ein und zeigen, wie sich die Interpretation zentraler historischer Themen in ihrem Umfeld veränderte. Müller widmet sich in seinem Aufsatz über Burgund und den Neusser Krieg von 1474/75 im Spiegel der Geschichtsschreibung einem zentralen Thema der deutschen Mediävistik, das nach dem Ersten Weltkrieg in einer Flut von Publikationen als Modell rheinischen Widerstands und nationaler Solidarität gegenüber dem „Feind aus dem Westen“ interpretiert wurde. Arndt zeigt am Beispiel der publizistischen und musealen Aktivitäten des Münsteraner Stadtarchivars Ernst Schultes, wie das Jahr 1648 und der Westfälische Frieden in den 1920er und 1930er-Jahren antifranzösisch umgedeutet und das Ausscheiden der Niederlande aus dem Reichsverband für hinfällig erklärt wurde. Ehrenpreis untersucht die deutsche Kirchengeschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit mit Blick auf ihre Interpretation des Calvinismus, der von einem Teil der Kirchenhistoriker als „fremdvölkische“ Religion angesehen wurde. Im „Dritten Reich“ dagegen konnte der Widerstand der Reformierten gegen staatlichen Zwang als Vorbild der Bekennenden Kirche im Kirchenkampf dienen.
Martina Pitz analysiert die Habilitationsschrift Franz Petris über „Die fränkische Siedlung in Frankreich und in den Niederlanden und die Bildung der germanisch-romanischen Sprachgrenze“ (1935), einer der Schlüsseltexte der „Westforschung“, der auf den Arbeiten der Bonner Schule aufbaute. Sie hebt den interdisziplinären Charakter der Studie und den Wert der Fragestellung hervor, belegt aber zugleich detailliert ihre methodischen Mängel, die bereits von der zeitgenössischen historischen und sprachgeschichtlichen Kritik angeprangert wurden und angesichts heutiger namenkundlicher und archäologischer Forschungen noch deutlicher werden. Dass sich der Nachweis einer „germanischen Komponente“ noch bei anderen Forschern nicht nur auf Flandern und die Niederlande beschränkte, macht Marnix Beyen in seinem Beitrag über Wallonien deutlich. Dabei konnten sich deutsche Konzepte der „Westforschung“ durchaus mit innerbelgischen Diskursen über gemeinsame Merkmale Flanderns und Walloniens berühren. Nach 1940 wurden die Forschungen deutscher und wallonischer Volkskundler, Linguisten, Archäologen und Historiker dann im Sinne der Besatzer in konkrete Politik umgesetzt.
Weitere Beiträge des zweiten Teils behandeln das Flandern-Bild in der deutschen Literaturwissenschaft, die Beziehungen zwischen Archäologie und „Westforschung“, bei der seit 1933 der rheinische Kulturdezernent Apffelstaedt und ab 1938 das Institut für Vor- und Frühgeschichte der Universität Bonn unter Kurt Tackenberg eine wesentliche Rolle spielten, sowie das Engagement von Soziologen wie Gunther Ipsen, Max Hildebert Boehm oder Ludwig Neundörfer im Rahmen der Agrarsoziologie und „Raumforschung“ im Westen, die sich vor allem auf Lothringen richtete. Klaus Freckman analysiert den Zusammenhang zwischen Kulturraumforschung und kultureller Identität Luxemburgs bis in die Gegenwart, Carlo Lejeune setzt sich mit den Grenzgebieten Eupen-Malmedy sowie Arlon und Montzen und der dort intensiv betriebenen Dialektforschung und „Kulturmission“ auseinander. Sowohl Freckmann als auch Lejeune beleuchten den Bonner Volkskundler Matthias Zender, der neben Steinbach und Petri in Luxemburg und Belgien besonders aktiv war.
Der abschließende Beitrag Horst Lademachers über zwischenstaatliche Organisationen in den deutsch-niederländischen Beziehungen bis 1939 – u.a. die Niederländisch-Deutsche Vereinigung (1919), die Nederlandsch-Duitsche Werkgemeenschap (1934), und die Deutsch-Niederländische Gesellschaft (1936) – macht noch einmal deutlich, dass sich „Westforschung“ und deutsch-niederländische Kulturbeziehungen in einem komplexen Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, unpolitischen Kulturveranstaltungen und politischer bzw. ab 1933 nationalsozialistischer Propaganda bewegten und nicht ohne Berücksichtigung der Partner auf der Gegenseite zu verstehen sind.
