S. Malinowski: Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat

Titel
Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat


Autor(en)
Malinowski, Stephan
Reihe
Elitenwandel in der Moderne 4
Erschienen
Berlin 2003: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
660 S.
Preis
€ 59,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Franke, Deutsches Adelsarchiv, Marburg

Wenn man an den deutschen Adel zwischen Kaiserreich und Drittem Reich denkt, dann kommt einem der endgültige Verlust der adeligen Sonderrechte infolge der Weimarer Reichsverfassung in den Sinn. Und für die Zeit des Dritten Reiches assoziiert man den Adel mit dem 20. Juli als einen wesentlichen Träger des Widerstandes gegen Hitler. Abseits dieser Schlagwörter lässt sich ein weitgehender Mangel von detaillierten Untersuchungen zur sozialen Entwicklung und zum politischen Handeln des deutschen Adels konstatieren. Diesem Mangel will die Dissertation von Stephan Malinowski abhelfen.

Die Arbeit fußt auf einer Auswertung von zahlreichen ungedruckten Quellenbeständen, welche in 30 öffentlichen Archiven ausgewertet worden sind. Darüber hinaus hat Malinowski in zwei Bestände, welche sich in Privatbesitz befinden, Einsicht nehmen können. Außerdem wertet er umfangreiches gedrucktes Quellenmaterial, wobei vor allem konservative und adelige Zeitschriften wie das Deutsche Adelsblatt oder die Süddeutschen Monatshefte herangezogen worden sind, sowie ein von ihm erstelltes Sample mit biografischen Daten aus.

Zu Beginn der Untersuchung von Stephan Malinowski steht eine Ermittlung und Definition der zu untersuchenden Bevölkerungsgruppe, die sich seiner Ansicht nach um 1920 aus etwa 80.000 Personen zusammensetzte. Die Binnendifferenzierung der Gruppenangehörigen wird einerseits durch die Dauer der Zugehörigkeit einer Familien zum Adelsstand unternommen: Es wird in den sogenannten „Uradel“, also jenen Familien, welche vor 1400 dem deutschen Adel angehörten und dem sogenannten „Briefadel“, den adeligen Familien, die seit Anfang des 15. Jahrhunderts bis zum Ende der Monarchie urkundlich in den deutschen Adel aufgenommen worden sind, unterschieden. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf den „alten Adel“, der vor 1800 in den Adelsstand erhoben worden ist. Und innerhalb dieses Konglomerats von Familien konzentriert sich die Untersuchung auf den landbesitzenden Adel. Der Autor zieht gelegentlich auch Familien heran, die im 19. Jahrhundert nobilitiert wurden. Die Mitglieder dieser Familien müssen durch ihre Berufswahl und durch das Konubium mit alten adeligen Familien eine Assimilierung mit den traditionellen Adelsfamilien einer Region bzw. den adeligen Wertvorstellungen erkennen lassen. Eindeutig ausgeschlossen werden die im 19. Jahrhundert nobilitierten Unternehmer, Bankiers oder Künstler, die sich nach Malinowskis Beobachtung noch weitestgehend bürgerlicher Verhaltensweisen bedienten. Weitergehende Differenzierungen innerhalb der Gruppe des Adels ergeben sich durch die Aufteilung in sogenannte „Grandseigneurs“ (Angehörige des Adels, die oftmals Großgrundbesitz oder anderes Vermögen besaßen, mit dem eine standesgemäße Lebensführung sichergestellt werden konnte), in den „Kleinadel“ (Familien vorwiegend ohne Gutsbesitz mit beschränkten ökonomischen Ressourcen, deren Mitglieder unterschiedlichste Positionen in Verwaltung und Militär besetzten) und schließlich das so bezeichnete „Adelsproletariat“, das sich aus adeligen Frauen und Männern zusammensetzte, die ihre Existenz zumeist in niederen Anstellungen sichern mussten und während der Weimarer Republik häufig auf staatliche oder private Transferzahlungen zur Existenzsicherung angewiesen waren.

Im zweiten Teil der Arbeit beleuchtet Malinowski die verschiedenen Grundströmungen innerhalb des Adels. Bei der kleineren, aber reichen und mächtigen Gruppe der Grandseigneurs machte sich eine Annäherung zur Spitze des Bürgertums bemerkbar. Als verbindendes Element dienten häufig die Angehörigen der jüdischen Bourgeoisie. Doch eine Verbindung von wohlhabendem Adel und wirtschaftlich und politische erfolgreichem Bürgertum scheiterte nicht zuletzt an der sozialen Kluft zwischen der zahlenmäßig sehr starken Gruppe des Kleinadels und den bürgerlichen Eliten. Malinowski konstatiert für den Kleinadel eine starke Tendenz zum Antisemitismus, der zugleich bürgerliche Wertvorstellungen ablehnte.

