Steffen Bruendel legt mit seiner in Bielefeld entstandenen Dissertation eine Neubewertung der „Ideen von 1914“ und der deutschen „Intellektuellendiskussionen“ während des Ersten Weltkriegs vor. Er untersuchte ca. 400 Kriegsschriften von ca. 150 „Intellektuellen“, unter denen er im Wesentlichen „Gelehrte“, meist Universitätsprofessoren versteht (S. 14). Zur Definition dieser Gruppe greift er auf eine Definition von Reiner Lepsius zurück: „Angehörige der Intelligenz werden. [...] nur dann zu ‚Intellektuellen’, wenn sie am Verhalten von Personen, Gruppen und Institutionen öffentlich, außerhalb ihres fachlichen Zuständigkeitsbereichs sowie unter Bezugnahme auf allgemeine Werte und Normen der Gesellschaft Kritik üben.“ (S. 12) Daraus wird klar, was Bruendel mit seiner Untersuchung leisten will: Nämlich nicht nur die Ansichten der „Intelligenz“ darzustellen, sondern auch etwas über die Normen und Werte der deutschen Gesellschaft und deren Wandel im Ersten Weltkrieg in Erfahrung zu bringen, wobei unter anderem die „Kontinuitätsthese“, der Übergang vom Kaiserreich zu den späteren Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, auf dem Prüfstand steht.
Zu den 150 Gelehrten gehören unter anderem Erich Brandenburg, Ernst Cassirer, Hans Delbrück, Albert Einstein, Otto Hahn, Johannes Haller, Otto Hintze, Friedrich Meinecke, Max Planck, Dietrich Schäfer, Max und Alfred Weber. Sie stellen nur einen Ausschnitt aus dem Gelehrtenspektrum dar; Bruendel schätzt, dass es 1910 etwa 4.500 - 5.000 Professoren in Deutschland gegeben habe ( S. 14). Intellektuelle aus dem außeruniversitären Umfeld fehlen – hier wäre beispielsweise an Persönlichkeiten aus dem politischen oder journalistischen Raum, wie Theodor Wolff oder Rosa Luxemburg zu denken. Die von ihm untersuchte Gruppe stellt auch nur einen kleinen Ausschnitt aus der gesamten „Gelehrtenrepublik“ dar und auch die von ihm herangezogenen Schriften sind nur ein Bruchteil des vorhandenen Materials. Der Philosophiehistoriker Kurt Flasch, der kürzlich zum gleichen Thema eine Untersuchung vorgelegt hat 1, bereitet derzeit eine Bibliografie von Kriegsschriften vor, die bisher 13.001 Titel enthält (S. 14). Die hier berücksichtigten Gelehrten und Schriften stellen also ca. drei Prozent der Gelehrten und der Publikationen dar.
Trotzdem: Was in der Sozialgeschichte recht ist – nämlich aus der unüberschaubaren Datenflut eine Auswahl zu treffen - , muss auch in der Ideengeschichte billig sein. Bruendels Material reicht für einen beispielhaften Überblick über die Gelehrtenrepublik aus und zumindest der Rezensent ist der Ansicht, dass sich bei erheblich größerer Materialauswertung das hier gezeichnete Bild nur in Details verschieben wird.
Die Arbeit versteht sich als Analyse des „politischen Kommunikationsprozesses“ der Ideen von 1914, die „im Rahmen einer kulturgeschichtlich erweiterten Sozialgeschichte untersucht werden, welche die kognitive Struktur und die Diffusionschance der Ideen in sich verändernden Handlungskontexten akzentuiert“ (S. 22). Es handelt es sich um eine Art moderner, an Max Webers entsprechender Definition aus der „Religionssoziologie“ orientierter Ideengeschichte. Bruendel berücksichtigt die Entstehungsgeschichte und den Entstehungszeitraum der analysierten Schriften und entgeht damit dem typischen Dilemma der klassischen Ideengeschichte, Quellenaussagen aus dem Kontext zu reißen, sie dann zusammenzuwerfen und damit bisweilen inhaltlich zu verfälschen.
Bruendel berücksichtigt den Hintergrund des Ersten Weltkrieges und die Wandlungen der Ideen und sieht sie und die Gelehrten, die sie vertreten, nicht statisch, sondern in einem dynamischen Prozess steter Veränderung. Er wertet seine Quellen systematisch aus und setzt die gewonnenen Aussagen mosaikartig zu mehreren, sich während des Krieges weiterentwickelnden Gesamtbildern zusammen.
