Die auf Walter Hallstein und Wilhelm Grewe zurückgehende so genannten Hallstein-Doktrin vom 23. September 1955 war eine der zentralen Maximen der westdeutschen Außenpolitik in den 50er und 60er-Jahren. Die „Doktrin“, die freilich niemals doktrinär angewandt wurde, beruhte auf der Überzeugung, dass die frei gewählte Bonner Regierung die einzige legitime Vertretung des deutschen Volkes sei. Der damit verbundene Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik wurde in der DDR als „Alleinvertretungsanmaßung“ gebrandmarkt. Die mit der Hallstein-Doktrin verbundenen Sanktionen – der Abbruch der Beziehungen zu Staaten, die ihrerseits diplomatische Beziehungen mit der DDR aufnahmen – dienten dazu, eine Anerkennung der DDR zu konterkarieren. Über die Frage, ob diese Strategie erfolgreich war, hat sich bis heute in der Geschichtswissenschaft noch keine Einigung erzielen lassen: Eine Forschungsrichtung betont den Erfolg der Hallstein-Doktrin: Der DDR sei es bis Ende der 60er-Jahre nicht gelungen, die diplomatische Isolierung zu durchbrechen; die Bundesrepublik habe dann angesichts der gewandelten weltpolitischen Bedingungen die Doktrin, die ohnehin niemals sakrosankt gewesen sei, aus freien Stücken aufgegeben. Eine andere Forschungsrichtung bedauert demgegenüber die negativen Aspekte der Nichtanerkennungsmaxime. Ihre ebenso einfallslose wie vergebliche Anwendung habe zu einer Verhärtung der Fronten im Kalten Krieg beigetragen und das deutsch-deutsche Verhältnis über Jahrzehnte belastet.
Diese historiografischen Debatten sind keineswegs neu und spiegeln die politischen Streitigkeiten, die schon zeitgenössisch über Sinn und Zweck der Hallstein-Doktrin geführt worden sind. Das Ende des Kalten Krieges hat jedoch nicht nur eine unvoreingenommene Betrachtungsweise ermöglicht, sondern auch die Quellenbasis erheblich erweitert. Vor diesem Hintergrund bietet die vorliegende Arbeit von William Glenn Gray eine willkommene Gelegenheit, die bisherigen Positionen der Forschung auf ihre Plausibilität und Tragfähigkeit hin zu prüfen.
Grays aus den Quellen gearbeitete und kenntnisreiche Analyse hat gegenüber den bisherigen Studien zur Hallstein-Doktrin einen entscheidenden Vorteil. Sie geht über das deutsch-deutsche Verhältnis weit hinaus und betrachtet die „international dimensions of an intra-German conflict“ (S. 9). Entsprechend werden nicht nur die deutschen Archivalien und Veröffentlichungen herangezogen. Die Arbeit stützt sich vielmehr auf eine intensive Auswertung britischer, französischer und US-amerikanischer Quellen sowie der Literatur, die seit der Öffnung der östlichen Archive auf ein breites Fundament neuer Erkenntnisse zurückgreifen kann.
Die Betrachtung des deutsch-deutschen Konflikts aus dem Blickwinkel der Geschichtsschreibung des Kalten Krieges lässt zudem die Konturen der Auseinandersetzung deutlicher vor Augen treten: Die Anfang der 50er-Jahre noch vorherrschende Erwartung der ostdeutschen Diktatur, die Isolation aus eigener Kraft überwinden zu können und internationale Anerkennung zu finden, erwies sich als voreilig und geradezu naiv. Die Emissäre Ost-Berlins standen vor einer regelrechten Sisyphus-Aufgabe, weil alle Anstrengungen in der Anerkennungsfrage durch den politischen und wirtschaftlichen Druck Bonns sofort wieder zunichte gemacht wurden. Zudem war die handfeste Unterstützung der Bonner Nichtanerkennungspolitik durch die westlichen Alliierten ein Vorteil, dem die DDR wenig entgegenzusetzen hatte, weil der außenpolitische Beistand der Sowjetunion kaum mehr als halbherzig war. Gray argumentiert überzeugend, dass die aus einem Minderwertigkeitskomplex resultierenden, geradezu verzweifelten Versuche Ost-Berlins, diplomatische Beziehungen jenseits des sowjetischen Satellitengürtels aufzunehmen, den Handlungsspielraum der DDR unnötig einschränkten.
Demgegenüber gelang der Bundesrepublik bis weit in die 60er-Jahre die „ausgesprochen erfolgreiche Isolierung (S. 223) der DDR durch die Hallstein-Doktrin. Die westdeutsche Nichtanerkennungspolitik hatte, wie durch Grays Untersuchung deutlich wird, auch für die westlichen Alliierten beachtliche Vorteile: In Washington, Paris und London wurde die aus der deutsch-deutschen Rivalität resultierende starke Position Westdeutschlands in den blockfreien Staaten als willkommenes Bollwerk gegen den sowjetischen Einfluss begrüßt.
