Cover
Titel
A Small Town in Syria. Ottoman Hama in Eighteenth and Nineteenth Centuries


Autor(en)
Reilly, James A.
Erschienen
Anzahl Seiten
155 S.
Preis
$25.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Astrid Meier, Historisches Seminar, Universität Zürich

Reilly legt eine knapp gefasste und leicht lesbare Übersicht vor, die anhand eines Beispiels in wichtige Themen der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Diskussionen zum Osmanischen Reich einführt. Dabei verfolgt Reilly, der an der Universität Toronto moderne mittelöstliche Geschichte lehrt, zwei Absichten (S. 13): Zum ersten will er zeigen, wie sich die großen Umbrüche des 19. Jahrhunderts auf eine spezifische Region und Lokalität auswirkten. Hierbei interessieren ihn in erster Linie die Reaktionen und Antworten von lokalen Gruppen und Personen auf die Herausforderungen, die mit den "major transformations associated with Middle Eastern state-formation" und der Integration in die kapitalistische Weltwirtschaft im 19. Jahrhundert einhergingen. Zum zweiten versucht die Studie, eine lokale Gesellschaft in ihrer Komplexität darzustellen.

In den letzten Jahrzehnten ist die geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit dem Osmanischen Reich zu einem breiten internationalen Forschungsfeld geworden. In den 1960er-Jahren wurden an verschiedenen Orten umfangreiche Quellenbestände zugänglich, die es zum ersten Mal erlaubten, stärker auch sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Problemstellungen zu verfolgen. 1 In neuester Zeit wird nun versucht, dies in Richtung einer "Gesellschaftsgeschichte" voranzutreiben. Die Geschichte des Osmanischen Reiches ist grundlegend geprägt durch die Langlebigkeit der herrschenden Dynastie und seine geografische Ausdehnung. Dies erklärt die Bedeutung von detaillierten Fallstudien in unterschiedlichen Zeiträumen und zu einzelnen Provinzen, Regionen, Städten, sozialen Gruppen oder Personen. Wichtige Beiträge zu dieser Diskussion stammen aus der historischen Forschung zum geografischen Syrien, heute die Staaten Syrien, Libanon, Israel/Palästina und Jordanien. In diese Reihe gehört auch James A. Reillys "A Small Town in Syria" über Hama im 18. und 19. Jahrhundert.

Das Beispiel Hama ist in verschiedener Hinsicht von Interesse. Es stellt neben die gut untersuchten Typen der alten urbanen Zentren des Binnenlandes (Aleppo, Damaskus, Jerusalem) und der neuen Hafenstädte (Beirut, Akka) den Fall einer kleinen, noch stärker mit dem ländlichen Umland verflochtenen städtischen Gesellschaft, die in Ökonomie und Handel der syrischen Provinzen Damaskus, Aleppo, und Tripoli eine wichtige Rolle spielte und auch als Zentrum von Gelehrsamkeit und (Sufi-)Religiosität Bedeutung hatte. Zudem stammten die ‘Azms aus Hama: verschiedene Mitglieder dieser Familie kontrollierten im 18. Jahrhundert über Jahrzehnte die Gouverneursposten von Damaskus und Tripoli, ohne ihre Verbindungen zu Hama abzubrechen.

Dies sind denn auch die Themen, die Reilly als Leitlinien für seine Darstellung dienen. Nach einer allgemeinen Einleitung in Problemstellung und Quellenlage bringt Kapitel 2 ein Porträt der bedeutendsten Familien von Hama. Dabei unterscheidet Reilly mit Julia Clancy-Smith zwischen "lokalen Notabeln" und Angehörigen einer "Ottoman elite". Diese Weiterentwicklung der gängigen Kategorie der "Notabeln" (arab. a‘yan), wie sie von Albert Hourani geprägt worden war, ermöglicht es, die Machtgrundlagen einzelner Familien differenzierter zu betrachten und stärker auf die Beziehung zwischen lokalen und zugewanderten Familien zu fokussieren. Aufgrund der Quellenlage kann Reilly vieles in diesem Kapitel nur anschneiden, doch erwähnt er eine Reihe interessanter Aspekte. Um nur ein Beispiel zu nennen: das im Unterschied zu anderen Städten auffällige Fehlen von Frauen der osmanischen Elite in den Gerichtsregistern fordert zu einer stärkeren Reflexion sowohl über die Rahmenbedingungen, unter denen diese Quellen produziert wurden, als auch die lokale und zeitliche Gebundenheit von Präferenzen in Familienformationen heraus (S. 43). Kapitel 3 plädiert gegen eine These aus dem umstrittenen Konzept der "islamischen Stadt", wonach islamische Gesellschaften grundlegend fragmentiert seien, zusammengesetzt aus fast vollständig in sich abgeschlossenen und quasi-autonomen Gruppen, die nur durch übergreifende politische Herrschaft und religiöse Loyalitäten zusammengehalten wurden. Reilly betont dagegen die integrierende Rolle von personalen Netzwerken, die er in "Nachbarschaft", "Berufsgilden" und "religiösen Gemeinschaften" institutionalisiert sieht und in denen die oben vorgestellten Notabeln und Eliten eine bedeutende Rolle spielten.