Seine Untersuchung beginnt bei Kriegsausbruch mit dem Entstehen der „Ideen von 1914“, dem „polemischen Gespräch“ mit den „Feinden“ und der Zurückweisung alliierter Kritik an Deutschland und dem Verhalten der deutschen Truppen. Die Stimmung unter den Gelehrten wurde durch das Gefühl bestimmt, gegenüber den äußeren – militärischen wie moralischen - Angriffen die innere Einheit wahren zu müssen.
Bruendel wendet sich nun nicht ausschließlich den außenpolitischen Fragen und den Kriegszielen zu, sondern legt ein besonderes Augenmerk auf die Frage der inneren Neuordnung Deutschlands. Er zeigt, dass kaum jemand unverändert am alten System festhalten wollte. Sowohl auf der rechten wie auf der linken Seite des politischen Spektrums wurden Reformen für nötig empfunden, Reformen, die vor allem die plötzlich gewonnene innere Einheit bewahren sollten.
Einen wichtigen Wendepunkt sieht er im Jahr 1916, obwohl man aus seiner eigenen Darstellung viele, vielleicht sogar bessere Gründe für eine Zäsur im Jahre 1917 herausdestillieren könnte. So führt Bruendel aus, dass die Gliederung der Gelehrtengruppen sich ganz wesentlich an der Kanzlerschaft Bethmann Hollwegs festmachen lasse. Die eine, größere Gruppe lehnte den Kanzler scharf ab, die andere, kleinere, gemäßigtere, hielt an ihm fest. Ab Sommer 1917 wurde dann die Frage des Friedensangebotes des Reichstags und die Bewertung der Politik der Reichstagsmehrheit zu einem Hauptunterscheidungspunkt.
Bruendel nennt die beiden, 1916/17 entstehenden Gruppen „Volksbund“- bzw. „Vaterlandsgruppe“ (S. 151f.). Die kleinere Gruppe, benannt nach dem „Volksbund für Freiheit und Vaterland“, trat für einen „Volksstaat“ ein, das heißt, unter nachdrücklicher Betonung deutscher Besonderheiten, für eine demokratischere innere Ordnung Deutschlands. Ihre Kriegsziele waren vergleichsweise gemäßigt. Hingegen kündigte die andere Gruppe, die ihren Zusammenhalt in der Deutschen Vaterlandspartei fand, die innere Einheit letztlich auf und befürwortete eine exklusive, verschiedene Gruppen ausschließende Volksgemeinschaft.
Bruendel zeigt, dass die Verengung der Gelehrtendiskussion auf die Kriegsziel- und Annexionsdebatte fehlgeht und dass so die weitreichenden innenpolitischen Reformanliegen nicht ausreichend berücksichtigt werden (S. 20). Er arbeitet auch immer wieder Gemeinsamkeiten und Querlinien im Denken zwischen den beiden Gruppen heraus (z.B. in der Frage der Kriegsziele gegenüber Russland, siehe S. 223f.). Gelehrten aus beiden Lagern war beispielsweise, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, eine allergische Abneigung gegen die Demokratie nach westlichem Vorbild eigen. So sprach Friedrich Meinecke von der „Deutschen Freiheit“, meinte, Deutschland sei „nun einmal nicht zur einen Demokratie geschaffen“ (S. 266) und dachte über ein Pluralwahlrecht nach (S. 260, 269) Und Plenge redete von einem „nationalen“, einem nichtmarxistischen Sozialismus, der die Klassengesellschaft negierte und das Gemeinschaftserlebnis verewigen sollte (S. 265).
Auch in der Kriegszielfrage war es eher eine Frage des Maßes als der prinzipiellen Unterschiede, die beide Gruppen trennte. Zwar betonten die der Vaterlandspartei nahe stehenden Gelehrten, wie etwa der Historiker Schäfer, immer wieder die Machtfrage (z.B. S. 230) und verlangten deshalb einen Siegfrieden. Aber auch die Volksbundgelehrten waren nicht gerade bescheiden. Hans Delbrück verlangte umfangreichen Kolonialbesitz in Afrika (S. 226f.) und empfand es als ehrenrührig, dass er als Verzichtpolitiker dargestellt wurde (S. 228).