IV. Der dritte Teil präsentiert „Organisationen, Institute und Initiativen der ‚Westforschung’“. Michael Fahlbusch beleuchtet in einem umfangreichen, gelegentlich etwas unorganisierten Überblick die Deutschtumspolitik des Auswärtigen Amtes, des Reichsinnenministeriums sowie ab 1933 der SS und ihre Verbindung zur Westdeutschen Forschungsgemeinschaft (WFG). Die Leiter der seit 1931 bestehenden, mit Volkstumsvereinigungen, Instituten und Universitäten vernetzten Organisation waren nacheinander die Historiker Franz Steinbach und Theodor Mayer, der Geograf Wolfgang Panzer und schließlich ab 1940 der Kulturgeograf und engagierte Nationalsozialist Friedrich Metz. Fahlbusch betont den auf Expansion und Revision des Versailler Vertrages gerichteten Kurs der WFG, der sich nicht nur in den Forschungsprojekten und Tagungen, sondern schon vor 1940 auch in der Beratungstätigkeit ihrer Mitglieder niederschlug. Die Postulierung eines „gemeinsamen Kulturraumes“, der über die deutsche Westgrenze weit hinausreichte, wurde zwar vor dem Zweiten Weltkrieg noch dadurch relativiert, dass man versicherte, die Eigenständigkeit vor allem der Niederlande zu akzeptieren. Nach Fahlbusch diente sie letztlich aber der Vorbereitung einer Veränderung der Staatsgrenzen in Übereinstimmung mit den angeblichen „Volkstumsgrenzen“.
Lothar Mertens macht in seinem Beitrag die Rolle der Deutschen Forschungsgemeinschaft in der Förderung der „Westforschung“ im „Dritten Reich“ deutlich. Er hebt den politisch-ideologischen Charakter vieler geförderter Projekte hervor, der sich im Krieg noch einmal verschärfte. Wie sich neben den reinen Forschungsförderorganisationen auch staatliche Institutionen in diesem Bereich engagierten, zeigt Wolfgang Franz Werner in seinem Beitrag über den Provinzialverband der Rheinprovinz. Pionierarbeit leistet Thomas Müller mit seinem Aufsatz über die Westpolitik der Abteilung Grenzland (Abteilung G) des Reichsinspekteurs der NSDAP. Ihre konspirative Tätigkeit, die vor allem auf die Koordination der „Mobilmachung des Grenzraumes“ vor Ort gerichtet war, ist bisher unerforscht geblieben. Müller verdeutlicht, dass ihre Bedeutung im Geflecht der Westforschungsaktivitäten vor allem im Bemühen um deren politische Anwendung bestand.
Hans-Paul Höpfner widmet sich der Bedeutung der „Westforschung“ an der Universität Bonn, nach den Vorstellungen des Bonner Dozenten und Nationalsozialisten Ernst Anrich die „geistige Festung an der Westgrenze“ (S. 673). Höpfner geht neben dem Institut für geschichtliche Landeskunde auf die Ur- und Frühgeschichte, die Sprachwissenschaft, die Volkskunde und schließlich die Romanistik und Anglistik ein und kommt zu dem Schluss, dass vor dem Zweiten Weltkrieg nur das Institut für geschichtliche Landeskunde tatsächlich in der „Westforschung“ engagiert war. Auf die Rolle dieses Instituts geht dann ausführlich Marlene Nikolay-Panter in ihrem erstmals 1996 in den Rheinischen Vierteljahrsblättern erschienen Aufsatz ein. Ihre nüchterne Bilanz der Gründungsgeschichte, der frühen wissenschaftlichen und publizistischen Aktivitäten und schließlich seiner Rolle im Rahmen der intensivierten „Westforschung“ der 1930er-Jahre betont die Solidität der Institutsarbeit, die sich auch in den Kontakten ins westliche Ausland widerspiegelte. Für Nikolay-Panter ist es nicht zuletzt das wissenschaftliche Ansehen, das das Institut nach 1933 in den Blickpunkt des Interesses der Politik geraten ließ. Der Politisierung in den 1930er-Jahren und der Verengung der Themen auf Volkstumsfragen und den deutsch-französischen Gegensatz setzte man dabei keinen Widerstand entgegen. Erst für die frühen 1940er-Jahre konstatiert die Autorin „vorsichtige Distanz und ein unwilliges Sich-Fügen“ (S. 712), die sich z.B. in der Würdigung der Arbeiten Henri Pirennes durch Steinbach zeigt. Wilfried Maxim ergänzt die institutionengeschichtliche Übersicht durch einen deutlich kritischeren Blick auf die Publikationen der Bonner Schule. Er weißt anhand der Veröffentlichungen im Vorfeld der Saarabstimmung von 1935 und zur Geschichte der Benelux-Staaten die politische Dimension vieler Arbeiten nach, die zusammen eine „Geschichte der Differenz“ (S. 740) ergeben, die als Grundlage einer politischen Neugliederung Westeuropas dienen konnte.
