M. Ferrari Zumbini: Die Wurzeln des Bösen

Cover
Titel
Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bimarckzeit zu Hitler


Autor(en)
Ferrari Zumbini, Massimo
Reihe
Das Abendland Neue Folge 32
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
774 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Blaschke, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier

Wem soll man bloß dieses Buch empfehlen? Wenn man kein Novize im Kreis der Antisemitismusforscher ist und sich tapfer durch die ersten 300 Seiten gearbeitet hat, wächst mit jedem Akt des Umblätterns der Entschluss, es unbedingt ablehnend zu besprechen. Wer sich in der Literatur auskennt, dem begegnet hier kein einziger neuer, weiterführender Gedanke und kein einziges unvertrautes Zitat. Das haben wir alles irgendwo schon mehrfach lesen können. Es gibt schon so überschüssig viel Literatur über den Antisemitismus: Spezialstudien zu jedem denkbaren Aspekt, aber auch genügend Gesamtdarstellungen (etwa von Helmut Berding, Robert Wistrich, John Weiss). Auf eine nochmalige Nacherzählung, wenn sie obendrein überdehnt weitschweifig ist, haben wir keinen Appetit.

Doch in der zweite Hälfte der insgesamt stolze 674 Seiten dauernden “Gesamtdarstellung des organisierten Antisemitismus” finden sich Ausführungen, die geeignet sind, die negative Meinung, die sich bis dahin Seite für Seite verfestigte, zumindest zu modifizieren. Doch für eine Revision ist es dann zu spät.

Wovon handeln die ersten vier von insgesamt acht Kapiteln? Den Auftakt bildet ein Kapitel über “die Juden im Kaiserreich”. Einleitend interpretiert Massimo Ferrari Zumbini ausführlich die Varianten und die identitätsstiftende Komposition des bekannten Gemäldes “Die Kaiserproklamation” von Anton von Werner: Jubelnde Preußen und Bayern, sie alle sind dank des “Uniformknopfrealismus” genau zu erkennen. Wenn man genauer hinschaut, sieht man über dem mittleren von drei Spiegeln den Titel des Freskos ‚Passage du Rhin en présence des ennemis’ von Charles Le Brun, womit Werner eine Verbindung gezogen habe zwischen dem militärischen Ruhm Ludwigs XIV. und dem deutschen Sieg, der zur Reichsgründung führte. Bismarck trage in der ersten Version (1877) den blauen Waffenrock des Siebten Magdeburgischen Kürassier-Regiments, in der zweiten (1885) jedoch eine weiße Jacke. Die erste Fassung hebe den Aspekt der nationalen Versöhnung hervor, die spätere die nationale Einigung unter preußischem Vorzeichen; dort erscheinen die süddeutschen Vertreter auf ein Minimum reduziert. Die kunsthistorischen Beobachtungen des Professors für “Storia della cultura tedesca” an der Universität Viterbo bestechen durch zuverlässige Detaildeutung. Nicht nur dieses, sondern auch andere Gemälde Werners dienen Zumbini als “ikonographisches Leitmotiv” (S. 17-29; S. 223-31; S. 677-79), da der Hofmaler in anderen Werken - “Kaiser Friedrich als Kronprinz auf dem Hofball”, “Das Gastmahl der Familie Mosse” - seinen liberalen Hoffnungen Ausdruck verliehen habe. Wenn er Friedrich im Gespräch mit Rudolf Virchow zeige, der auch bei dem “Gastmahl” anwesend ist, wenn er dergestalt Liberale und Gegner des Antisemitismus vereinte, habe er das liberale Berlin idealisieren und die Toleranz der deutschen Fortschrittspolitiker würdigen wollen.

Sind wir noch im richtigen Buch? Das erste Kapitel heißt nach wie vor “die Juden im Kaiserreich”. Ihnen widmen sich endlich die folgenden Unterkapitel. Es geht um die Geschichte der Judenemanzipation, um demographische Tendenzen, die Verteilung der Juden auf deutsche Städte und Stadtviertel, die jüdische Bildungs- und Berufsstruktur, wobei Zumbini die These Shulamit Volkovs von der “Vorreiter-Funktion” der Juden referiert. Alle Thesen, Zahlen und Tendenzen sind fleißig zusammengetragen und richtig wiedergegeben.