Bruendel beschönigt dabei nichts, unternimmt aber insofern eine Neubewertung, als er die Diskussion hier nicht enden lässt. Er bewertet auch die Rechtsintellektuellen (dazu S. 152f.) vergleichsweise freundlich. Statt die Gelehrten pauschal als blinde Nationalisten, als innenpolitische Reaktionäre und Annexionisten abzutun und in ihnen geistige Vorbereiter des Nationalsozialismus zu sehen, sucht er hartnäckig nach dem rationalen Urgrund in ihren außen- wie innenpolitischen Ordnungsvorstellungen und sieht immer wieder ernst gemeinte innenpolitische Reformanliegen. Niemand, weder rechts noch links, wollte eine Rückkehr zu den politischen Verhältnissen des Kaiserreichs, weswegen Bruendel 1914 als den entscheidenden Bruch zur Vorkriegspolitik bewertet, und nicht erst die Revolution 1918 (S. 28). Alle Bestrebungen liefen, wenn auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen, auf die Überwindung der innenpolitischen Fraktionierung des Kaiserreichs hinaus. Da Bruendel sehr differenziert argumentiert, ist es im übrigen auch nicht einfach, seine Ergebnisse in einfachen Faustformeln zusammenzufassen.
Die Gelehrten und die „Ideen von 1914“ sind schon mehrfach untersucht worden, so etwa von Kurt Flasch 1, Klaus Schwabe 2, Wolfgang J. Mommsen 3 oder Jürgen und Wolfgang von Ungern-Sternberg 4. Deshalb drängt sich die Frage auf, warum Bruendel sich ausgerechnet diesem Gegenstand zugewendet hat. Sicher, die Grundzüge der hier dargestellten Gelehrtendebatten sind durch die bereits vorliegenden Arbeiten bekannt. Der Tenor aber ist neu und schließt an neuere Arbeiten zur Innenpolitik im Weltkrieg, wie etwa Heinz Hagenlückes Arbeit über die Vaterlandspartei 5 an. Hagenlücke deutete, bei schärfster Kritik an Leuten wie Kapp, die Vaterlandspartei nicht als protofaschistoide Organisation; Bruendel, bei anderer Akzentuierung, verweigert sich ebenfalls weitgehend der Kontinuitätstheorie und sieht die „Ideen von 1914“ nicht als den Ursprung nationalsozialistischen oder protofaschistoiden Gedankenguts.
Bruendel liefert eine sorgfältig und sachlich argumentierende Studie, die in ihren Deutungen von den bisher vorliegenden Untersuchungen abweicht. Er setzt aus bekannten Einzelteilen ein in vielen Wertungen neues, oftmals überzeugendes Bild zusammen. Allerdings stößt, nach Ansicht des Rezensenten, die Beschränkung auf eine methodisch sorgsam durchdachte Neubewertung des Bekannten bisweilen an ihre Grenzen. Es will sich, weil allzu viele Einzelteile dieses Puzzles allzu genau bekannt sind und keine neuen Quellen benutzt werden, keine wirkliche Überraschung beim Lesen einstellen. Trotz der neuen Zusammensetzung und Bewertung der Quellen, beim Lesen ist das déja-vu Erlebnis überstark. Hinzu kommt, dass gerade der Ansatz Bruendels, die dynamischen Veränderungen der Ideen zu zeigen, die Darstellung notwendigerweise fraktioniert. Er handelt Argument nach Argument im Wandel der Zeiten und zwischen den Gruppen von Gelehrten ab. Dies ist kein flüssig zu lesendes Buch.
Ein nützliches allerdings schon. Die Arbeit hat wissenschaftlich ihren Wert, nicht zuletzt als weiteres Element in der historiografischen Neubewertung des Kaiserreichs und auch der deutschen Gesellschaft im Ersten Weltkrieg, die, frei von Apologetik, von der überscharfen Verurteilung und Distanzierung der Nach-Fischer-Ära weg- und zu einer sachlichen, abwägenden Betrachtung, einer „Historisierung“ des Kaiserreichs hinführt.
Anmerkungen:
1 Flasch, Kurt, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000.
2 Schwabe, Klaus, Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969.
3 Siehe, unter zahlreichen weiteren Aufsätzen zum Thema: Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 34), München 1996; Ders., Der Geist von 1914. Das Programm eines politischen Sonderweges der Deutschen, in: Ders., Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des deutschen Kaiserreiches, Frankfurt am Main 1992, S. 407-421.
4 von Ungern Sternberg, Jürgen und Wolfgang, Der Aufruf: „An die Kulturwelt!“. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996.
5 Hagenlücke, Heinz, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches, (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 108), Düsseldorf 1997.