In den beiden folgenden Teilen befasst sich Malinowski mit der Zeit nach der Revolution von 1918/19, die seitens des Adels als traumatische Katastrophe empfunden wurde. Es werden deutliche Unterschiede in den verschiedenen Generationen herausgearbeitet: Die älteren Jahrgänge zogen sich resignierend zurück, wohingegen bei den jüngeren Generationen eine Zuspitzung im antisemitischen Denken und eine Zunahme der Gewaltbereitschaft festzustellen ist. Die Mehrzahl des Adels musste die Erfahrung eines rasanten sozialen Abstiegs machen. Nur noch eine Minderheit konnte in den traditionellen Berufsfeldern, d.h. in der Landwirtschaft, im Staats- und im Militärdienst, Leitungsfunktionen besetzen. Für einen Großteil des Adels war die Zeit nach 1918 durch eine erzwungene Annäherung an das Kleinbürgertum gekennzeichnet: Unsichere und häufig wechselnde Beschäftigungsverhältnisse waren symptomatisch für die Situation dieser Bevölkerungsgruppe. Oftmals war der Adel auch auf standesinterne Beistand zur Sicherung des Existenzminimums angewiesen. Damit war die soziale Situation durch einen schnellen sozialen Abstieg verbunden mit einer Annäherung an kleinbürgerliche Verhältnisse gekennzeichnet. Ganz im Gegenteil hierzu standen die Diskussionen über die gesellschaftliche Rolle des Adels, der sich immer noch als gesellschaftliche Elite, welcher zur Führung bestimmt ist, verstand. Eine Anpassung des adeligen Selbstverständnisses an die veränderte Realität hatte nach 1918 nicht stattgefunden und die andauernden Führerdiskussionen innerhalb des konservativen Milieus führte laut Malinowski zu einer ideellen Annäherung zwischen dem Adel und der NS-Bewegung.

Im vierten Teil der Untersuchung beschäftigt sich Malinowski mit verschiedenen Adelsorganisationen und versucht Differenzierungen innerhalb des Adels aufzuzeigen. Dabei werden im Wesentlichen zwei Grenzlinien beschrieben: neben der sozialen Situation - armer bzw. reicher Adel - werden auch regional-konfessionelle Unterschiede als trennende Faktoren innerhalb des Adels ermittelt. In der Deutschen Adelsgenossenschaft (DAG) lässt sich eine Trennung zwischen Süden und Osten aufzeigen. Der ostelbische Adel wurde zunehmend durch rechtsradikales Gedankengut beeinflusst. Dagegen war der süddeutsche Adel - materiell oftmals besser ausgestattet als seine ostelbischen Standesgenossen - politisch stärker mit dem anerkannten Thronanwärter verbunden und aufgrund einer ausgeprägten Bindung an den Katholizismus weniger anfällig für rassistische und militärische Inhalte. Andere Interessenorganisationen wie der Verein der Standesherren und eine Reihe von regionalen Grundbesitzervereinen agierten als Interessensverbände. Ihr Handeln war nach den Ausführungen von Malinowski zweifelsohne antidemokratisch und gegen die Weimarer Republik gerichtet. Im Unterschied zu anderen Adelsorganisationen blieben diese Vereine jedoch kompromissfähig und beteiligten sich nicht an den Führerdiskussionen und antisemitischen Agitationen, wie sie in der DAG gepflegt wurden. Darüber hinaus betrachtet Malinowski auch die sogenannte Ring-Bewegung, in der eine adelige und bürgerliche Oberschicht, die sich durch Leistung, Reichtum und politischen und wirtschaftlichen Einfluss kennzeichnete, zusammentraf. Eine antisemitische und antiparlamentarische Tendenz weist Malinowski auch für diese adelig-bürgerliche Bewegung nach. Schließlich wendet sich Malinowski auch dem republikanisch orientierten Vertretern des Adels zu, wobei er hier die Lebensgeschichten von unbekannteren Vertretern des Adels wie z.B. dem Sozialdemokrat Kurt Freiherr v. Reibnitz oder dem republikanisch gesonnenen Hubertus Prinz v. Löwenstein-Wertheim-Freundenberg knapp nachzeichnet. Die von Malinowski dargelegten Beispiele lassen jedoch nicht die Schlussfolgerung zu, dass der Adel sich in nennenswertem Umfang an der Etablierung einer republikanischen und demokratischen Staatsform beteiligt hätte.

Im fünften und letzten Teil der Dissertation beschäftigt sich Malinowski mit dem Verhältnis von Adel und Nationalsozialismus. Ebenso wie im vierten Teil wird auch wieder zwischen reichem und armen Adel, sowie zwischen den ostelbischen und süddeutschen Vertretern differenziert. Auf ideologischem Gebiet gab es Übereinstimmungen in Bezug zum propagierten Antikapitalismus und zur Antibürgerlichkeit. Die Kongruenz der Interessen erstreckte sich auch auf die Wiederaufrüstung, die „Säuberung“ der Bürokratie und der Expansion im Osten, welche die Chancen des Adels für eine Karriere oder ein zumindest auskömmliches Leben ganz erheblich steigerte. Die Möglichkeiten für einen erfolgreichen beruflichen (Wieder-)aufstieg wurde auch vom Adel schon vor 1933 erkannt und seit 1930 setzte ein erheblicher Zustrom des Adels in die NSDAP, SA und SS ein. Bei den ostelbischen Adelsfamilien ist der Zulauf in die verschiedenen Organisationen der nationalsozialistische Bewegung sehr ausgeprägt. Entschieden zurückhaltender war der altbayerische Adel, der ein sehr distanziertes Verhältnis zum Nationalsozialismus pflegte. Eine Tätigkeit im politischen Widerstand erwuchs hieraus aber in den seltensten Fällen.