Im zweiten Kapitel stellt Zumbini die religiöse und die wirtschaftliche Judenfeindschaft vor, den frühen katholischen Antisemitismus im Kulturkampf, den Gründerkrach 1873 sowie die Stereotypen wichtiger Protagonisten des Antisemitismus wie August Rohling, Otto Glagau und Constantin Frantz. Wem diese Personen, die in keinem Buch über den Antisemitismus fehlen, allzu bekannt vorkommen, und wer ihre fiesen Zitate fast auswendig kennt, der kann sich immerhin daran erfreuen, dass Zumbini darüber hinaus einen kenntnisreichen Vergleich der verschiedenen Modelle von Bismarck-Denkmälern bietet, wobei sein besonderes Augenmerk der Tektonik der Bismarcktürme gilt, über deren Verbreitung und “zylindrische oder kubische Struktur, gewöhnlich mit einer Kuppel, [...] inspiriert vom Grabmal des Theoderich in Ravenna” (S. 107-111) wir genauestens unterrichtet werden. Überschrieben ist das zweite Kapitel mit “Der doppelte Schaltkreis: Religion und Wirtschaft”. Damit will der Autor eine neue Denkfigur einführen: Alte religiöse Argumente überschnitten sich mit wirtschaftlichen Stereotypen und verstärkten sich wechselseitig (S. 129). Ob diese keineswegs neue Erkenntnis mit einer Metapher aus der Elektrotechnik glücklich getroffen ist, mag den Elektroingenieuren überlassen bleiben, die besser beurteilen können, ob doppelte Schaltkreise eine „Überlagerung”, eine “wechselseitige Verstärkung” (S. 641) oder eine “synergetische Verknüpfung” (S. 377) bedeuten. Jedenfalls kann der Leser von da an dem “doppelten Schaltkreis” nicht mehr entrinnen, und es werden noch mehr “doppelte Schaltkreise” aus anderen Stereotypengruppen (Antislawismus und Antisemitismus) “in Gang gesetzt” (S. 556).

Auch das dritte Kapitel birgt keine Überraschung. Die Entstehung der antisemitischen Bewegung ist tausendmal beschrieben, Adolf Stoeckers Christlich-Soziale-Partei mit unzähligen Untersuchungen bedacht worden. Wilhelm Marrs und Eugen Dührings rassistische Weltanschauung und der Streit zwischen dem Historiker Wilhelm von Treitschke und Theodor Mommsen sowie der Antisemitismus der Studenten sind in entsprechenden Biografien, in Spezialuntersuchungen und in allen Gesamtdarstellungen bis in den letzten Winkel ausgeleuchtet worden.

Die Wiederholungslektüre nimmt mit Kapitel vier kein Ende. Hier geht es vornehmlich um den parteipolitisch organisierten Antisemitismus, um Otto Böckel, 1887 erster radikaler Antisemit im Reichstag, um die anderen üblichen Verdächtigen, um die Konservative Partei und die Wahlen von 1893, in denen die Antisemiten 16 Abgeordnete ins Parlament hievten. Der Erfolg, die Zersplitterung und der Niedergang der antisemitischen Parteien vor dem Hintergrund des deutschen Wahlsystems sind aber von Kurt Wawrzinek (1927), Paul W. Massing (1959), Richard S. Levy (1974) und Stefan Scheil (1999) längst gründlich abgehandelt worden. Volkov sprach schon 1978 vom “erledigten Thema”; es werde Zeit, sich dem Antisemitismus als “kulturellem Code” der Gesellschaft zuzuwenden. Noch wartet der Antisemitismusforscher - von der Ausdeutung des Gemäldes “Ein Hofball” von Anton von Werner abgesehen (S. 223-231) - auf einen Beleg oder eine Deutung, die ihm unbekannt ist.

Spätestens an dieser Stelle, auf Seite 320, blättert man enttäuscht zurück zur Einleitung. Ein Buch sollte eindeutig, aber fair besprochen werden. Was war nochmal der Anspruch dieses Unternehmens? “Das vorliegende Buch stellt den Versuch dar”, heißt es im ersten Satz, “eigene, auf zahlreichen Archiv-Recherchen beruhende Forschungsergebnisse mit einer Gesamtdarstellung des organisierten Antisemitismus im Kaiserreich zu verknüpfen” (S. 9). Von den aufwendigen Recherchen in zwölf Archiven (Brandenburgisches Landeshauptarchiv, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Staatsarchive Hamburg, Marburg etc.) kam bislang noch kein Ergebnis zum Vorschein, außer, dass Ernst Henrici laut Polizeiprotokoll 1880 “Kauft bei keinem Juden mehr!” gesagt habe (S. 234), was indes keinen riesigen Unterschied zu dem bekannten zeitgenössischen Slogan “Kauft nicht bei Juden” ausmacht.

