Review-Symposium "Westforschung: Beitrag W. Oberkrome

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Titel
Griff nach dem Westen. Die 'Westforschung' der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960)


Herausgeber
Dietz, Burkhard; Gabel, Helmut; Tiedau, Ulrich
Reihe
Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 6
Erschienen
Münster 2003: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
1260 S.; 2 Bände
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Willi Oberkrome, Historisches Seminar, Universität Freiburg im Breisgau

Die von Burkhard Dietz, Helmut Gabel und Ulrich Tiedau edierten Bände über die „Westforschung“ der deutschen „völkisch-nationalen Wissenschaften“ zu den Niederlanden, Belgien und Luxemburg müssen, obwohl sie neben viel Neuem durchaus auch Altes und Bekanntes präsentieren, als grundlegende und – wie die Herausgeber einräumen – in mancherlei Hinsicht ausbaufähige Publikationen gewürdigt werden. Die in ihnen vereinten Studien werfen z.T. erhellende Schlaglichter auf Strukturen, Organisationen und Protagonisten sowie auf wichtige einzeldisziplinäre Forschungspfade der nach Nordwesteuropa ausgerichteten ‚Volkstumswissenschaften’ insbesondere des ‚Dritten Reiches’. Sie treten dadurch gleichsam aus dem Schatten der intensiver diskutierten ‚Ostforschung’. Obwohl das vernichtungspolitische Potential der akademisch generierten nationalsozialistischen Ostplanungen ungleich ausgeprägter war als jenes der einschlägigen westlichen Konzeptionen, lagen ihnen ähnliche Zielvorgaben zugrunde. In ihrem Zentrum stand die mit allen Kräften angesteuerte Hegemonie des ‚Deutschtums’ auf dem nach völkischen bzw. rassischen Kriterien ‚neugeordneten’ und militärisch ‚gefügig’ gemachten Kontinent.

An diesem Resultat lassen auch die 43 Beiträge zur ‚Westforschung’ keinen Zweifel aufkommen. Die nicht zuletzt geistes- und sozialwissenschaftlich grundierte Kultur- und Machtarroganz der Deutschen gegenüber den Wallonen und den gelegentlich umworbenen, mitunter kollaborierenden, in der Regel jedoch qualvoll drangsalierten ‚germanischen Brudervölkern’ wird prägnant sichtbar gemacht. Darin liegt das wesentliche, in mancher Beziehung herausragende Verdienst der Sammelbände. In einer perspektivisch erweiterten wissenschaftsgeschichtlichen Sicht birgt es allerdings ernstzunehmende Risiken und Probleme.

Das möglicherweise gravierendste Manko besteht darin, dass das weithin zutreffende Bild vom wissenschaftlich einmütig legitimierten ‚Griff nach dem Westen’ eine Homogenität der Westforschung suggeriert, die sich bei genauerer Betrachtung – auch der vorgelegten Beiträge – als Chimäre entpuppt. Darüber hinaus schmälert die starke NS-Fixierung vieler Abhandlungen eine eingehende Analyse der Herkunft und Entwicklung der zunächst ‚stammesräumlich’ und ‚kulturmorphologisch’ angelegten ‚Volkstumsforschung’, deren ebenfalls konstitutiven innenpolitischen, ‚deutschtumszentrierten’ Komponenten vor 1933 und nach 1945 eindeutig zu kurz kommen. Schließlich behindert der naturgemäß eher disziplingeschichtliche oder biografische Zuschnitt der meisten Aufsätze eine generelle Erörterung der Methodologien und heuristischen Instrumentarien, die der vor allem in den rheinischen und westfälischen Gralsburgen der ‚Westforschung’ praktizierten ‚Kulturraumforschung’ das Gepräge gaben.

Im Folgenden sollen diese Bemerkungen mit einigen Stichworten und kursorischen Hinweisen erläutert werden. Eine ausführlichere Rezension des ‚Griffs nach dem Westen’ legt der Verfasser im Band 53 der ‚Westfälischen Forschungen’, Jg. 2003, vor.