Eine kritischere Stoßrichtung als der Beitrag Höpfners über Bonn hat Thomas Müllers Untersuchung der „Westforschung“ an der TH Aachen. In Aachen waren das Geographische und das Deutsche Institut sowie ab 1943 das neue Institut für Raumordnung und Raumforschung unter Hermann Roloff die Träger der „Westforschung“. Neben wissenschaftliche traten zunehmend politikberatende und schließlich ab 1940 organisatorische Aufgaben der Fakultätsmitglieder in der Besatzungsverwaltung. Für Müller ist die Aachener Grenzlandforschung unmittelbar mit der konkreten Grenzlandpolitik verbunden und hatte eindeutig expansive Züge. Zudem lassen sich in Aachen direkte Zusammenhänge zwischen West- und Ostforschung nachweisen.
Martin Krögers Aufsatz über die Praxis der deutschen auswärtigen Kulturpolitik in den Niederlanden der 1920er und 1930er-Jahren kommt vor dem Hintergrund der Untersuchung von Kunst, Film, Wissenschaft, „Auslandsdeutschtum“ und der deutschen Schulen zu dem Schluss, dass von einer zielgerichteten Politik keine Rede sein konnte, sondern mit Ausnahme der großzügig unterstützten Schulen nur kleine Summen in wenig spektakuläre Projekte flossen. Frank-Rutger Hausmann untersucht das Deutsche Wissenschaftliche Institut (DWI) in Brüssel, das von 1941 bis 1944 als Teil einer Kette von DWI im europäischen Ausland als Schaufenster der Leistungen deutscher Kultur und Mittlerinstanz zur belgischen Wissenschaftslandschaft dienen sollte. Zunächst von dem Bonner Vorgeschichtler Kurt Tackenberg geleitet, trat 1942 nach Auseinandersetzungen zwischen Auswärtigem Amt, Reichserziehungsministerium und Militärverwaltung der Heidelberger Romanist Walter Mönch an die Spitze des DWI. Mönch hielt nach Kriegsende an der Vorstellung fest, seine Arbeit habe der Völkerverständigung gedient und sei nicht Teil der deutschen Unterdrückungspolitik in Belgien gewesen.
Weitere Beiträge dieses Teils behandeln den Genealogen Karl Wülfrath und dessen „Rheinisches Provinzialinstitut für Sippen- und Volkskörperforschung“ an der Universität zu Köln, die ab 1943 von dem niederländischen Reichskommissar Seyss-Inquart herausgegebene Zeitschrift „Westland“, die ähnlich wie die Zeitschrift „Hamer“ einen Versuch der Popularisierung der Erkenntnisse der „Westforschung“ darstellte, und schließlich das Deutsch-Niederländische Forschungsinstitut an der Universität zu Köln, 1931 gegründet und Vorläufer des heutigen Instituts für Niederländische Philologie. Der letzte Artikel, der im Wesentlichen aus den Erinnerungen einer damaligen Mitarbeiterin, Marta Baerlecken (geb. Hechtle), besteht, fällt aus dem Rahmen der übrigen Beiträge heraus. Er ermöglicht zwar interessante Innenansichten des damaligen Wissenschaftsbetriebes, reflektiert aber auch persönliche Enttäuschungen und ist mit Blick auf ihre Einschätzung von Personen wie dem ersten Direktor Friedrich von der Leyen oder Franz Petri kritisch zu lesen.