Das Blatt wendet sich ab Seite 321. Plötzlich beginnt ein Kapitel (S. 321-422), das wesentlich aus Archivquellen schöpft. Es ist ganz Theodor Fritsch (1852-1933) gewidmet, einer “Schlüsselfigur” des modernen Antisemitismus. Sein “Antisemiten-Katechismus” (1887; seit 1907: “Handbuch der Judenfrage”) war höchst erfolg- und folgenreich. Fritsch steuerte Julius Langbehn in Richtung auf einen eher rassistischen denn religiösen Antisemitismus und wirkte teils direkt auf Himmler und Streicher, Darré und Hitler, der Fritsch 1930 brieflich bescheinigte, er habe den Boden für die nationalsozialistische antisemitische Bewegung vorbereitet. Fritsch konnte die Juden nicht einmal “als Menschen anerkennen” (Brief an Marr 1884). Er schuf durch seine Zeitschriften, die „Antisemitische Correspondenz“ (seit 1885) und den “Hammer” (seit 1902), ein Netz von Querverbindungen, spielte 1911 eine maßgebliche Rolle bei der Gründung des Reichsdeutschen Mittelstandsverbandes, der bald 500 000 Mitglieder zählte, bei der ideologischen Profilierung der Blut-und-Boden Artamanen und bei anderen von Entartungsangst geplagten Gruppierungen. Noch nie ist die zentrale Rolle dieses Publizisten, Herausgebers, Politikers und vor allem - das ist neu - Netzwerkers derart systematisch und eindringlich herausgearbeitet worden wie in dieser Studie, die sich auf Fritschs Briefwechsel in verstreuten Nachlässen (Marr, Elisabeth Förster-Nietzsche, Ludwig Schemann, Paul de Lagarde, Heinrich Class) stützt.

Einen gelungenen Kontrapunkt dazu bildet das Kapitel über den bekennenden Anti-Antisemiten Friedrich Nietzsche, der von Fritsch umworben wurde und zornig beobachtete, wie sein “Zarathustra” von diesen Kreisen instrumentalisiert wurde. Die abschließenden Kapitel widmen sich der Angst vor den “Ostjuden” (wobei die minutiöse Schilderung der soziale Lage chinesischer, italienischer, deutscher und anderer Emigranten im Londoner East End und andernorts wieder zu sehr abschweift), den Wahlniederlagen des Antisemitismus und seiner gesellschaftlichen Verbreitung sowie dem Juden als neuen “Mutanten”, dem eine bösartige Anpassungsbereitschaft bei gleich bleibendem Wesen unterstellt wurde. Aus dem wandernden sei der sich wandelnde Jude geworden. “Ewig ist jetzt die ‚Rasse’, Assimilation die neue ‚Schuld’” (S. 13).

Erst auf den letzten Seiten erwägt Zumbini einige Interpretationsmodelle, hebt Wirksamkeit und Grenzen des organisierten Antisemitismus, Kontinuitäten und Innovationen hervor, gegen monokausale und lineare Deutungen und gegen die Vorstellung, “die” deutsche Gesellschaft sei durch und durch antisemitisch gewesen.

Zumbini lässt sich keineswegs vorwerfen, er habe sich nicht an den selbstgesteckten Anspruch seiner Studie gehalten: “Bekannte Fakten und Interpretationen, die in bedeutenden Monographien vorliegen, sowie die Ergebnisse zahlreicher Einzelstudien miteinzubeziehen, ohne doch [...] in einen Forschungsbericht zu verfallen” (S. 9). Es werden bereits bekannte Fakten und Interpretationen vorgetragen. Ein Forschungsbericht wird nicht geleistet. Zwar hat Zumbini beeindruckend viel Literatur verarbeitet: Ob es um die Ostjuden, die Freimaurer oder das Wahlverhalten geht - wann immer der Blick vom Text auf die Fußnoten wandert, finden sich dort genau die Titel, auch die aktuellsten, die der Leser erwartet. Leider übersieht Zumbini jedoch zu häufig, dass diese Studien auch Thesen haben, dass sie unterscheidbare Positionen gegen andere Positionen vertreten. Es reicht nicht, darauf hinzuweisen, zu einem bestimmten Thema habe der oder die gearbeitet, ohne deren Befund ernst zu nehmen.1 Kontroversen (über die Begriffe “Symbiose”, “Assimilation” oder “Akkulturation”, über Stoecker als Rassisten, über den katholischen Antisemitismus, über den “kulturellen Code”) kommen nicht vor. Zu oft glättet Zumbini den Forschungsstand, zitiert ausführlich, stimmt dem Zitat zu oder ordnet Positionen harmonisch neben andere, zu denen sie schlicht nicht passen. Ein krasses Beispiel: Als eine zentrale Erklärung des Antisemitismus wird der “soziologische Ansatz” vorgestellt (obwohl das Buch ideengeschichtliche Längen besitzt), der auf soziale Spannungen zwischen Juden und Nichtjuden verweist. Hier sortiert er auch das umstrittene Buch von Albert S. Lindemann ein (S. 645f.), der sich selber zum Tabubrecher stilisierte und einen kausalen Nexus zwischen dem Aufstieg, ja dem Benehmen des Judentums und der Verbreitung des radikalen Antisemitismus postulierte.2 Gleichzeitig übernimmt Zumbini Goldhagens Topos des “eliminatorischen Antisemitismus”. Die prekäre These vom spezifisch deutschen Vernichtungsantisemitismus und die noch prekärere Behauptung, die Juden hätten sich den Antisemitismus schon immer selber eingebrockt, sowie differenzierte sozialgeschichtliche Zugänge können nicht Hand in Hand einträchtig miteinander spazieren gehen.