- In seiner bemerkenswerten Untersuchung der ‚Grenzpolitik’ des rheinischen Provinzialverbandes in der NS-Zeit registriert Thomas Müller die Anstrengungen des SS-Historikers Hans Joachim Beyer, „ein nationalsozialistisch akzentuiertes Westforschungsprogramm [...] in Abgrenzung zur Westdeutschen Forschungsgemeinschaft“ (S. 788) aus der Taufe zu heben. Beyers Vorbehalte gegen diese von Michael Fahlbusch als institutionelles Rückgrat der fächerübergreifenden Westforschung charakterisierte Institution deckten sich offenbar mit Aversionen des von Carsten Klingemann behandelten soziologisch-demografisch verfahrenden West- und Ostforschers Gunther Ipsen. Der ‚Volkstumsforscher’ machte sich in den ausgehenden 1930er-Jahren dafür stark, das bis dahin einflussreiche Periodikum der Forschungsgemeinschaften, das Deutsche Archiv für Landes- und Volksforschung, kurzerhand „umzulegen“, weil ihm die wissenschaftlichen Prämissen und Darlegungen dieser Zeitschrift zuwider waren. Vor dem Hintergrund solcher Befunde gewinnt die Frage an Gewicht, ob die von Marlene Nicolay-Panter u.a. konstatierten Animositäten des SD gegen den Bonner Landeshistoriker Franz Steinbach, die jahrelang führende Persönlichkeit der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft, auf individuelle oder eher auf systematische Gründe zurückzuführen waren. Könnte es sein, dass nicht allein Steinbachs eigensinnige Haltung zu Detailproblemen der westlichen Besatzungs- und Kulturpolitik die Gegnerschaft mächtiger Kontrahenten heraufbeschwor, sondern dass der Ansatz der Forschungsgemeinschaften mit der Zeit prinzipiell quer zu den Wissenschaftsparametern einer zentralisierenden, kontinental ausblickenden Herrschaftsbürokratie im exekutorischen, ‚bevölkerungspolitischen’ Machbarkeitsrausch standen? Diese Frage, die möglicherweise auf erklärungsbedürftige Fraktionierungen innerhalb der ‚Westforschung’ verweist, wird nicht thematisiert.

- Die Suche nach konkurrierenden Modellen völkischer Wissenschaft, nach unterschiedlichen Entwürfen einer von weiten Teilen des rechten politischen Lagers angestrebten ‚Volkwerdung’, hätte es erforderlich gemacht, die Ursprünge und die Entfaltungsbedingungen der von der Westdeutschen Forschungsgemeinschaft favorisierten ‚Kulturraumforschung’ genauer unter die Lupe zu nehmen. Dabei hätte geklärt werden können, wieso sich dieser Forschungsansatz vor allem in den Provinzial- und Länderverwaltungen der 1815 und 1866 militärisch unterlegenen Territorien außergewöhnlichen Zuspruchs – und finanzieller Unterstützung – erfreute. Wieso war die durch und durch ‚volkstumsfixierte’ ‚Kulturraumforschung’ bei den überwiegend katholischen Kulturadministrationen des Rheinlands und Westfalens so ungemein beliebt? Aus welchem Grund knüpfte der volkskundlich forschende ‚Reichsprälat’ und Wissenschaftsorganisator Georg Schreiber (Münster) seine politischen und wissenschaftlichen Hoffnungen in der Weimarer Republik wie in den 1950er-Jahren explizit an die Kategorien ‚Volkstum’ und ‚Heimat’? Entsprechende Fragen hätten eine – öffentlich anscheinend relativ breit rezipierte - organologische Volkstumsideologie in den Blick rücken können, die bereits vor 1914 einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der wissenschaftlich zu vermittelnden Kongruenz von Landschaften, räumlichen Kulturen – dazu zählten auch Konfessionen - und Landsmannschaften („Stämmen“) und der somatischen Befindlichkeit des aus solchen Raumeinheiten zusammengesetzten ‚deutschen Volksleibes’ konstruierte.