V. Der vierte Teil des Sammelbandes behandelt in biografischen Skizzen noch einmal einzelne „Westforscher“. Karl Ditts Beitrag über Franz Petri stellt eine aktualisierte Fassung seines 1996 in den Westfälischen Forschungen erschienenen Aufsatzes dar. Er betont den historischen Hintergrund des Kulturraumkonzepts von Petri, die Gegenwartsbezogenheit seiner Forschungen, analysiert die Habilitationsschrift und widmet sich den Aktivitäten Petris in der Militärverwaltung in Belgien. Eine Politisierung seines Konzepts im Sinne konkreter Grenzverschiebungen sieht Ditt erst ab 1942. Zudem hält er ausdrücklich an dem zeitgenössisch innovativen Charakter des Kulturraumforschungskonzepts sowie dem Konzept historisch prägender Räume und der interdisziplinären Methodik mit der empirisch-statistisch-kartografischen Arbeitsweise fest. Nach 1945 wurden die theoretischen Defizite dieses Konzepts deutlicher, die schließlich die Kulturraumforschung ungeachtet der Nachkriegskarrieren Steinbachs und Petris ins Abseits führten.
Weitere Beiträge behandeln den Kölner Mediävisten Gerhard Kallen, der sich in den 1930er-Jahren mit „völkisch“ orientierten und frankreichkritischen Publikationen hervortat und einer der Förderer Petris war, den Bonner Kunsthistoriker und Nationalsozialisten Alfred Stange, der sich ab 1935 wissenschaftspolitisch und publizistisch im Sinne des Regimes engagierte und dessen Aktivitäten in Frankreich und den Benelux-Staaten im Zweiten Weltkrieg im Zusammenhang mit dem Kunstraub von Interesse sind, und dem wissenschaftlichen Werk des Bonner Historikers Leo Just, der sich thematisch im Umfeld der Grenzlandforschung bewegte, aber im „Dritten Reich“ ein opportunistischer Außenseiter blieb. Helmut Gabel behandelt mit Christoph Steding, dem 1938 verstorbenen NS-Historiker und Schützling Walter Franks, einen Sonderfall der „Westforschung“, denn Stedings Hauptwerk über „das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur“ bemüht sich gerade nicht um den Nachweis gemeinsamer Bande zwischen Deutschland und den kleinen westlichen Nachbarstaaten, sondern sucht die Konfrontation mit den „Reichsfeinden“, namentlich der Schweiz und den Niederlanden.
Jan Zimmermann widmet sich dem Hamburger Kaufmann und Mäzen Alfred Toepfer. Toepfers 1931 gegründete Stiftung F.V.S. war Teil des außeruniversitären Netzwerkes der Volkstumsforschung und zeichnete seit 1935 mit dem Rembrandt-Preis und dem Joseph von Görres-Preis Künstler und Wissenschaftler im Umfeld der „Westforschung“ aus. Nur losen Bezug zum Thema hat Peter Jan Knegtmans’ Aufsatz über den niederländischen Germanisten und Kollaborateur Jan van Dam, der ab November 1940 Generalsekretär des niederländischen Unterrichtsministeriums war. Joachim Lerchenmueller greift schließlich noch einmal den Fall Schneider/Schwerte und dessen Aktivitäten in den Niederlanden seit den 1930er-Jahren auf.