In einer guten Gesamtdarstellung ist der Forschungsüberblick und -bericht enthalten. Sie lichtet das Gestrüpp der unterschiedlichen Positionen, sie klärt auf über neueste Forschungstendenzen, beurteilt diese und stiftet auch den Kundigen Orientierung. Beim Thema Antisemitismus stellt sich dieses Unterfangen angesichts der Masse an Literatur als besonders herausfordernd dar. Zumbini hat diese Herausforderung nicht angenommen. Auch hat er die Chance vertan, aus italienischer Perspektive die deutsche Geschichte mit fremdem Blick zu deuten. Nicht einmal der Stand der italienischen Debatte über den (deutschen) Antisemitismus wird deutlich. Die hundert empirisch fundierten Seiten über Fritsch und die Ausführungen zu Nietzsche verdienen, hervorgehoben zu werden. Darüber hinaus bietet er wenig Neues und hält sich an herkömmliche, auch an falsche Interpretationen, etwa die oft kolportierte Unterstellung, “die jüdische Öffentlichkeit” habe im Kulturkampf “Partei für die antikatholische Gesetzgebung” ergriffen (S. 131).3 Außerdem stört die wenn auch hochgelehrte Geschwätzigkeit über Randthemen.

Andererseits bietet sein Buch einen willkommenen Einstieg in zentrale Aspekte des Themas. Da die jüngste und wichtigste Literatur verzeichnet ist, empfiehlt sich Zumbini als Ausgangspunkt für weitere Recherchen. Leicht kann man sich auf die Ergebnisse der neuesten, indes um Kontroversen bereinigten Forschungsliteratur bringen lassen. Das voluminöse Werk ist die gekürzte Fassung der ursprünglich für den italienischen Markt geschriebenen Ausgabe, die dort zwei Auflagen erzielte (2001/02). Dieser Entstehungszusammenhang erklärt, warum es zugleich einen differenzierten Überblick über allgemeine Probleme deutscher Geschichte bieten will, von der Reichsgründung über Bismarck, den Hof, über Denkmäler und Künstler, die Parteien, Urbanisierung, sozioökonomische Konstellationen, die Minderheiten im Kaiserreich und den Nationalismus bis zum Aufstieg des Nationalsozialismus. Inwiefern aber erweist sich dieses Buch als notwendig und innovativ für den italienischen Diskurs, über den wir nichts erfahren? Die Zielgruppe des Lesepublikums ist schwer zu bestimmen. Doch dürften Studierende und Interessierte von der Lektüre mehr profitieren als Fachexperten.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa den Umgang mit der Studie von Scheil, Stefan, Die Entwicklung des politischen Antisemitismus in Deutschland zwischen 1881 und 1912. Eine wahlgeschichtliche Untersuchung, Berlin 1999 (betont lokale Erfolge der Antisemiten), oder mit Gotzmann, Andreas (Hg.), Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800-1933, Tübingen 2001 (Kritik an der üblichen Behandlung der Juden als separate Minderheit).
2 Lindemann, Albert S., Esau’s Tears. Modern Anti-Semitism and the Rise of the Jews, Cambridge 2000 (zuerst 1997).
3 Vgl. dazu demn. Blaschke, Olaf, Jewish Attitudes towards Catholics and their Antisemitism, Nebraska UP (Studies in Antisemitism); vgl. bereits ders., Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich, Göttingen 1999, S. 218-228.

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