F. Becker u.a. (Hgg.): Politische Gewalt in der Moderne

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Titel
Politische Gewalt in der Moderne. Festschrift für Hans-Ulrich Thamer


Herausgeber
Becker, Frank; Großbölting, Thomas; Owzar, Armin; Schlögl, Rudolf
Erschienen
Münster 2003: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Pröve, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Zu den aktuellen Themen der Geschichtswissenschaft zählt ohne Zweifel die Gewaltproblematik. Die kürzlich durchgeführte große Tagung „Gewalt in der Frühen Neuzeit“, veranstaltet von der AG Frühe Neuzeit in Berlin, hat dies mit ihrem multiperspektivischen Zugriff und den damit verbundenen kultur- und sozialgeschichtlichen oder rechtshistorischen und diskursgeschichtlichen Ansätzen nachdrücklich gezeigt . Vorliegender, als Festschrift für Hans-Ulrich Thamer konzipierter Sammelband widmet sich einem Teilbereich des Phänomens, die politische Gewalt. Auf (zu) wenigen Seiten erläutern die Herausgeber ihren Zugang. Es geht in enger Anbindung an den Konnex von Herrschaftsbildung und Herausbildung eines staatlichen Gewaltmonopols um jene Formen von Gewalt, die sich „mit einer politischen Ordnung“ verbinden, die als „politisch eingesetzte Gewalt die Fähigkeit besitzt, Gesellschaftsordnungen zu sprengen“ (S. VI). Freilich beschränken sich die Beiträge nicht nur in einer Beschreibung der Ausübung von Gewalttätigkeit und Brutalität. Zugleich werden Inszenierungen von Gewalt, Rituale der Gewalt, mediale Vermittlungen von Gewalt oder „geformte Gewalt“, also dargestellte, wahrgenommene Gewalt, beleuchtet.

Die 26 Beiträge behandeln bis auf einen (nämlich Hermann Lübbes allgemein gehaltenen Essay über Wandlungen in der öffentlichen Präsenz der Gewalt) jeweils ein konkretes historisches Beispiel und sind in chronologischer Reihenfolge gestaffelt. Rüdiger Schmidt behandelt Rituale der Terreur, Rolf Reichardt den Bilderkampf um republikanische Gewalt in Frankreich, Ewald Frie beleuchtet den militärischen Alltag eines preußischen Offiziers in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, Bernhard Sicken untersucht den Militäreinsatz beim Kölner Kirmestumult von 1846, Dieter Langewiesche fragt nach Krisenerfahrung und Krisenmanagement im Umfeld der Revolution von 1848, Armin Owzar beschreibt die Kommunikation von Sozialdemokraten und Antisemiten im wilhelminischen Deutschland, Frank Becker behandelt Kolonialherrschaft und Rassentrennung in Deutsch-Südwestafrika, Michael Schwartz beleuchtet die Entstehungsumstände und Diskursebenen eugenischer Biopolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Peter Hoeres zeichnet die Ursachen deutscher Gewaltpolitik im Ersten Weltkrieg in britischer Sicht nach, Franz-Josef Jakobi rückt Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg im Spiegel der so genannten Kriegschronik der Stadt Münster in den Vordergrund seiner Betrachtungen, Rolf-Dieter Müller analysiert geschlechtergeschichtliche Aspekte infolge des Einsatzes deutscher Soldaten an der Ostfront, Anselm Doering-Manteuffel stellt Überlegungen zur politischen Kultur der Bundesrepublik an, Bernd Faulenbach untersucht den politischen Gehalt des 17. Juni 1753 in den beiden deutschen Teilstaaten, Thomas Großbölting beschreibt die Jugendkultur in der Bundesrepublik und Franz-Werner Kersting schließlich fragt nach dem jugendlichen linken Radikalismus nach 1968.

Autoren und Herausgeber haben mit diesem Band ein enorm breites thematisches Tableau präsentiert, das sowohl Längsschnitte als auch mikrohistorische Fokussierungen beinhaltet und das sozial-, kultur- und diskursgeschichtliche Aspekte berücksichtigt. Gerade weil wissenschaftliche Publikationen dieser Art oft genug und notgedrungen ein Sammelsurium darstellen, mühsam zusammengehalten mit einer gerade noch plausibel klingenden Klammer, überrascht dieser Band durch seine konzeptionellen theoretischen Vorgaben und die Disziplin fast aller Beiträger diese zu erfüllen.

Gleichwohl muss man konstatieren, dass die Gewaltthematik insgesamt mit der Rubrik „Politische Gewalt“ zu kurz gegriffen wird. Dieses Manko ist nicht zuletzt auf die theorieimmanente und damit vermeintlich notwendige Fokussierung auf das 19. und 20. Jahrhundert zurückzuführen. So ist es nämlich nicht plausibel, warum man auf die frühneuzeitliche Perspektive gänzlich verzichtet hat und somit vordergründig als ‚unpolitisch’ eingestufte Gewaltformen ignoriert wurden. Weder sind Terror und Exzess politischer Gewalt ein nur spätneuzeitliches Phänomen noch beschränkte sich vormoderne Gewalt auf sich selber, ohne nicht auch eine Verbindung zur politischen Ordnung einzugehen. Diese Einschränkung bedeutet gegenüber dem Diskussionsstand der Frühneuzeitforschung zu Gewaltphänomenen einen Rückschritt.

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