Bernd-A. Rusinek diskutiert abschließend am Beispiel des Bonner Instituts für geschichtliche Landeskunde Fragen der Kontinuität der „Westforschung“. Er sieht sie in Personen und Programmen ebenso wie in der Politiknähe, in bestimmten ideologischen Schnittmengen – Antikommunismus und Europaideologie – und in allgemeinen Strukturen von Wissenschaft und Forschungsorganisation über drei gegensätzliche politische Systeme hinweg als gegeben. Damit geht es ihm nicht um die Aufdeckung einer nationalsozialistischen „Kontaminierung“ einzelner Personen oder Themen, sondern um wissenschaftsgeschichtliche „Flugbahnen“, die sich mindestens von den 1920er-Jahren bis in die Bundesrepublik hinziehen und sich je nach Blickwinkel sogar bis weit ins neunzehnte Jahrhundert zurückverfolgen lassen. Dies nimmt der Debatte manches von ihrer Aufgeregtheit und eröffnet zugleich interessante neue Perspektiven. „Westforschung“ erscheint bei Rusinek weniger als innovativer Ansatz denn als wissenschaftliche Sackgasse, weil die „Westforscher“ selbst in vorgezeichneten Bahnen verharrten und sich als unfähig erwiesen, auf intellektuelle Anregungen und kulturelle Umbrüche angemessen zu reagieren.
VI. Welche übergeordneten Ergebnisse lassen sich nun nach der Lektüre von 1.200 Seiten Text festhalten? Die Herausgeber haben der Beantwortung dieser Frage – auch vor dem Hintergrund des Buches von Derks – explizit verweigert und überlassen sie ihrem Publikum. Zunächst macht der Band deutlich, dass die „Westforschung“ kein einheitliches Programm war, das zentral gelenkt wurde und eine klare wissenschaftliche oder politische Zielrichtung hatte. Die Beiträge illustrieren im Gegenteil die Heterogenität der Motive, Themen und Methoden und das schier undurchdringliche Geflecht der Organisationen, Institute und Personen, in denen bestimmte Institutionen wie die Bonner Universität und Schlüsselfiguren wie die Historiker Steinbach und Petri, der Vorgeschichtler Tackenberg oder auch der ominöse Hans Ernst Schneider Hauptrollen spielten und in vielen Funktionen begegneten. Andererseits machen aber die Aufsätze über Nebenaspekte und Randfiguren erst die ganze Bandbreite der „Westforschung“ deutlich.
Zweitens ist wichtig, dass die Kulturraumforschung, als die sich die „Westforschung“ verstand, keineswegs ein rein deutsches Phänomen war und auch nicht ausschließlich auf politische Hintergründe, wie die Niederlage im Ersten Weltkrieg und die Folgen des Versailler Vertrages zurückzuführen ist. Themen und Methoden hatten ihre Vorläufer im neunzehnten Jahrhundert und fanden sich in den 1920er und 1930er-Jahren auch im westeuropäischen Ausland. In Belgien bzw. Flandern lassen sich sogar ähnlich intensive politische Bezüge wie in Deutschland feststellen. Dagegen fehlt der belgischen wie der niederländischen – und auch der französischen – Kultur- und Grenzlandforschung die expansive Dimension, die sie in Deutschland immer stärker annahm. Weder in Frankreich noch in den Benelux-Staaten bemühte man sich um den Nachweis von Volkstums- und Sprachgrenzen, um damit einer Verschiebung von Staatsgrenzen vorzuarbeiten.
Trotz dieses expansiven Charakters, der spätestens mit dem Kriegsbeginn im Westen ab 1940 – teilweise unter direkter Mitwirkung der „Westforscher“ – von deutscher Seite in konkrete Politik umgesetzt wurde, fehlt im Westen die Dimension rücksichtsloser Gewalt. Dies räumen so unterschiedliche Autoren wie Fahlbusch (S. 584) und Ditt (S. 938) gleichermaßen ein. „Westforscher“ wurden nicht zu „Vordenkern der Vernichtung“ (Aly, Heim) – es ging um Kollaboration und Verschmelzung, nicht um Auslöschung und Völkermord. Reste von Respekt vor den kulturellen Leistungen und der Eigenständigkeit der Niederländer, Flamen und Wallonen und auch der Franzosen blieben auch bei den politisch engagiertesten „Westforschern“ erhalten. Dies wiederum ermöglichte vielen von ihnen nach 1945 eine relativ geräuschlose Überleitung ihrer Positionen in eine Europa- und Abendlandideologie, die in mehreren Beiträgen kurz gestreift wird, aber noch intensiver zu untersuchen wäre.