Kapitel 4 und 5 sind der Wirtschaft in ihrer städtischen und ländlichen Ausformung gewidmet. Grundlegend von der agrarischen Produktion geprägt, besaß Hama auch einige Bedeutung als gewerbliches Zentrum. Als Etappenort der Pilgerkarawane nach Mekka gehörte es in das weit ausgedehnte Netz von Nah- und Fernhandel. In diesem Zusammenhang werden demografische Entwicklungen ebenso angesprochen wie der Wandel in der Baumwoll- und Seidenproduktion im 19. Jahrhunderts, was interessante Einblicke in die Adaptationsfähigkeit der lokalen Produzenten erlaubt (S. 80ff.). In Bezug auf die landwirtschaftliche Produktion beschreibt Reilly ausführlich, wie Boden und dessen Erträge kontrolliert wurden und wer davon in welcher Weise profitierte. Dabei kann er auch für Hama nachweisen, dass bereits vor den einschneidenden Landreformen von 1858 die städtischen Eliten und Notabeln durch die Steuerpacht und die Verschuldung ganzer Dörfer großen Einfluss im ländlichen Umfeld besaßen.

Kapitel 6 nimmt die Veränderungen des 19. Jahrhunderts in den Blick. Es beleuchtet das Verhältnis von Stadt und Land unter den neuen Rahmenbedingungen, die durch einen stärkeren europäischen Einfluss, die Einbindung in die kapitalistische Weltwirtschaft und Umwälzungen auf politischer und administrativer Ebene charakterisiert sind. Reilly kommt dabei zum Schluss: "Hama, like other towns of the Syrian interior, preserved the form of its pre-industrial economy but in a new context represented by the integration of the Ottoman Empire into the world economy, and the transformation of the Empire into a semi-colonial modern state." (S. 133)

Reilly beschreibt und modifiziert am Beispiel Hamas Trends und Entwicklungslinien, wie sie die Geschichtsschreibung zum osmanischen Syrien im Laufe der letzten Jahrzehnte für das 18. und 19. Jahrhundert herausgearbeitet hat. Mit der Wahl dieses Untersuchungszeitraums bricht Reilly mit konventionellen Darstellungen nah- und mittelöstlicher Geschichte, die den Anfang des 19. Jahrhunderts oft als Zeitenbruch und als den Beginn der Moderne behandeln. Dies erlaubt ihm, Kontinuitäten und Wandel in dieser wichtigen Umbruchszeit neu zu beleuchten. Die Einbindung in die laufenden Diskussionen ist zweifellos eine große Stärke dieser kurzen, sehr flüssig und leicht verständlich geschriebenen Fallstudie. Sie bietet allgemein historisch Interessierten einen guten Überblick über Themen und Ansätze der jüngeren Geschichtsschreibung zu den arabischen Provinzen des Osmanischen Reiches und vertieft diese in überaus anregender Weise an einem Fallbeispiel. Sie eignet sich deshalb auch als Einführung für Studierende oder im Hinblick auf interkulturell angelegte historische Vergleiche.

Bei SpezialistInnen dürfte das Urteil weniger eindeutig ausfallen. Viele interessante Ansätze sind zu wenig ausgeführt, als dass die Resultate uneingeschränkt Geltung beanspruchen könnten. Die Quellengrundlage der Studie ist mit drei Registerbänden aus dem Scharia-Gericht von Hama, die über eine Periode von mehr als 120 Jahren gestreut sind, nicht besonders dicht. Diese Schwäche wird auch durch die aus europäischem Blickwinkel geschriebenen Konsular- und Reiseberichte nicht ausgeglichen. Zudem führt an vielen Orten das Zusammentragen von Einzelbeispielen aus verschiedenen Zeitperioden zu einer Statik der Darstellung, die der erklärten Absicht des Verfassers widerspricht und die er selber bedauert (S. 67). An manchen Stellen hätte man sich zudem grössere Sorgfalt gewünscht, zum Beispiel bei den Ausführungen zu Steuern und Abgaben und der Art ihrer Erhebung (S. 102). Schließlich wird der hohe Anspruch, eine lokale Gesellschaft in ihrer Komplexität darzustellen, nur unvollständig eingelöst, wenn Fragen der Religiosität, der Bildung und der kulturellen Produktion nur unter dem Blickwinkel sozialer Beziehungen angesprochen werden. Eine stärkere Berücksichtigung kultureller wie auch alltagsgeschichtlicher Aspekte wäre gerade wegen der damit verbundenen Quellenprobleme wünschenswert gewesen.

Trotzdem: Reillys Studie zu Hama ist zwar trotz ihres Titels kein Kriminalroman und wird die Absatzzahlen von Le Carrés "A Small Town in Germany" nicht annähernd erreichen, sie bietet aber auf knappem Raum viel Interessantes zur osmanischen Geschichte.

Anmerkung:
1 Eine grundlegende Einführung in die Quellenproblematik bietet: Faroqhi, Suraiya, Approaching Ottoman History, An Introduction to the Sources, Cambridge 1999.

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