Der reputationsschädigende Bau der Mauer im Jahr 1961 behinderte zusätzlich das Bemühen um internationale Anerkennung, sodass Ost-Berlin auch in den 60er-Jahren gegen die Hallstein-Doktrin kein wirksames Gegenmittel fand. Weil die Bundesrepublik wirtschaftlich stärker war, brauchte sie im „diplomatischen Krieg“ 1 häufig nicht einmal ökonomische Druckmittel anzuwenden, um ihre Stellung zu behaupten. Selbst Werner Kilian, ein harscher Kritiker der Hallstein-Doktrin, hat konzediert, dass die Hallstein-Doktrin der DDR fast zwanzig Jahre lang den Zugang zur internationalen Gleichberechtigung versperrt hat. Grays Darstellung, die stärker die internationalen Dimensionen in den Blick nimmt, kann eher als eine Bestätigung der Sichtweise von Rüdiger Marco Booz gelten, der auf den erstaunlichen Erfolg der westdeutschen diplomatischen Manöver verwiesen hat.2 Auch neuere Arbeiten aus der Feder von Alexander Troche 3 und Michael Lemke 4 zeigen, wie erfolglos bis weit in die 60er-Jahre hinein das Bemühen des „zweiten deutschen Staates“ blieb, die geradezu verbissen angestrebte völkerrechtliche Anerkennung zu erreichen. Hermann Wentker hat den Forschungsstand zu diesen Zusammenhängen daher kürzlich ebenso knapp wie prägnant zusammengefasst: Die mit der Hallstein-Doktrin verfolgte Absicht einer politischen Isolation der DDR wurde „im großen und ganzen verwirklicht“ 5, bis die Bundesrepublik selbst auf ihre Anwendung verzichtete.
Die Vorteile der westdeutschen „Realpolitik“ (S. 224) à la Hallstein und Grewe mochten gegen Ende der 60er-Jahre vielen westlichen Beobachtern angesichts mancher Anerkennungserfolge der DDR in den Ländern der Dritten Welt als fragwürdig erscheinen. Die Endphase der Entkolonisierung hatte besonders auf dem afrikanischen Kontinent und in den arabischen Ländern manchen Ansatzpunkt geboten, um die Hallstein-Doktrin zu unterlaufen. Der Blick in die ostdeutschen Akten verrät jedoch, dass der Optimismus der SED-Führung zu diesem Zeitpunkt schon längst verflogen war und einem tiefen Zynismus über die Absichten vieler Staatsmänner der „befreundeten“ Länder Platz gemacht hatte.
Schon in den 60er-Jahren trug die westdeutsche Außenpolitik der veränderten weltpolitischen Lage taktisch Rechung. Bonn machte, wenn nichts anderes half, wirtschaftliche Konzessionen, um Staaten der Dritten Welt von einer Anerkennung der DDR abzuhalten. Der Übergang von der „massive retaliation“ zur „flexible response“ im Zweikampf zwischen Berlin und Bonn bereitete dann allerdings das Ende der Hallstein-Doktrin vor. Gray weist immer wieder zu Recht darauf hin, dass die Doktrin ohnehin vornehmlich als politisches Instrument benutzt worden war. Selbst Adenauer hatte die Doktrin nicht von einer aktiveren Ostpolitik abgehalten. Unter der Großen Koalition wurde die Nichtanerkennungspolitik bereits vorsichtig angepasst, ohne dass es zu der befürchteten Anerkennungswelle kam. Aber diesem Kurs begegnete die SED-Führung zunächst mit neuen Abgrenzungsinitiativen, auf die zu antworten schwer fiel: Die CDU „had exhausted their own limited supply of suggestions as to how to restore German unity; clinging to the Hallstein Doctrine only empahsized the party`s lack of alternatives. The Social Demorats line at least had the advantage of novelty” (S. 232). Ein Durchbruch gelang der DDR daher erst, als die von der Bundesrepublik ohnehin flexibel gehandhabte Hallstein-Doktrin aus weltpolitischen Gründen und Praktikabilitätserwägungen nicht mehr angewandt wurde: „The GDR attained its final goal, worldwide recognition, only as a result of a sea change in West German politics in the late 1960s. East Germany did not «win»; its rival threw in the towel.“ (S. 5)
Die „neue Ostpolitik“ der sozialliberalen Koalition wirkte in diesem Zusammenhang, auch wenn das zunächst weder beabsichtigt noch erkennbar war, wie die Perpetuierung der Hallstein-Doktrin mit anderen Mitteln. Der hartnäckige westdeutsche Hinweis auf die Unteilbarkeit der Nation bot schließlich die Voraussetzung für das Ende der DDR, die trotz aller ephemerer Erfolge in den 70er-Jahren niemals das Odium eines illegitimen Kunststaates loswurde und 1990 sang- und klanglos unterging: „Seldom has an internationally recognized state vanished so swiftly and so unmourned.“ (S. 233)
Grays solide und in ihren Urteilen überzeugende Studie kommt in vielen Aspekten einer Rehabilitierung der Hallstein-Doktrin gleich, die zumindest eine Zeitlang als Instrument in den Händen von „Kalten Kriegern“ gegolten hatte. Demgegenüber bleibt bemerkenswert, dass ihre Anwendung die internationale Anerkennung eines Unrechtsregime für lange Zeit verhindert hat und die Basis bot, um – freilich unter veränderten weltpolitischen Bedingungen – die völkerrechtliche Anerkennung des SED-Staates so lange zu verweigern, bis dieser außen- und innenpolitisch zusammenbrach.
Anmerkungen:
1 Kilian, Werner, Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955–1973, Aus den Akten der beiden deutschen Außenministerien, Berlin 2001.
2 Booz, Marco Rüdiger, „Hallsteinzeit“. Deutsche Außenpolitik 1955-1972, Bonn 1995.
3 Troche, Alexander, Ulbricht und die Dritte Welt. Ost-Berlins „Kampf“ gegen die Bonner „Alleinvertretungsanmaßung“, Erlangen 1996.
4 Lemke, Michael, Einheit oder Sozialismus? Die Westpolitik der SED 1949-1961, Köln 2001.
5 Wentker, Hermann, Die Außenpolitik der DDR, in: Neue Politische Literatur 46 (2001), S. 389-411, hier S. 396.