- So abwegig solche Mythen aus dem ideologischen Fundus völkischer Verstiegenheit anmuten, so sehr hätten sie zu Reflexionen über (geistes-)wissenschaftliche und kulturpolitische Prioritätssetzungen in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts einladen können. Einige generalisierende zeithistorische Annotationen über die wechselvollen Konjunkturen räumlich-tribalistischer Forschungsstränge und Deutungskulturen, die sowohl in den 1920er-Jahren als auch – das heben die Darstellungen Rusineks, Ditts und ein kenntnisreicher, sorgfältig argumentierender Forschungsbericht der Herausgeber tendenziell hervor – in der frühen Bundesrepublik boomten, wären wünschenswert gewesen. Ihre Berücksichtigung hätte Brückenschläge in Richtung von Dirk van Laaks luziden Überlegungen zu planerischen Projektionen „alternative[r] Wege in die Moderne“ (S. 81ff.) ermöglicht, nach denen auch die Fürsprecher des ethnozentrischen Kulturraumansatzes mit antiwestlichem und antiöstlichem Impetus fahndeten.

- In Analogie dazu bleibt die innovative Methodologie der Kulturraumforschung an einer entscheidenden Stelle unbehandelt. Rusinek hat zwar den qualitativ neuartigen Anspruch der ‚Volks- und Landeskunde’, Politikberatung leisten zu können und grundsätzlich anwendungsorientiert zu sein, aus der sukzessiven Marginalisierung der Geisteswissenschaften durch die technisch-naturwissenschaftlichen Fächer zutreffend hergeleitet. Obendrein wäre es aber einer Erwähnung wert gewesen, dass der theoretisch ausgewiesenste – und in den vorgestellten Bänden betrüblich knapp diskutierte - Vertreter der ‚Westforschung’, Hermann Aubin, eine nomologische Fundamentierung der historisch-soziologischen Fächer auf das Tapet brachte, die - im Zugriff auf die vermeintlich essentiellen „Lebensgesetze“ des ‚Volkes’ - das idiografische und intentionalistische Erbe der geisteswissenschaftlichen Fächer über Bord zu werfen versprach. Diese Ankündigung ist nicht lediglich in der wissenschaftsgeschichtlichen Binnenschau interessant. Sie spiegelt vor allem das ungewöhnliche Selbstbewusstsein einer auf ‚Raum’ und ‚Stammestum’ orientierten Forschungsrichtung wider, die sich nach 1920 als fächerverbindende Königsdisziplin des inneren wie äußeren ‚Volkstumskampfs’ positionierte.

Die hier fragmentarisch angeführten Monita richten sich nicht an die Adresse der Beiträgerinnen und Beiträger, die vielfach tiefe Schneisen in das Dickicht der ‚Westforschung’ geschlagen haben. Die Beanstandungen wären womöglich sogar hinfällig gewesen, wenn sich die Herausgeber zu einer synthetisierenden Interpretation der von ihnen - in fraglos mühsamer und aufwendiger Arbeit - zusammengestellten Aufsätze entschlossen hätten. Eine Gesamtbetrachtung und bündige Bewertung lehnen sie jedoch entschieden ab. Dieser Verzicht wird mit der Veröffentlichung einer externen Abhandlung von Hans Derks über die ‚deutsche Westforschung’ begründet. Ihre „kritisch-polemischen Einschätzungen sollten [...] im Licht der im vorliegenden Band präsentierten Detailuntersuchungen beurteilt werden, jedoch nicht auf der Grundlage allgemeiner Thesen [...]“ (S. XXX), weil sonst eine rein deduktive ‚Derks-Kontroverse’ drohe, die von den Erträgen der Einzeldarstellungen ablenken werde.

Die Konsequenzen dieser Annahme sind indes bitter. Die Leserschaft des ‚Griffs nach dem Westen’ wird in einem extrem unebenen, organisations-, ideologie-, institutions-, lebens-, werk- und disziplingeschichtlichen Labyrinth von 1.300 Seiten ausgesetzt, während man die ihr in Aussicht gestellten Ariadnefäden panisch kappt, obwohl der angeblich furchtgebietende Minotaurus Derks spätestens auf Seite 1161 des vorliegenden Werkes ganz eindeutig unter das wissenschaftliche Normalmaß zurückgestutzt worden ist. Das mag verstehen wer will.

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