Die Stärke der Dissertation von Stephan Malinowski liegt in einem ausgiebigen Quellenstudium von verschiedenen Aktenbeständen unterschiedlicher adeliger oder adelsnaher Interessensorganisationen und den daraus abgeleiteten Ergebnissen. Trotz des vollständigen Verlustes des Aktenmaterials der Deutschen Adelsgenossenschaft, welches im November 1943 durch einen Bombenangriff auf die Berliner Hauptgeschäftsstelle vernichtet worden ist, kann Malinowski eindrucksvoll die herrschenden Grundströmungen und die regionalen und sozialen Kontraste innerhalb der Adelsgenossenschaft herausarbeiten. Die zunehmende Radikalisierung im Adel aufgrund der angespannten wirtschaftlichen und sozialen Lage, sein Bündnis mit der nationalsozialistischen Bewegung und deren Einrichtungen werden eingehend analysiert. Hervorzuheben ist auch, dass sich der Autor auch weitere Organisationen mit ausschließlich adeligen Mitgliedern wie z.B. den Verein der Standesherren, oder aber auch den Grundbesitzerverbänden, in denen der Adel eine dominierende Rolle spielt, zuwendet. Durch diese breite Untersuchungsebene gelingt es, ein vielschichtiges Bild der politischen und ideologischen Ausrichtung der unterschiedlichen Interessensorganisationen, in denen der Hoch- und Kleinadel vertreten war, nachzuzeichnen.

Die von Malinowski zusätzlich eingeführte Systematisierung nach dem Zeitraum der Zugehörigkeit zum Adel der jeweiligen Familie erweist sich als wenig brauchbares Kriterium für die weitere Analyse. Auf der einen Seite sollen nur die Familien in die Untersuchung einbezogen werden, die bis etwa 1800 in den Adelsstand erhoben worden sind. Diese Beschränkung wird im Folgenden wieder aufgehoben, da Familien, die im 19. Jahrhundert nobilitiert worden sind, in die Analyse einbezogen werden können. Kriterien für die Berücksichtigung dieser Familien sind das Konnubium und die Berufswahl, die sich an den traditionellen Formen des Adels orientieren sollen. Die gerade mühevoll aufgebaute Differenzierung wird durchbrochen und konkrete Belege für die Assimilation der Adelsfamilien, die im 19. Jahrhundert nobilitiert worden sind und in der Untersuchung berücksichtigt werden, liefert Malinowski im weiteren Verlauf seiner Ausführungen nicht. Hier mangelt es an einer klaren und nachvollziehbaren Differenzierung zumal viele Familien, welche im 19. Jahrhundert nobilitiert worden sind, adeligere Verhaltensweisen an den Tag legen als solche Familien, die dem sogenannten Uradel angehören. Diese Unterscheidung wird im Verlauf der Untersuchung für die Analyse des Gruppenverhaltens kaum herangezogen.

Als überzeichnet möchte der Rezensent schließlich die These des massiven sozialen Abstiegs großer Gruppen des Adels bezeichnen. Sicherlich sind im Deutschen Adelsblatt zahlreiche Anzeigen mittelloser Adeliger zu finden und auch die standesinternen Unterstützungsvereine konnten sich nicht über mangelnde Anträge bedürftiger Standesgenossen beklagen. Ob man jedoch von einem Absinken breiter Schichten des Adels in die Klasse des Kleinbürgertums sprechen kann, hält der Rezensent für überzeichnet, zumal ausreichende quantitative Belege für diese These nicht dargelegt werden. Hier wäre zumindest die statistische Auswertung einiger ostelbischer und bayerischer Familien angebracht gewesen. Ob sich jedoch der massive soziale Abstieg auch statistisch belegen lässt erscheint zweifelhaft, zumal in den genealogischen Reihenwerken bzw. den Familiengeschichten meist nur die höchste berufliche Position einer Person angegeben wird. Somit dürfte es schwierig sein, den wahren sozialen Abstieg in der Zeit der Weimarer Republik zu ermitteln.

Trotz dieser Einschränkungen ist die Dissertation von Stephan Malinowski als durchweg gelungen zu betrachten. Erstmals ist der deutsche Adel und insbesondere seine Interessensvertretungen einer eingehenden Untersuchung zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus unterzogen worden. Das Klischee vom aktiven Widerstand weiter Kreise des deutschen Adels gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft dürfte von nun an als überholt gelten. Wünschenswert wären weitere regionale Studien zur gleichen Thematik, so dass ein genaueres Bild über die soziale Konstellation und die politische Haltung des Adels entstehen kann.