In historiografischer Perspektive macht der Band zudem einmal mehr deutlich, wie wertvoll die Verknüpfung von biografischen, ideengeschichtlichen und institutionengeschichtlichen Ansätzen ist, die sich in den letzten Jahren in der Geschichte der Geschichtsschreibung zunehmend durchsetzt. Anders wäre ein Phänomen wie die „Westforschung“, deren Vertreter vielfach als Wissenschaftler „neuen Typs“ erscheinen, die sich gleichermaßen in Wissenschaft und Lehre, populärer Publizistik, Forschungsorganisation und Politikberatung sowie schließlich im Zweiten Weltkrieg als Teil der deutschen Besatzungsverwaltung im Westen bewegten, nicht zu erfassen.
Kritisch anzumerken bleiben bei der Gesamtkonzeption Überschneidungen, auch wenn diese von den Herausgebern mit der „ubiquitären Präsenz einzelner Personen und Institutionen“ sachlich begründet werden, und manche Ungleichgewichtigkeiten bei den behandelten Themen und Personen. Wieso werden etwa Franz Petri oder Hans Erich Schneider in mehreren eigenen Beiträgen mit vielen inhaltlichen Doppelungen ausführlich gewürdigt, während man biografische Skizzen Hermann Aubins, Theodor Frings’ und selbst Franz Steinbachs vergeblich sucht? Warum behandeln mehrere Beiträge das Bonner Institut, aber findet sich z.B. kaum etwas über das Münsteraner Provinzialinstitut für Landes- und Volksforschung oder das Kölner Institut für Raumpolitik Martin Spahns? Insgesamt hat der „Griff nach dem Westen“ damit eher den Charakter einer Anthologie als einer Enzyklopädie und bietet trotz seines Umfangs noch reichlich Raum für weitere Untersuchungen.
Können aus den Ergebnissen des Projektes nun Argumente für oder gegen eine Aktualisierung der Kulturraumforschung im Sinne Horst Lademachers gewonnen werden? Die Antwort darauf lässt der Band offen. Rusineks Schlussbeitrag macht einige der Schwierigkeiten deutlich, die sich dabei stellen. Jedenfalls bietet „Griff nach dem Westen“ für die weitere Diskussion auch dieser Fragen nun eine historische Materialgrundlage, wie sie für wenige andere Forschungsrichtungen und Fächer zur Verfügung steht.
Anmerkungen:
1 Vgl. bereits Oberkrome, W., Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945, Göttingen 1993, speziell zur „Westforschung“ S. 32-35, 61-73, 151-154, 203-210, 217-219; Ditt, K., Die Kulturraumforschung zwischen Wissenschaft und Politik. Das Beispiel Franz Petri (1903-1993), in: Westfälische Forschungen 46 (1996), S. 73-176; Schöttler, P., Die historische „Westforschung“ zwischen „Abwehrkampf“ und territorialer Offensive, in: ders. (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918-1945, Frankfurt am Main 1997, S. 204-261; ders., Von der rheinischen Landesgeschichte zur nazistischen Volksgeschichte oder Die „unhörbare Stimme des Blutes“, in: Schulze, W.; Oexle, O. G. (Hgg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1999, S. 89-113; Dietz, B., Die interdisziplinäre „Westforschung“ der Weimarer Republik und NS-Zeit als Gegenstand der Wissenschafts- und Zeitgeschichte. Überlegungen zu Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: Geschichte im Westen 14 (1999), S. 189-209.
2 Vgl. Derks, H., Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert, Leipzig 2001, rezensiert für H-Soz-u-Kult von Michael Fahlbusch, 27.6.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/ZG-2002-085> und Karl Ditt, 3.12.2002, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=2314> [auch in Westfälische Forschungen 52 (2002)] mit einer Erwiderung von Hans Derks, 5.2.2003, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=2314> Replik am Ende der Rezension). Weitere Rezensionen erschienen in der Süddeutschen Zeitung (F.-R. Hausmann, 3. Juni 2002) und in Geschichte im Westen 17 (2002) (Ulrich Tiedau). Vgl. außerdem zu Derks im vorliegenden Band die Bemerkungen bei Rusinek (S. 1159-1165).